L 11 R 1701/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 6 R 2078/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 1701/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 19.03.2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt höhere Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit; streitig ist die Höhe des Zugangsfaktors.

Der 1948 geborene Kläger hat rentenrechtliche Zeiten allein im Bundesgebiet zurückgelegt. Mit seiner Arbeitgeberin vereinbarte er im September 2003 die Fortführung des Arbeitsverhältnisses ab 01.03.2004 als Altersteilzeitarbeitsverhältnis mit Ende am 29.02.2008.

Auf den Antrag des Klägers vom 23.10.2007 bewilligte die Beklagte antragsgemäß ab 01.03.2008 Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit mit einem anfänglichen monatlichen Zahlbetrag von 1.164,82 EUR. Den Zugangsfaktor von 1,0 verminderte sie dabei für jeden Monat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 - für 60 Kalendermonate somit um 0,18 - auf 0,82. Den gegen den "versicherungsmathematischen Abschlag (Zugangsfaktor)" eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 26.03.2008 zurück.

Hiergegen richtet sich die am 01.04.2008 zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhobene Klage (S 4 R 1615/08). Mit Beschluss vom 18.04.2008 hat das SG das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Mit Schreiben vom 03.05.2013 hat die Beklagte das Verfahren wieder angerufen (Fortführung unter dem Az: S 6 R 2078/13). Die Anhebung der Altersgrenzen bei Altersrenten, die Minderung des Zugangsfaktors und die Vertrauensschutzregelung "45 Jahre Pflichtbeiträge" seien verfassungsgemäß (unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht (BVerfG): 11.11.2008, 1 BvL 3/05 ua, BVerfGE 122, 151 = SozR 4-2600 § 237 Nr 16). Das SG hat den Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom 17.12.2013 darauf hingewiesen, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid beabsichtige und zudem die Auferlegung von Kosten iHv 150 EUR wegen Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung.

Mit Gerichtsbescheid vom 19.03.2014 hat das SG die Klage abgewiesen und dem Kläger die Kosten seiner missbräuchlichen Fortführung des Rechtsstreits iHv 150 EUR auferlegt. Zur Begründung hat es auf den Widerspruchsbescheid Bezug genommen und ergänzend ausgeführt, das BVerfG habe die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs 3 iVm § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2a SGB VI) für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt (BVerfG 11.11.2008, aaO). Der Kläger sei auf die eindeutige Rechtsprechung des BVerfG hingewiesen worden und auf die Möglichkeit der Auferlegung von Kosten bei Fortführung der offensichtlich aussichtslosen Rechtsverfolgung. Der Kläger habe das Verfahren fortgeführt, ohne sich mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auseinanderzusetzen.

