L 1 KR 39/11

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 4 R 151/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 1 KR 39/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 12 KR 30/12 B
Datum
Kategorie
Beschluss
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 18. November 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über den Erlass einer Beitragsforderung.

Der 1958 geborene Kläger ist seit März 1995 freiberuflich als Diplom-Ingenieur im Bereich Elektronik und Dienstleistung tätig. Zwischen ihm und der C. GmbH in Linden besteht ein Vertrag für freie Mitarbeiter.

Am 8. März 2006 stellte der Kläger einen Antrag auf Kontenklärung bei der Beklagten. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 1. Juni 2006 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger aufgrund seiner selbstständigen Tätigkeit als freiberuflicher Ingenieur ab 1. Januar 1999 der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbstständige mit einem Auftraggeber gemäß § 2 Nr. 9 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) unterliege.

Mit Bescheid vom 7. Dezember 2006 forderte die Beklagte von dem Kläger Beiträge zur Rentenversicherung ab dem 1. Dezember 2001 bis 31. Dezember 2006 in Höhe von insgesamt 25.183,56 EUR.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Er machte geltend, er sei nicht in der Lage, den geforderten Betrag aufzubringen. Durch die einmalige Unterstützung Dritter könne er allerdings etwa 18.000 EUR als Einmalzahlung leisten, wenn ihm dadurch der Rest erlassen werde. In einem Fragebogen zur Darstellung der wirtschaftlichen Verhältnisse gab der Kläger an, laut Einkommensteuerbescheid für 2005 habe er nach Steuern monatliche Einnahmen von 2.177,15 EUR bei Ausgaben von 2.148,60 EUR gehabt. Er verfüge zudem über ein Bankguthaben in Höhe von 8.500 EUR.

Mit Bescheid vom 28. August 2007 erklärte die Beklagte sich mit einer monatlichen Ratenzahlung in Höhe von 300 EUR ab Oktober 2007 einverstanden.

Auch gegen diesen Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein. Er führte an, dass von den Beträgen zweier Lebensversicherungen nur Teilbeträge zum Ausgleich der Forderung zur Verfügung stünden. Da ihm nach Saldierung der Einnahmen gegenüber den Ausgaben lediglich 30 EUR Überschuss monatlich verblieben, müsse die Einziehung der Beiträge als unbillig angesehen werden, auch wenn bei einer Weiterverfolgung keine Existenzgefährdung zu besorgen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 19. Februar 2008 wies die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 7. Dezember 2006 und 28. August 2007 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 25. März 2008 Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben. Er sei nicht in der Lage, die nachgeforderten Beiträge zu zahlen. Gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Viertes Buch (SGB IV) sei ein Erlass von Ansprüchen zulässig, wenn die Einziehung nach Lage des Einzelfalles unbillig wäre. Zudem hat er die Einrede der Verjährung erhoben und die Verwirkung der Beiträge ab dem 1. Dezember 2001 geltend gemacht.

Mit Urteil vom 18. November 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die gesetzlichen Voraussetzungen zum Erlass der Beitragsforderung lägen nicht vor. Gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV dürfe ein Versicherungsträger Ansprüche nur erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des Einzelfalls unbillig wäre. Diese Vorschrift stelle eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass die Versicherungsträger dazu verpflichtet seien, ihre Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben. Zu den Einnahmen gehörten nach § 20 SGB IV nach Maßgabe der besonderen Vorschriften über die einzelnen Versicherungszweige die Beiträge der Versicherten. Das Prinzip der Beitragserhebung dürfe dabei nicht durch eine zu großzügige Auslegung der Erlassvoraussetzungen unterlaufen werden. Denn mit dem Erlass werde gegenüber dem Schuldner auf einen bestehenden Anspruch ganz oder teilweise verzichtet. Der Anspruch erlösche und seine spätere Geltendmachung sei ausgeschlossen. Damit begünstige der Erlass den Einzelnen zu Lasten der Versichertengemeinschaft. Es sei deshalb zwischen dem Interesse des Versicherungsträgers und der Verpflichtung aus § 76 Abs. 1 SGB IV, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben, und den Individualinteressen des Zahlungspflichtigen abzuwägen. Dies erfordere "enge Maßstäbe". In diesem Zusammenhang sei das von § 76 SGB IV zu Grunde gelegte Interesse des Versicherungsträgers und das in Bezug genommene und in die Abwägung eingestellte Interesse der Versichertengemeinschaft allein finanzieller Art. Sonstige Kriterien könnten allenfalls bei der Beurteilung des Vorliegens einer Unbilligkeit aus sachlichen Gründen Berücksichtigung finden.

