Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
139
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 139 VE 134/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Zur Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen unrechtmäßiger Haft in der DDR und psychischen Folgenschäden in Form einer Phobie gegen medizinische Behandlungen sowie zur Bemessung des Grades der Schädigungsfolgen, wenn aufgrund dieser Phobie lebensnotwendige Behandlungsmaßnahmen (hier bei Krebserkrankung) verzögert oder vorzeitig abgebrochen werden.
Der Beklagten wird unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 verurteilt, bei der Klägerin eine Verschlimmerung der psychischen Schädigungsfolgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen und ab Antragstellung im Januar 2010 Versorgungsleistungen nach dem StrafRehaG i.V.m. dem BVG auf der Grundlage eines Gesamt-Grades der Schädigungsfolgen von 80 zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu 50 v. H.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erhöhung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) für rehabilitierte Haftzeiten in der DDR.
Die Klägerin befand sich vom 24.04.1971 bis zum 10.05.1971 in Untersuchungshaft in der Haftanstalt C. und vom 31.01.1972 bis zum 29.11.1972 in Strafhaft in der Haftanstalt H. Mit Beschluss des Landgerichts Cottbus vom 07.02.1994 wurden die vorgenannten Haftzeiten nach dem StrafRehaG rehabilitiert. Während der schwangerschaftsbedingten Haftunterbrechung brachte die Klägerin – seinerzeit bereits Mutter zweier Kinder – am 04.01.1972 im Krankenhaus Hoyerswerda eine Tochter zur Welt, die sie auf Druck der Staatssicherheit und des Jugendamts unmittelbar zur Adoption frei gab.
Am 23.01.2006 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem StrRehaG und machte geltend, die psychischen und physischen Belastungen der Haftzeit – insbesondere die mangelnde ärztliche Versorgung nach der Entbindung, eine dreiwöchige Einzelhaft in einem feuchtkalten Keller und die Zwangsadoption ihres neugeborenen Kindes – hätten zu dauerhaften Folgeschäden geführt. Sie leide seither unter Schlafstörungen, Angstzuständen, Panikattacken, krampfartigen Schmerzen, Asthma und Albträumen. Die Symptomatik sei über Jahre hinweg einigermaßen beherrschbar gewesen, habe sich jedoch nach der Wiederbegegnung mit ihrer zwangsadoptierten Tochter verschlechtert. Sie habe daraufhin psychologische Hilfe bei der Beratungsstelle "G." in Anspruch genommen und dort auch von den Versorgungsleistungen des BVG erfahren. Einen zugleich beim Beklagten gestellten Antrag nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) nahm die Klägerin zurück. Ein später in C. gestellter Antrag nach dem VwRehaG wurde mit Bescheid vom 20.03.2007 – inzwischen bestandskräftig – abgelehnt.
Der Beklagte veranlasste ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten, das der Facharzt für Psychiatrie Dr. S.(1) nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27.09.2007 erstellte. Dr. S.(1) gelangte zu der Einschätzung, dass die Klägerin nach der Haftentlassung die Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt habe. Durch die Wiederbegegnung mit ihrer zwangsadoptierten Tochter im Jahr 2005 sei es dann nach einer längeren Phase der Verdrängung zu einer Dekompensation gekommen. Dr. S.(1) empfahl, ab Antragstellung folgende Schädigungsfolge anzuerkennen: Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung, ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten (Einzel-GdB von 30 bei Berücksichtigung der Haft, Einzel-GdB von 40 bei zusätzlicher Berücksichtigung der Zwangsadoption)
Die depressive Symptomatik sah Dr. S.(1) nicht als Haftfolge sondern als Folge der zahlreichen weiteren Belastungsfaktoren an, die das Leben der Klägerin über Jahren hinweg geprägt haben: • vor der Haft – Missbrauch durch einen Nachbarn in früher Kindheit, Vergewaltigung durch den Vater und einen früheren Lebensgefährten, nachfolgende Geburt eines behinderten Kindes mit ungeklärter Vaterschaft • zwischen den rehabilitierten Haftzeiten – Geburt eines weiteren Kindes, das möglicherweise aus einer Vergewaltigung durch Verhörbeamte hervorgegangen ist, und Zwangsadoption • nach der Haft – Zermürbungsmaßnahmen der Staatssicherheit, Tod des Bruders unter mysteriösen Umständen, Sorge für vier Kinder (darunter ein behindertes Kind), gewalttätige Übergriffe durch den Ehemann von 1977 bis 1991, Scheitern der beruflichen Selbstständigkeit im Jahr 1996 mit daraus resultierender hoher Schuldenlast, Autounfall im Jahr 1999 und erneuter Verlust des Arbeitsplatzes, zwei Suizidversuche (1986 und 2001), Wiederbegegnung mit der zwangsadoptierten Tochter 2005, krankheitsbedingte Belastungen (ab 2009 vor allem durch die Krebserkrankung), Suizidversuch einer weiteren Tochter, Drogenabhängigkeit und HIV-Infektion des Sohnes, zuletzt familiäre Streitigkeiten um die Enkelkinder
Mit Bescheid vom 22.11.2007 erkannte der Beklagte bei der Klägerin die Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung und ein ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten mit einem GdS von 30 als Haftfolge an. Auf den Widerspruch der Klägerin wurde noch ein lungenfachärztliches Kausalitätsgutachten eingeholt und auf Empfehlung der Gutachterin Frau Dr. R. mit Abhilfebescheid vom 08.10.2008 eine chronisch-obstruktive Atmwegserkrankung mit einem Verschlimmerungsanteil von 25 = 30 als weitere Haftfolge anerkannt. Zugleich wurde die besondere berufliche Betroffenheit festgestellt und ab 01.01.2006 eine Beschädigtenversorgung auf der Grundlage eines GdS von 60 gewährt.
