L 9 U 5303/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 3 U 2290/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 5303/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. November 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) streitig, ob dem Kläger wegen der bei ihm als Berufskrankheit anerkannten Lärmschwerhörigkeit Verletztenrente zusteht.

Der 1944 geborene Kläger war von Mai 1958 bis Dezember 2002 bei verschiedenen Arbeitgebern als Arbeiter, Baggerfahrer und Maschinenführer beschäftigt. Danach war er arbeitslos bzw. zeitweise arbeitsunfähig erkrankt. Seit 01.07.2006 bezieht der Kläger Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (Bescheid der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg vom 22.08.2006). Außerdem gewährt die Beklagte in Ausführung des Urteils des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28.01.2011 (L 8 U 4946/08) Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. seit 07.12.2002 wegen der festgestellten Berufskrankheit nach Nr. 2108 und Nr. 2110 (bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule) der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Am 26.06.2009 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV unter Vorlage des Befundberichtes des HNO-Arztes Dr. G. vom 17.06.2009 (Diagnose: geringgradige Innenohrschwerhörigkeit rechts, mittelgradige kombinierte Schwerhörigkeit mit Tinnitus). Die Beklagte veranlasste die Angaben des Klägers vom 20.07.2009 zum Beschwerdeverlauf und zu seinem beruflichen Werdegang in dem ihm hierzu übersandten Vordruck. In dem vom Prozessbevollmächtigten des Klägers am 20.07.2009 unterschriebenen "Fragebogen Ohrgeräusche" gab dieser an, dass sich die Ohrgeräusche erstmals ca. 2004 bemerkbar gemacht hätten und seit 2008 in ihrem jetzigen Ausmaß bestünden. Ergänzend nahm die Beklagte die ermittelten Beschäftigungszeiten aus dem Berufskrankheitenverfahren zur Wirbelsäulenerkrankung zu den Akten (Schreiben des Sachbearbeiters vom 10.02.2010). Im Bericht des Präventionsdienstes der Beklagten vom 24.03.2010 beurteilte Dipl.-Ing. S. die Lärmexposition des Klägers als Bagger-, Raupen- und Radlagerfahrer im Zeitraum vom 25.02.1985 bis 06.12.2002 sowie während Beschäftigungszeiten als Bauhelfer 1963 und 1969 sowie von 1972 bis 1985 mit einem Beurteilungspegel von 85-90 dB(A). Weiterhin veranlasste die Beklagte eine Hals-Nasen-Ohrenärztliche Begutachtung. In dem Gutachten vom 07.05.2010 kam HNO-Arzt Dr. W. zu dem Ergebnis, die potenziell gehörschädigende Lärmexposition mit einem Beurteilungspegel von 85-90 dB(A) sei ursächlich für den Innenohrschaden, wie ihn das rechte Ohr des Klägers aufweise. Nicht lärmbedingt sei der Schallleitungsanteil des Hörschadens links und der nach Beendigung der Berufstätigkeit aufgetretene Tinnitus links. Die Schallleitungsstörung links sei Ausdruck einer gestörten Mittelohrfunktion. Es bestehe eine hochgradige Einschränkung der Trommelfellbeweglichkeit und eine stark verdickte Membran. Die Gesamt-MdE aus lärmbedingter und lärmunabhängiger Schwerhörigkeit ergebe bei einem Hörverlust rechts von 10 % und links von 40 % eine MdE von unter 10 v.H. Da der Hauptteil der Schwerhörigkeit links lärmunabhängig sei und nur der Hörschaden links die Kriterien für eine Hörgeräteindikation erfülle, gehe eine eventuelle Hörgeräteversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung.