Die Einziehung der Forderung sei vorliegend aber weder aus persönlichen noch aus sachlichen Gründen unbillig. Eine in der Person des Klägers begründete persönliche Unbilligkeit liege nicht vor. Der Erlass wegen persönlicher Unbilligkeit setze voraus, dass die Einziehung für den Zahlungspflichtigen in wirtschaftlicher Hinsicht Existenz bedrohend oder zumindest in hohem Maß Existenz gefährdend sei. Dies sei bei dem Kläger nicht ersichtlich. Der Kläger habe selbst angeboten, einen Betrag in Höhe von 18.000 EUR als Einmalzahlung an die Beklagte zu leisten. Allein dies zeige schon, dass eine Existenzgefährdung nicht vorliege. Bei einem vorhandenen Vermögen von 18.000 EUR reiche es aus, dass dem Kläger Ratenzahlung eingeräumt werde, wie dies die Beklagte auch in dem Bescheid vom 28. August 2007 getan habe. Eine sachliche Unbilligkeit liege ebenfalls nicht vor. Ein Erlass aus sachlichen Billigkeitsgründen sei angezeigt, wenn die Geltendmachung eines Anspruchs zwar dem Wortlaut einer Vorschrift entspreche, aber nach dem Zweck des zu Grunde liegenden Gesetzes nicht (mehr) zu rechtfertigen sei, weil er dessen Wertungen zuwider laufe. Umstände, die der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes einer Vorschrift bewusst in Kauf genommen habe, könnten dagegen keine sachliche Unbilligkeit begründen. Das Erlassverfahren sei kein geeigneter Rechtsbehelf, Versäumnisse des Zahlungspflichtigen, die zur Forderungsabtretung durch den Sozialversicherungsträger geführt hätten, auszugleichen. Die Beklagte habe erst durch den Antrag auf Kontenklärung Kenntnis davon erhalten, dass der Kläger freiberuflich als Diplom-Ingenieur überwiegend für einen Auftraggeber tätig sei. Wäre dies der Beklagten schon früher bekannt gewesen, hätte der Kläger bereits zuvor Beiträge entrichten müssen. Durch die Beitragszahlung erwerbe der Kläger zudem Ansprüche gegenüber der Beklagten, mit welchen seine Beiträge korrespondierten. Dies habe der Gesetzgeber so gewollt. Eine Beitragserhebung entspreche somit dem Zweck des zugrunde zulegenden Gesetzes und laufe nicht dessen Wertungen zuwider.

Die Beitragsansprüche der Beklagten seien schließlich auch weder verjährt noch verwirkt. Ansprüche auf Beiträge verjährten gemäß § 25 Abs. 1 SGB IV in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden seien. Verjährt seien daher die Ansprüche der Beklagten vor dem 31. Dezember 2000, dies habe die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid vom 7. Dezember 2006 auch berücksichtigt. Ebenso wenig seien die Beiträge verwirkt. Da die Beklagte erst durch den Antrag auf Kontenklärung von der Versicherungspflicht des Klägers erfahren habe, sei ihr insoweit kein Fehlverhalten vorzuwerfen, so dass besondere Umstände, die zu einer Verwirkung führen könnten, gerade nicht erkennbar seien. Aus den vorgenannten Gründen komme schließlich auch ein teilweiser Erlass der Beitragsforderung nicht in Betracht.

Der Kläger hat gegen das am 17. Dezember 2009 zugestellte Urteil am 14. Januar 2010 Berufung eingelegt (L 1 KR 25/10). Da trotz wiederholter Erinnerung und der Aufforderung, das Verfahren zu betreiben, keine Berufungsbegründung erfolgte, hat das Hessische Landessozialgericht das Verfahren am 26. November 2010 als erledigt behandelt.

Die schließlich mit Schreiben vom 15. April 2011 erfolgte Begründung der Berufung ist unter dem Aktenzeichen (L 1 KR 39/11) fortgeführt worden. Der Kläger hat sein bisheriges Vorbringen wiederholt und angeführt, dass er den Erlass einer Beitragsforderung in Höhe von 25.183,46 EUR (und nicht in Höhe von 65.183,46 EUR, wie in dem Tatbestand des angegriffenen Urteils fälschlich angegeben) begehre. Unter den gegebenen Umständen sei die angebotene Einmalzahlung von 18.000 EUR gegen Erlass der Restforderung durchaus großzügig bemessen und angemessen, wenn auch nur durch die einmalige Unterstützung Dritter möglich. Die erwähnten Lebensversicherungen dienten der Altersvorsorge und stünden vorrangig nicht zur Verfügung. Hinzu komme, dass die Beklagte jetzt auch Säumniszuschläge verlange und mit Bescheid vom 15. März 2011 eine Gesamtforderung in Höhe von 53.786,53 EUR geltend mache. Gegen diesen Bescheid habe er ebenfalls Widerspruch eingelegt.