Gegen den seinem Bevollmächtigten am 28.03.2014 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 14.04.2014 eingelegte Berufung des Klägers. Die von der 6. Kammer zitierte Rechtsprechung des BVerfG halte sich nicht im Rahmen europarechtlicher Vorschriften, hierzu gehöre die VO (EG) Nr 883/2004. Diese Verordnung zwinge als supranationales Recht zu einer Vereinheitlichung der Sozialrechtssysteme der EU, sie gehe deutlich weiter als Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG), da sie alle europäischen Bürger gleichstelle. In der Präambel der Verordnung sei unter Ziffer 12 folgender Grundsatz zu finden: "Im Lichte der Verhältnismäßigkeit sollte sichergestellt werden, dass der Grundsatz der Gleichstellung von Sachverhalten oder Ereignissen nicht zu sachlich nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen oder zum Zusammentreffen von Leistungen gleicher Art für denselben Zeitraum führt". Gleichstellung von Sachverhalten bedeute, dass es nicht zu rechtfertigen sei, dass es in einem Land der EU sogar einen Alterszuschlag bei Renten gebe und allein in der Bundesrepublik Abschläge. Dieses sei eine Diskriminierung im Rahmen des Art 14 EMRK und bleibe eine Wegnahme von Eigentumsrechten. Es dürfe mit Interesse dem Umstand zu begegnen sein, wie der EuGH auf die Rentenkürzungen der letzten 12 Jahre reagiere. Im Übrigen habe der Gesetzgeber mit dem "Nahles-Gesetz" zum 01.07.2014 ein "Wohltatsgesetz" verabschiedet und andere Personenkreise mit Rentenerhöhungen versehen, während die bestehenden Abschläge weiter gelten. Dadurch sei eine Schieflage entstanden, denn der Gesetzgeber hätte – wenn die den Eingriff rechtfertigende Notlage vorbei sei – zwingend den Eingriff in verfassungsrechtlich geschützte Rechtspositionen zurücknehmen müssen.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 19.03.2014 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheids vom 09.01.2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 26.03.2008 zu verurteilen, die dem Kläger bewilligte Altersrente neu zu berechnen unter Berücksichtigung eines Zugangsfaktors 1,0 statt eines geschmälerten Zugangsfaktors, hilfsweise die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bezieht sich auf ihr bisheriges Vorbringen und die Gründe der angefochtenen Entscheidung des SG.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat keinen Erfolg.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist statthaft und damit zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf die Gewährung von höherer Altersrente wegen Altersteilzeit ab dem 01.03.2008, da die Beklagte zutreffend einen Zugangsfaktor von 0,820 zugrunde gelegt hat.

Der Kläger erfüllt unstreitig die Anspruchsvoraussetzungen für eine Altersrente wegen Altersteilzeitarbeit ab 01.03.2008 nach § 237 Abs 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI), da er vor dem 01.01.1952 geboren ist, am 01.03.2008 das 60. Lebensjahr vollendet hat, die Arbeitszeit aufgrund von Altersteilzeitarbeit für mindestens 24 Kalendermonate vermindert hat, in den letzten 10 Jahren vor Beginn der Rente acht Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung hat und die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt hat.

Nach der hier gemäß § 300 Abs 1, 2 SGB VI ab 01.01.2008 maßgebenden Gesetzesfassung des § 237 Abs 3 SGB VI (Gesetz vom 08.04.2008, BGBl I 681) wird die Altersgrenze von 60 Jahren für Versicherte, die nach dem 31.12.1936 geboren sind, nach Anlage 19 zum SGB VI angehoben; die vorzeitige Inanspruchnahme einer solchen Altersrente ist möglich (§ 237 Abs 3 SGB VI). Nach Anlage 19 wird bei Geburt im Februar 1948 die Altersgrenze auf 65 Jahre angehoben, die vorzeitige Inanspruchnahme ist ab einem Alter von 62 Jahren und 2 Monaten möglich. Die Regelung nach § 237 Abs 4 SGB VI, wonach die Altersgrenze in bestimmten Fällen aus Vertrauensschutzgründen nicht angehoben wird, greift hier nicht. Insbesondere ist der Kläger nicht vor den genannten Stichtagen geboren. Allerdings findet die Vertrauensschutzregelung des § 237 Abs 5 Satz 1 Nr 4 SGB VI Anwendung. Danach wird die Altersgrenze von 60 Jahren für die vorzeitige Inanspruchnahme für Versicherte nicht angehoben, die – wie hier - vor dem 01.01.2004 Altersteilzeitarbeit im Sinne der §§ 2 und 3 Abs 1 Nr 1 des Altersteilzeitgesetzes vereinbart haben. Der Kläger konnte daher die Rente vorzeitig bereits zum 01.03.2008 in Anspruch nehmen.