Mit Bescheid vom 19.05.2010 stellte die Beklagte eine Berufskrankheit nach Nr. 2301 der Berufskrankheiten-Liste (Lärmschwerhörigkeit) aufgrund einer beiderseitigen beginnenden Hochtoninnenohrschwerhörigkeit fest und lehnte die Gewährung einer Rente ab. Eine Hörhilfe sei wegen der Folgen der Berufskrankheit nicht erforderlich.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, denn der Tinnitus bestehe bereits seit Jahrzehnten. Mit Widerspruchsbescheid vom 18.08.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Das Gutachten vom 07.05.2010 sei schlüssig und widerspruchsfrei. Den eigenen Angaben des Klägers vom 20.07.2009 zufolge sei der Tinnitus erstmals 2004 bemerkt worden.

Der Kläger erhob am 15.09.2010 Klage (S 20 U 4739/10) zum Sozialgericht Freiburg (SG) mit dem Begehren, ihm wegen der festgestellten Berufskrankheit "Lärmschwerhörigkeit" Verletztenrente nach einer MdE von 20 v.H., hilfsweise von 10 v.H., zu bezahlen.

Das SG holte von Amts wegen ein HNO-ärztliches Gutachten ein. In dem am 07.12.2010 von der Sachverständigen Dr. F. erstatteten Gutachten führte diese aus, beim Kläger sei eine Tympanosklerose mit vollständig aufgehobener Trommelfellbeweglichkeit beidseits und eine kombinierte Hörstörung beidseits, links stärker ausgeprägt als rechts, sowie ein chronischer Pfeiftinnitus links zu diagnostizieren. Der Hörverlust aufgrund der Kurve für die Knochenleitung, die den Innenohrhörverlust angebe, betrage rechts 0 % und links 5 %. Der Hörverlust nach dem Verlauf der Luftleitung, die den Mittelohrhörverlust angebe, betrage rechts 20 % und links 45 %. Die beidseits stark verdickten Trommelfelle und vollständig aufgehobene Trommelfellbeweglichkeit sprächen dafür, dass bereits die Schallübertragung in beiden Mittelohren stark eingeschränkt sei. Nach den Audiogrammen ergebe sich im Hochtonbereich rechts eine reine Innenohrschwerhörigkeit mit maximalem Hörverlust bei 4 kHz, was der typischen C5–Hochtonsenke eines Lärmschadens entspreche. Der Knochenleitungsverlust links entspreche in etwa dem Innenohrhörverlust im Hochtonbereich rechts. Hiervon könne eindeutig der darüber hinausgehende beidseitige Hörverlust abgegrenzt werden, welcher Folge der Hörstörung in beiden Mittelohren und daher mit hoher Wahrscheinlichkeit tympanosklerotisch bedingt sei. Die lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit begründe eine MdE von unter 10 v.H. Der Tinnitus des linken Ohres sei nicht lärmbedingt, sondern auf die tympanosklerotischen Veränderungen, die im linken Mittelohr auch deutlich stärker ausgeprägt seien als rechts, zurückzuführen. Auf Grund der beruflich bedingten Lärmschwerhörigkeit sei eine Versorgung mit Hörgeräten nicht erforderlich.

Der Kläger erhob gegen das Gutachten Einwände, insbesondere dass das Königsteiner Merkblatt keine geeignete Entscheidungsgrundlage für die Beurteilung einer Lärmschwerhörigkeit sei und die Sachverständige die Ablehnung des Tinnitus als Folge der Berufskrankheit nur behaupte und nicht begründe.

Mit Gerichtsbescheid vom 12.12.2011 wies das SG die Klage ab. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, das Königsteiner Merkblatt sei ein allgemein anerkanntes Hilfsmittel zur Beurteilung der Lärmschwerhörigkeit. Das Gutachten der Sachverständigen Dr. F. stimme mit dem im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten überein. Auch die Beurteilung, dass der Tinnitus des Klägers lärmunabhängig sei, sei nachvollziehbar. Ein lärmbedingter Tinnitus liege nach medizinischer Erkenntnis im Bereich der durch Lärm hörgeschädigten Frequenzen, was beim Kläger nach den Feststellungen in beiden Gutachten nicht der Fall sei.