Die weitere Verfolgung des Anspruchs der Beklagten würde zu einer Gefährdung seiner Existenz führen. Aufgrund der vom Gesetzgeber angestrebten Gleichbehandlung des Erlasses von Forderungen im Steuer- und Beitragsrecht seien die zu § 227 Abgabenordnung entwickelten Grundsätze zu beachten. Zudem werde von der Rechtsprechung die für den Erlass erforderliche Unbilligkeit gemäß § 76 Abs. 2 Nr. 3 SGB IV auch dann akzeptiert, wenn die Lebensplanung des Betroffenen nachhaltig beeinträchtigt werde. Vorgeschlagen werde ein Rückgriff auf die Tabellensätze der Prozesskostenhilfe. Damit werde im Ergebnis im Rahmen des § 76 SGB IV ein über die Pfändungsgrenzen hinausgehender Schutz auch deshalb bejaht, um den Lebensstandard einschließlich der Position im Berufsleben zu wahren. Abzuwägen sei bei einem (Teil-) Erlass die Chance, einerseits mit Hilfe des Erlasses eine Sanierung des Betroffenen ohne Privatinsolvenzverfahren zu erreichen, andererseits dessen Arbeitsplatz zu erhalten und dadurch den Sozialleistungsträgern Kosten wegen der Arbeitslosigkeit zu ersparen. Auch sei zu berücksichtigen, dass er angesichts seines Alters die Gesamtforderung von rund 54.000 EUR in seinem (Arbeits-) Leben nicht mehr werde ausgleichen können. Gerade Betroffenen im vorgerückten Alter müsse jedoch die Möglichkeit zur Fortführung bzw. zum Wiederaufbau einer Existenz und der Vorsorge für den Lebensabend gegeben werden.

Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Gießen vom 18. November 2009 sowie des Bescheids der Beklagten vom 7. Dezember 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Februar 2008 die Beklagte zu verurteilen, die Beitragsforderung zu erlassen,
hilfsweise
teilweise zu erlassen.

Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angegriffene Entscheidung für zutreffend und verweist darauf, dass bei Personen, die der Versicherungspflicht aufgrund der Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit unterlägen, zu berücksichtigen sei, dass regelmäßig ein Teil des erzielten Gewinns als Pflichtbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung zu zahlen sei. Sofern die verbleibenden Mittel für die angemessene Lebensführung nicht ausreichten, wäre gegebenenfalls durch die Sozialhilfeträger zu prüfen, ob ergänzende Leistungen gewährt werden müssten. Selbst der Eintritt von Sozialhilfebedürftigkeit durch die Anwendung von § 76 Abs. 2 SGB IV sei kein Existenz vernichtender Eingriff. In derartigen Fällen wäre durch den Einrichtungsträger gegebenenfalls der Eintritt von Versicherungsfreiheit wegen Geringfügigkeit (§ 5 Abs. 2 SGB VI i.V.m. § 8 SGB IV) bzw. die Anwendung der Sozialklausel bei der Beitragszahlung (§ 165 Abs. 1a SGB VI) zu prüfen. Vorliegend stehe jedoch nicht der Eintritt von Sozialbedürftigkeit im Raume, sondern die "Sanierung des Klägers ohne Privatinsolvenz". Ansprüche könnten jedoch nur dann erlassen werden, wenn die Einziehung nach Lage des einzelnen Falles für den Versicherten unbillig wäre. Dies könne unter anderem dann der Fall sein, wenn eine Gefährdung des notwendigen Lebensunterhalts des Versicherten bestehe oder wenn der Versicherte für sich und gegebenenfalls seine Familie keine ausreichenden Mittel für Nahrung, Wohnung, Kleidung, ärztliche Behandlung etc. zur Verfügung habe. Diese Voraussetzungen seien jedoch nicht vorgetragen worden.

Die Beteiligten sind zu einer beabsichtigten Entscheidung des Rechtsstreits durch Beschluss gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört worden.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

II.

Der Senat konnte durch Beschluss ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter entscheiden, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält, § 153 Abs. 4 SGG.

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Vortrag des Klägers im Berufungsverfahren führt zu keiner anderen Entscheidung. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird gemäß § 153 Abs. 2 SGG abgesehen. Lediglich ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Beklagte entgegen der Auffassung des Sozialgerichts zu Recht von einer Verjährung der Beiträge vor dem 1. Dezember 2001 ausgegangen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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