Parallel zum Verwaltungsverfahren des Beklagten stellte die Klägerin einen Rentenantrag, auf den ihr mit Bescheid vom 22.02.2007 ebenfalls rückwirkend ab Januar 2006 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt wurde. Ein Antrag nach dem BerRehaG war ebenfalls erfolgreich.
Anfang des Jahres 2009 ertastete die Klägerin einen Knoten in der linken Brust, wartete jedoch mehrere Monate ab, bis sie einen Arzt aufsuchte und ließ sich – nachdem die Diagnose Brustkrebs gestellt war – erst durch intensive psychologischer Betreuung zu einem Eingriff bewegen. Nach der Operation am 19.08.2009 verließ sie die Klinik entgegen ärztlichem Rat vorzeitig und brach auch die anschließende Chemotherapie nach vier von sechs geplanten Behandlungsterminen ab.
Am 07.01.2010 stellte sie beim Beklagten einen Verschlimmerungsantrag und führte zur Begründung aus, dass sie aufgrund traumatischer Erfahrungen mit den Haftärzten eine Phobie gegenüber Ärzten und Krankenhäusern entwickelt habe. Im Zuge der Krebsbehandlung sei diese Symptomatik wieder verstärkt hervor getreten und führe dazu, dass sie dringend notwendige Behandlungen nicht oder nur mit großer Verzögerung durchführen lasse. Dies sei im Rahmen der psychischen Schädigungsfolgen erhöhend zu berücksichtigen.
Der Beklagte holte daraufhin eine Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie Dr. S.(2) ein, der zu der Einschätzung gelangte, dass der Brustkrebs haftunabhängig entstanden und die Ärztephobie nicht glaubhaft gemacht sei, da die Klägerin im Rahmen mehrerer Verwaltungsverfahren problemlos zahlreiche ärztliche Untersuchungen absolviert habe.
Mit Bescheid vom 22.03.2010 lehnte der Beklagte eine Neufeststellung ab.
Hiergegen wandte die Klägerin sich mit Widerspruch vom 07.04.2010 und machte geltend, dass Krebsoperation und Chemotherapie deutlich belastender gewesen seien als die versorgungsmedizinischen Untersuchungen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.08.2010 wies der Beklagte den Widerspruch im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Gründe des Ausgangsbescheides zurück.
Mit ihrer am 16.09.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin nunmehr ihr Begehren weiter.
Im Rahmen der medizinischen Sachverhaltsaufklärung hat die Kammer Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. G.(1) (Gynäkologie). Dr. P. (Pneumologie), Dr. T.-L. (Psychotherapie) und Prof. Dr. Z. (Praktischer Arzt) eingeholt.
Sodann hat die Kammer zu den bestehenden Schädigungsfolgen Beweis erhoben durch die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens, dass der Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Physikalische Medizin und Sportmedizin Prof. Dr. G.(2) nach ambulanter Untersuchung der Klägerin unter dem 05.11.2012 erstellt hat. Das Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, dass die psychischen Haftfolgen als Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung einzustufen und mit einem GdS von 40 zu bewerten seien. Die spätere Verschlimmerung im Zusammenhang mit dem Krebsleiden sei nicht haftbedingt. Unter Berücksichtigung des Lungenleidens ergebe sich ein Gesamt-GdS von 50. Mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 25.03.2013 hat Dr. G.(2) nochmals klargestellt, dass die nach 1990 eingetretenen Verschlimmerungen der Angsterkrankung durch andere Lebensereignisse bedingt und damit schädigungsunabhängig seien.