Hiergegen legte der Kläger am 17.01.2012 beim Landessozialgericht (LSG) Berufung (L 8 U 250/12) ein, die nicht begründet worden ist. Mit Urteil vom 29.06.2012 wies das LSG die Berufung mit der Begründung zurück, dass die vom Kläger gerügten MdE-Bewertungsansätze im Königsteiner Merkblatt auch in der neuesten unfallmedizinischen Literatur zitiert werden. Es bestehe kein Anhaltspunkt dafür, dass die Leitlinien des Königsteiner Merkblatts nicht mehr der herrschenden wissenschaftlichen arbeits- und sozialmedizinischen Lehrmeinung entsprechen. Darüber hinaus sei nach den Erstangaben des Klägers das Ohrgeräusch erstmals 2004 aufgetreten. Die spätere Behauptung des Klägers - nach Vorlage des Gutachtens von Dr. W. mit der Beurteilung des Tinnitus als nach Ende der Berufstätigkeit aufgetretener Nachschaden -, der Tinnitus habe schon zur Zeit seiner bis 2002 dauernden Berufstätigkeit bestanden, sei als prozesstaktisches Vorbringen wenig glaubhaft. Seine zuerst gemachten Angaben habe der Kläger bei der Untersuchung durch Dr. W. am 05.05.2010 noch mit seiner Schilderung bestätigt, das Ohrgeräusch bestehe links seit etwa sechs Jahren, sei persistierend, sporadisch trete auch ein Ohrgeräusch rechts auf. Beide Ohrgeräusche würden insgesamt als wenig belästigend empfunden. Dies rechtfertige es nach den Bewertungskriterien der unfallmedizinischen Literatur nicht, dem Tinnitus MdE-erhöhende Wirkung beizumessen, selbst dann, wenn der Tinnitus als Berufskrankheitenfolge zu berücksichtigen wäre. Die gegen das Urteil beim Bundessozialgericht zunächst eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde (B 2 U 241/12 B) wurde vom Kläger am 04.10.2012 zurückgenommen.

Mit Schreiben vom 15.08.2012 stellte der Kläger erneut einen Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer Stütz-MdE um wenigstens 10 v.H., da das LSG überhaupt nichts zur Kontrolle des angefochtenen Urteils getan habe. Die Ausführungen des LSG seien nicht vertretbar und es fände sich kein entsprechendes Korrelat im Akteninhalt. Letzteres werde er überprüfen. Unter dem 04.10.2012 beantragte er im Hinblick auf seinen Überprüfungsantrag Akteneinsicht. Die Beklagte übersandte dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 10.10.2012 einen kompletten Ausdruck der Verwaltungsakte. Weiterer Vortrag des Klägers erfolgte jedoch nicht.

Mit Bescheid vom 21.11.2012 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 19.05.2010 mit der Begrünung ab, dass in dem Antrag vom 15.08.2012 keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorgebracht worden seien. Eine nochmalige Sachprüfung erfolge daher nicht.

Hiergegen legte der Kläger am 14.12.2012 Widerspruch ein und kündigte an, dass die Begründung nachgereicht werde. Da eine Widerspruchsbegründung auch nach zweimaliger Erinnerung und Fristsetzung durch die Beklagte nicht erfolgte, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 17.04.2013 zurück. Zur Begrünung führte sie aus, dass nach § 44 SGB X ein Verwaltungsakt nur zurückzunehmen sei, wenn sich im Einzelfall ergebe, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Eine unrichtige Anwendung des Rechts sei jedoch nach nochmaliger Überprüfung der Sach- und Rechtslage nicht festzustellen. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Feststellungen des Gutachters Dr. W. seien schlüssig und plausibel. Sie stünden mit den aktenkundigen Informationen ebenso in Einklang wie mit der herrschenden medizinischen Lehrmeinung und seien durch die gutachterlichen Feststellungen von Dr. F. vom 07.12.2010 bestätigt worden.