Nach § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2a SGB VI wird der Zugangsfaktor für Renten wegen Alters von 1,0 (§ 77 Abs 2 Satz 1 Nr 1) für jeden Kalendermonat der vorzeitigen Inanspruchnahme um 0,003 vermindert. Da hier die Altersgrenze auf das Alter von 65 Jahren angehoben worden ist, die Rente aber mit 60 Jahren in Anspruch genommen wurde, errechnet sich ein Zugangsfaktor von 0,82 (1,0 abzgl 60 Monate x 0,003 (0,18)). Da der Kläger die durch die vorzeitige Inanspruchnahme der Rente wegen Altersteilzeitarbeit ausgelöste Rentenminderung nicht durch Zahlung von Beiträgen abgemildert oder ausgeglichen hat (§ 187a Abs 1, § 76a SGB VI), hat er Anspruch auf die Rente wegen Altersteilzeitarbeit nur mit einem Zugangsfaktor von 0,82. Die Rentenberechnung der Beklagten entspricht damit den gesetzlichen Vorschriften.

Der Senat hat keine Zweifel daran, dass die Vorschriften über die Bestimmung von Abschlägen bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Altersteilzeitarbeit (§ 237 Abs 3 SGB VI iVm Anlage 19 und § 77 Abs 2 Satz 1 Nr 2a) verfassungsgemäß sind. Die Abschlagsregelungen bei vorzeitigem Rentenbezug enthalten - wie das BVerfG für die vorzeitige Inanspruchnahme einer Altersrente wegen Arbeitslosigkeit bereits entschieden hat (BVerfG 11.11.2008, aaO; BVerfG 05.02.2009, 1 BvR 1631/04, NZS 2009, 621) - eine zulässige gesetzliche Inhalts- und Schrankenbestimmung nach Art 14 Abs 1 Satz 1 GG und verletzen auch nicht den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Das Bundessozialgericht (BSG) hat sich dieser Rechtsprechung für die vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrente wegen Arbeitslosigkeit (BSG 05.05.2009, B 13 R 77/08 R, juris), Altersrente für langjährig Versicherte (BSG 19.11.2009, B 13 R 5/09 R, SozR 4-2600 § 236 Nr 1) und Altersrente für Frauen (BSG 25.02.2010, B 13 R 41/09 R, juris) angeschlossen. Neue Gesichtspunkte, die eine andere Beurteilung erfordern würden, hat der Kläger nicht aufgezeigt. Insbesondere ergibt sich keine neue Sachlage aufgrund der Gesetzesänderungen mit Wirkung zum 01.07.2014 (Gesetz vom 23.06.2014, BGBl I 787). Entgegen der Auffassung des Klägers ist der Gesetzgeber in seinem Handeln nicht in einer Weise eingeschränkt, dass er zuvor eingeführte Rentenkürzungen rückgängig machen müsste, bevor er (andere) Vergünstigungen einführen darf. Eine juristische Begründung bleibt der Bevollmächtigte des Klägers für seine Auffassung insoweit auch schuldig.

Der Senat teilt auch nicht die europarechtlichen Bedenken des Klägers (ebenso Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg 04.06.2014, L 13 R 270/14). Der Kläger hat sein gesamtes Erwerbsleben im Bundesgebiet zurückgelegt, er hat keinerlei rentenrechtliche Zeiten im europäischen Ausland. Damit fehlt jeder europarechtliche Anknüpfungspunkt. Entgegen der Auffassung des Klägers ergibt sich aus Ziffer 12 der vorangestellten Erwägungen zu VO (EG) Nr 883/2004 keinesfalls eine Pflicht zur identischen Regelung von Sachverhalten in den einzelnen Mitgliedstaaten der EU. Die in Art 5 VO (EG) Nr 883/2004 geregelte Sachverhaltsgleichstellung betrifft vielmehr die Anwendung nationaler, vom Anwendungsbereich der VO erfasster Regelungen der sozialen Sicherheit auch auf gleichartige Leistungen aus einem anderen Mitgliedstaat und Einkünfte, die in einem anderen Mitgliedstaat erzielt werden bzw die Berücksichtigung von entsprechenden Sachverhalten und Ereignissen in einem anderen Mitgliedstaat, als ob sie sich im Inland ereignet hätten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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