Zwischenzeitlich wurde wegen des Verdachts auf Darmkrebs erneut weitere Operation erforderlich, zu der die Klägerin sich erst nach über zwei Jahren und eingehender psychoonkologischer Begleitung durch den Zeugen Dr. B. entschließen konnte. Nach dem Eingriff, bei dem zwei gutartige Polypen diagnostiziert und entfernt wurden, hat die Klägerin die Klinik erneut vorzeitig verlassen.
Im mündlichen Verhandlungstermin am 09.01.2014 hat die Kammer sodann Beweis erhoben durch die zeugenschaftliche Vernehmung des Dr. B.
Auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts sind bei der Klägerin seit November 2010 (Bescheid vom 11.11.2010) ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G und B wegen folgender Leiden festgestellt: psychische Störung (Einzel-GdB 60) Erkrankung der Brust in Heilungsbewährung (Einzel-GdB 60) chronische Bronchitis (Einzel-GdB 50) Harnsäurestoffwechselstörung (Einzel-GdB von 20) Schilddrüsenfunktionsstörung (Einzel-GdB von 10) Fettleber (Einzel-GdB von 10) Diabetes mellitus, Polyneuropathie (Einzel-GdB von 10) Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10)
Die Klägerin trägt vor, Ihre gesundheitlichen Beschwerden seien von den Haftärzten grundsätzlich in zynischer Weise bagatellisiert worden. Bereits bei der Eingangsuntersuchung vier Wochen nach der Geburt ihrer zwangsadoptierten Tochter, habe der Arzt ihr nicht geglaubt, dass sie erst kurz zuvor ein Kind entbunden hatte. Dementsprechend sei auch keine Schwangerschaftsnachsorge erfolgt. Erst nach ca. drei Monaten sei sie einem Gynäkologen vorgestellt worden, der eine Behandlung jedoch abgelehnt habe. Auch im weiteren Verlauf der Haft habe sie oftmals vergeblich um ärztliche Hilfe gebeten. Bei einer Zahnbehandlung sei ihr dann einmal ein Zahn ohne Betäubung gezogen worden. Während eines Krankenhausaufenthalts unmittelbar im Anschluss an die Haft habe sich dann erstmals ihre Ärztephobie gezeigt. Sie habe das Krankenhaus seinerzeit vorzeitig und fluchtartig verlassen. Dieses Muster habe sich dann – wie in ihren DDR-Krankenakten dokumentiert sei – bei späteren stationären Behandlungen regelmäßig wiederholt. Aufgrund ihrer Phobie verschlimmerten sich ihre körperlichen Leiden inzwischen zusehends, da sie ärztliche Behandlungen – selbst wenn sie wie die Krebsoperation lebensnotwendig seien – meide oder hinausschiebe. So sei nicht nur die als Schädigungsfolge anerkannte Atemwegserkrankung deutlich progredient. Es bestehe auch der Verdacht auf ein erneutes Darmleiden. Zu den erforderlichen Untersuchungen könne sie sich jedoch nicht überwinden. Der Zeuge Dr. B. habe diesbezüglich auch bestätigt, dass ihre Angstsymptomatik außergewöhnlich und in dieser extremen Ausprägung nur auf die Haft zurück zu führen sei. Der Umstand, dass sie sich im Rahmen mehrerer Verwaltungsverfahren freiwillig habe begutachten lassen, widerspreche dem nicht. Denn zum einen seien diese Untersuchungstermine weit weniger belastend gewesen als die Krebsbehandlung und zum anderen habe sie auch nach den Gutachterterminen zuletzt regelmäßig seelische Abstürze erlebt. Der Einzel-GdS auf psychischem Gebiet, sei daher deutlich zu erhöhen.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 zu verurteilen, bei ihr eine Verschlimmerung der psychischen Folgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen und ab Antragstellung im Januar 2010 Versorgungsleistungen nach dem StrafRehaG i.V.m. dem BVG auf der Grundlage eines Grades der Schädigungsfolgen von 100 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, die mit der Krebserkrankung verstärkt hervor getretene Ärztephobie sei nicht kausal auf die Haftzeit, sondern auf die zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren im Leben der Klägerin zurück zu führen. Zudem fehle es weiterhin an einer hinreichenden Glaubhaftmachung, da die Klägerin sich auch für das hiesige Verfahren erneut ohne Schwierigkeiten einer ärztlichen Begutachtung gestellt habe. Aus dem von Prof. Dr. G.(2) empfohlenen Einzel-GdS von 40 für das psychische Leiden sei noch der Verschlimmerungsanteil von 10 heraus zu rechnen, den Dr. S.(1) auf die Verfolgungsmaßnahmen nach dem VwRehaG – insbesondere die Zwangsadoption – zurück geführt habe. Insgesamt ergebe sich daher für den psychischen Bereich weiterhin ein GdS von 30. Die Verschlechterung des Lungenleidens sei erst nach dem Jahr 2008 eingetreten und ebenfalls nicht kausal auf die Haft zurück zu führen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakten – insbesondere auf die Sitzungsniederschrift vom 09.01.2014 – sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und nach Maßgabe des Tenors auch teilweise begründet.