Hiergegen hat der Kläger am 17.05.2013 Klage zum SG erhoben. Antragstellung und Begründung sollten in einem gesonderten Schriftsatz erfolgen. Am 02.08.2013 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers Fristverlängerung bis 30.09.2013 beantragt. Mit Schreiben vom 08.10.2013, das dem Bevollmächtigten des Klägers am 10.10.2013 zugestellt wurde, hat das SG dem Kläger eine Frist zur Klagebegründung bis 28.10.2013 gesetzt und darauf hingewiesen, dass Erklärungen und Beweismittel, die erst nach Ablauf der Frist vorgebracht werden, zurückgewiesen werden könnten und das Gericht ohne weitere Ermittlungen entscheiden könne, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und der Beteiligte die Verspätung nicht genügend entschuldige (§ 106 a SGG). Gleichzeitig hat das SG einen Gerichtsbescheid angekündigt und gab den Beteiligten Gelegenheit, sich zu der beabsichtigten Verfahrensweise zu äußern. Eine Entscheidung werde nicht vor dem 29.10.2013 ergehen.

Mit Gerichtsbescheid vom 08.11.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Das Begehren des Klägers sei trotz fehlender Klagebegründung durch Auslegung ermittelbar. Der Kläger begehre eine Rücknahme des Bescheides vom 19.05.2010 und die Zuerkennung einer Rente infolge der Berufskrankheit Lärmschwerhörigkeit nach einer MdE von 10 v.H. Die Klage sei jedoch unbegründet. Auf die Ausführungen in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid werde verwiesen.

Gegen den am 13.11.2013 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 11.12.2013 Berufung eingelegt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 8. November 2013 sowie den Bescheid vom 21. November 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. April 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 19. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. August 2010 abzuändern und ihm eine Verletztenrente nach einer MdE um 10 v.H. zu gewähren,

hilfsweise ein HNO-fachärztliches Gutachten über den Kläger von Amts wegen,

hilfsweise ein Gutachten nach § 109 SGG bei Herrn Dr. O. E., O.-Klinikum L. einzuholen. Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG komme nicht in Betracht, der Sachverhalt sei ausermittelt und schwerwiegende Verfahrensfehler seien nicht zu erkennen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten, der Klageakten des SG (S 20 U 4739/10 und S 3 U 2290/13), der Berufungsakte des Senats sowie des Verfahrens L 8 U 250/12 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgemäß eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung des Klägers ist jedoch nicht begründet.

Mit den angefochtenen Bescheiden hat die Beklagte zu Recht die Rücknahme des Bescheides vom 19.05.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.08.2010 abgelehnt.

Nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Sozialleistungsträger verpflichtet, einen Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind.

Ziel des § 44 SGB X ist es, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes und der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten letzterer aufzulösen. Ist ein Verwaltungsakt rechtswidrig, hat der betroffene Bürger einen einklagbaren Anspruch auf Rücknahme des Verwaltungsaktes unabhängig davon, ob der Verwaltungsakt durch ein rechtskräftiges Urteil bestätigt wurde (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 2200 § 1268 Nr. 29). Entsprechend dem Umfang des Vorbringens des Versicherten muss die Behörde in eine erneute Prüfung eintreten und den Antragsteller bescheiden (BSGE 51, 139, 141 = SozR 3900 § 40 Nr. 15; BSG SozR 3-2600 § 243 Nr. 8 S. 27 f; BSG SozR 3-4100 § 119 Nr. 23 S. 119 f.). Dabei führt § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X zwei Alternativen an, weswegen ein Verwaltungsakt zurückzunehmen sein kann: Das Recht kann unrichtig angewandt oder es kann von einem Sachverhalt ausgegangen worden sein, der sich als unrichtig erweist. Nur für die zweite Alternative kommt es auf die Benennung neuer Tatsachen und Beweismittel an. Bei der ersten Alternative handelt es sich um eine rein juristische Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, zu der von Seiten des Klägers zwar Gesichtspunkte beigesteuert werden können, die aber letztlich umfassend von Amts wegen erfolgen muss (vgl. BSG, Urteil vom 05.09.2006 – B 2 U 24/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 18). Ist ein Überprüfungsantrag unsubstantiiert und ergeben sich keine Anhaltspunkte hinsichtlich der Rechtswidrigkeit, so kann sich die Beklagte ohne jede weitere Sachprüfung auf die Bindungswirkung der zu überprüfenden Bescheide berufen (Steinwedel in Kassler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, Stand Mai 2014, § 44 SGB X Rn. 43).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist der Senat – ebenso wie das SG – zu dem Ergebnis gelangt, dass die Voraussetzungen für eine Rücknahme der früheren bestandskräftigen Bescheide nicht vorliegen.

Streitig ist vorliegend aufgrund des beschränkten Berufungsantrages nur die Frage, ob der Kläger wegen der von der Beklagten anerkannten BK 2301 der Anlage 1 zur BKV einen Anspruch auf Verletztenrente hat, ggf. auch auf Grund eines Stützrententatbestandes. Die Bewilligung eines Hörgerätes wurde nicht mehr beantragt.

Die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Verletztenrente sind nicht erfüllt.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls (Arbeitsunfall oder Berufskrankheit), der hier mit der BK Nr. 2301 anerkannt ist, über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 v. H. gemindert ist, haben nach § 56 Abs. 2 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente (§ 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nach § 56 Abs. 1 Satz 3 SGB VII nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 v.H. mindern. Die Bewilligung einer sogenannten Stützrente nach § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VII käme vorliegend in Betracht, wenn aufgrund der BK Nr. 2301 der Anlage 1 zur BKV eine MdE von 10 v.H. anerkannt werden kann, da nach dem anderen Versicherungsfall der BK Nrn. 2108 und 2110 bereits eine stützende Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. gezahlt wird.

Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt also von zwei Faktoren ab (vgl. BSG, Urteil vom 22. Juni 2004, B 2 U 14/03 R in SozR 4-2700 § 56 Nr. 1): Den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, haben keine verbindliche Wirkung, sie sind aber eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher und seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE im jeweiligen Einzelfall geschätzt werden. Diese zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der täglichen Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel.

Gemessen an den vorstehenden Voraussetzungen hat der Kläger wegen der Folgen der anerkannten BK Nr. 2301 keinen Anspruch auf Verletztenrente, weil diese die Erwerbsfähigkeit nicht um wenigstens 10 v.H. mindern.

Die Folgen der BK Nr. 2301 bedingen zur Überzeugung des Senats keine MdE um 10 v.H., was sich schlüssig und nachvollziehbar aus dem Sachverständigengutachten von Dr. F. vom 07.12.2010 sowie dem Gutachten von Dr. W. vom 07.05.2010, das im Wege des Urkundenbeweises verwertet wird, ergibt. Nach diesen liegt eine berufsbedingte Hörstörung, die eine MdE um wenigstens 10 v.H. bedingt, beim Kläger nicht vor. Die Ohrgeräusche sind nicht auf die berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen.

Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Kläger nach den auch vom Senat nicht in Zweifel gezogenen Ergebnissen der Ermittlungen des Präventionsdienstes der Beklagten während der Beschäftigungszeiten als Bauhelfer 1963 und 1969 sowie 1972 bis 1985 sowie als Bagger-, Raupen- und Radlagerfahrer im Zeitraum vom 25.02.1985 bis 06.12.2002 mit einem Beurteilungspegel von 85-90 dB(A) Berufslärm ausgesetzt war, der auch grundsätzlich geeignet ist, eine Lärmschwerhörigkeit zu verursachen. Beim Kläger besteht eine Tympanosklerose mit vollständig aufgehobener Trommelfellbeweglichkeit beidseits und kombinierter Hörstörung links ausgeprägter als rechts sowie ein chronischer Pfeiftinnitus links. Von diesen Gesundheitsstörungen ist nur der Hörverlust im Hochtonbereich rechts - übertragen auf beide Ohren - mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf die berufliche Lärmbelastung zurückzuführen. Der Senat folgt insoweit dem schlüssigen und nachvollziehbaren Gutachten von Dr. F. Diese hat bei der Untersuchung am 07.12.2010 beim Kläger beidseits stark verdickte Trommelfelle und eine vollständig aufgehobene Trommelfellbeweglichkeit festgestellt. Hierdurch ist bereits die Schallübertragung im Bereich der Trommelfelle und der beiden Mittelohren stark eingeschränkt. Die Folgen der Schallleitungsstörung in beiden Mittelohren sind mit hoher Wahrscheinlichkeit tympanosklerotisch bedingt und nicht auf die berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen. Nur im Hochtonbereich bestehen nach dem Gutachten von Dr. F. die für eine Lärmschwerhörigkeit typischen Tonschwellenkurven und annähernd symmetrischen Kurvenverläufe rechts und links. Dieses Ergebnis wird auch durch das Gutachten von Dr. W. vom 07.05.2010 bestätigt, der ebenfalls eine hochgradige Einschränkung der Trommelfellbeweglichkeit und eine stark verdickte Trommelfellmembran festgestellt hat und davon ausging, dass der Schallleitungsanteil des Hörschadens nicht auf die Lärmexposition zurückzuführen ist. Die Beklagte hat hiervon ausgehend das Vorliegen einer BK 2301 mit dem angefochtenen Bescheid anerkannt. Allerdings hat sie auch zu Recht die Gewährung von Verletztenrente abgelehnt, denn die Folgen der berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit bedingen keine MdE um wenigstens 10 v. H. Denn der Innenohrhörverlust beträgt nach dem bei der Begutachtung durch Dr. F. erstellten Tonschwellenaudiogramm rechts 0 % und links 5 %. Nach der Sprachaudiometrie beträgt der Hörverlust, der nicht auf die Schallleitungsstörung zurückzuführen ist, nach dem gewichteten Gesamtwortverstehen beidseits 0 %. Hierfür kommt die Zuerkennung einer MdE von 10 % nicht in Betracht (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 345 ff.). Gegen die vom Kläger gerügte Bewertung von Hörverlusten nach dem Königsteiner Merkblatt bestehen, wie der 8. Senat des LSG im Urteil vom 29.06.2012 (L 8 U 250/12) bereits zutreffend ausgeführt hat, keine Bedenken (vgl. BSG, Urteil vom 02.05.2001, B 2 U 24/00, in Juris). Eine höhere MdE-Bewertung resultiert auch nicht unter Berücksichtigung des Pfeiftinnitus links. Dieser ist bereits nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit lärmbedingt, da er erst nach dem Ende der beruflichen Lärmbelastung aufgetreten ist. Nach den Erstangaben des Klägers in den von seinem Prozessbevollmächtigten unter dem 20.07.2009 unterschriebenen Formularvordrucken ist das Ohrgeräusch erstmals 2004 aufgetreten und bestand seit dem Jahre 2008 in dem jetzigen Ausmaß. Der 8. Senat führte hierzu Folgendes aus: "Die spätere Behauptung des Klägers - nach Vorlage des Gutachtens von Dr. W. mit der Beurteilung des Tinnitus als nach Ende der Berufstätigkeit aufgetretener Nachschaden -, der Tinnitus habe schon zur Zeit seiner bis 2002 dauernden Berufstätigkeit bestanden, ist zur Überzeugung des Senats als prozesstaktisches Vorbringen wenig glaubhaft. Seine zuerst gemachten Angaben hatte der Kläger bei der Untersuchung durch Dr. W. am 05.05.2010 noch mit seiner Schilderung bestätigt, das Ohrgeräusch bestehe links seit etwa sechs Jahren, sei persistierend, sporadisch trete auch ein Ohrgeräusch rechts auf. Beide Ohrgeräusche würden insgesamt als wenig belästigend empfunden. Dies rechtfertigt es nicht nach den Bewertungskriterien der unfallmedizinischen Literatur, dem Tinnitus MdE-erhöhende Wirkung beizumessen, selbst dann, wenn der Tinnitus als Berufskrankheitenfolge zu berücksichtigen wäre. Schwerhörigkeit und Ohrgeräusche sind zwei Symptome des lärmgeschädigten Innenohres. Ohrgeräusche sind deshalb bei der MdE-Einschätzung im Rahmen der Gesamt-MdE (Hörverlust und Ohrgeräusche) integrierend zu bewerten (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., Seite 351). Abgesehen davon ist auch für den Senat die Beurteilung der Sachverständigen Dr. F. überzeugend, dass der verstärkt am linken Ohr auftretende Tinnitus durch die dort auch am ausgeprägtesten vorhandenen tympanosklerotischen Veränderungen verursacht wird, und daher insgesamt nicht auf die berufliche Lärmeinwirkung zurückzuführen ist." Der Senat sieht keinen Grund hiervon abzuweichen, zumal eine substantiierte Begründung des gestellten Berufungsantrages nicht vorgelegt wurde. Der Senat schließt sich daher diesen Ausführungen aus eigener Überzeugung an.

Weitere Ermittlungen von Amts wegen waren im Hinblick auf den geklärten Sachverhalt nicht erforderlich.

Der Senat lehnt auch den schriftsätzlich per Fax am 17.09.2014, und im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.09.2014 mündlich gestellten Hilfsantrag des Klägers ab, ein Gutachten gemäß § 109 SGG bei Dr. O. E., O.-Klinikum L., einzuholen. Der Antrag ist gemäß § 109 Abs. 2 SGG abzulehnen, da durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht wurde. Wie bereits dargelegt, ist die Überprüfung eines Bescheides nach § 44 SGB X auf die fehlerhafte Rechtsanwendung beschränkt, wenn vom Kläger keine neuen Tatsachen vorgetragen werden. Stellt der Kläger einen Überprüfungsantrag, weil er der Ansicht ist, dass die Beklagte von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, muss er neue Tatsachen vortragen und gegebenenfalls Beweismittel benennen. Vorliegend hat der Kläger weder im Antrag nach § 44 SGB X noch im Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren neue Tatsachen benannt oder sich kritisch mit dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt auseinandergesetzt. Der Senat musste daher (ebenso wie die Beklagte und das SG) davon ausgehen, dass eine Überprüfung der Rechtsanwendung und keine neue Tatsachenerhebung begehrt wird. Unter diesen Voraussetzungen ist das erstmalige Stellen eines Antrags nach § 109 SGG nur wenige Tage vor der anberaumten mündlichen Verhandlung und über fünf Wochen nach Zugang der Ladung am 08.08.2014 als grob nachlässig zu werten. Dies gilt umso mehr, als auch im Schriftsatz vom 17.09.2014 keine neuen Tatsachen vorgetragen wurden oder eine substantiierte Auseinandersetzung mit den Vorgutachten erfolgte.

Da somit die von der Beklagten anerkannte BK Nr. 2301 eine MdE um 10 v.H. nicht bedingt, hat die Beklagte zu Recht die Abänderung des Bescheides vom 19.05.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.08.2010 und die Gewährung von Verletztenrente wegen der anerkannten BK Nr. 2301 abgelehnt. Der Bescheid vom 21.11.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.11.2010 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG kam nicht in Betracht, da das SG in der Sache selbst entschieden hat, keine Verfahrensfehler ersichtlich sind und auch keine aufwändige Beweisaufnahme unterblieben ist (§ 159 Abs. 1 Nr. 1 und 2 SGG).

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor
Rechtskraft
Aus
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