Der Bescheid vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010, mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, eine Verschlimmerung der psychischen Folgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Klägerin hat ab ihrem Neufeststellungsantrag im Januar 2010 Anspruch auf die Anerkennung eines GdS von 50 für die psychischen Haftfolgen und auf die Gewährung von Versorgungsleistungen nach einem Gesamt-GdS von 80 aus § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. §§ 21 Abs. 1 Satz 1 StrafRehaG, § 30 BVG und der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV).
Gemäß § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Vorliegend ist in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vom 08.10.2008 – einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – vorgelegen haben, durch die Verschlimmerung des psychischen Leidens eine wesentliche Änderung im Sinne der vorgenannten Norm eingetreten, die eine Neufeststellung des GdS rechtfertigt.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, d.h. der Adressat eines Rehabilitierungsbeschlusses nach § 12 StrRehaG, der infolge der rehabilitierten Freiheitsentziehungen eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes.
Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1).
Bei der Beurteilung des GdS sind bis zum 31. Dezember 2008 die Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) und ab dem 01. Januar 2009 die Anlage 2 - Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2412, zu beachten.
Während der schädigende Vorgang, die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung nachgewiesen sein müssen, genügt nach § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (vgl. auch § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Sie ist gemäß den AHP, zuletzt Teil C Nr. 36 Abs. 2 AHP 2008 (Seite 148), und in Teil C Nr. 1 b) der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 104) gegeben, wenn nach Abwägung aller maßgeblichen Umstände und nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze ist die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen (und wie Ursachen zu werten), wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs reicht hingegen regelmäßig nicht aus. Kommt einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechts.
Die Klägerin gehört gemäß dem Rehabilitierungsbeschluss des Landgerichts Cottbus vom 07.02.1994 für folgende Haftzeiten und Verwaltungsmaßnahmen unstreitig zu dem nach § 21 Abs. 1 StrRehaG berechtigten Personenkreis: 24.04.1971 bis 10.05.1971 Untersuchungshaft in der Haftanstalt C. 31.01.1972 bis 29.11.1972 Strafhaft in der Haftanstalt H.
Als Schädigungsfolgen der Haft wurden mit dem Bescheid vom 08.10.2008 folgende Leiden anerkannt: • Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung, ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten (Einzel-GdS von 30) • chronisch-obstruktive Atmwegserkrankung (Einzel-GdS von 25 = 30)
Hinsichtlich der chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung ist nach Überzeugung der Kammer seit der Erstantragstellung keine wesentliche Änderung eingetreten. Insofern folgt das Gericht nach eigener Prüfung und Bewertung den überzeugenden Ausführungen der Frau Dr. R. in ihren lungenfachärztlichen Kausalitätsgutachten vom 19.05.2008 und 23.09.2011. Dr. R. erläutert schlüssig und nachvollziehbar (in ihrem zweiten Gutachten unter Berücksichtigung der im hiesigen Verfahren eingeholten Befundberichte), dass das Lungenleiden auch nach dem Hinzutreten einer asthmatischen Komponente weiterhin mit einem GdB von 50 zu bewerten ist und jeweils hälftig auf die belastenden Haftbedingungen und haftunabhängige Faktoren (insbesondere die Adipositas und den Nikotinabusus) zurück geht. Für die Funktionsbeeinträchtigung der Lunge ist daher weiterhin von einem GdS von 25 = 30 auszugehen.
Bei den psychischen Schädigungsfolgen ist dagegen seit der letzten Feststellung im Bescheid vom 08.10.2008 eine wesentliche Änderung in Form einer Verschlimmerung eingetreten.
Die Kammer hat die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin seit ca. Februar 2009 unter einer verstärkten Phobie gegen Ärzte, medizinische Behandlungen und Krankenhausaufenthalte leidet, die mit der nach § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG erforderlichen Wahrscheinlichkeit wesentlich durch die Hafterlebnisse mitverursacht wurde.
Die Situationsbeschreibung des Mammographiescreenings vom 26.04.2010 und die ärztliche Stellungnahme des V. Klinikums vom 27.04.2010 schildern anschaulich und detailliert, dass die Klägerin sich selbst zu lebensnotwendigen ärztlichen Behandlungen nur nach eingehender psychologischer Betreuung und mit großer Verzögerung überwinden kann. Die Klägerin hatte sich, nachdem ihr im Frühjahr 2009 ein Knoten in ihrer linken Brust aufgefallen war, erst Monate später zu einem Screening entschlossen. Diagnostiziert wurde ein Mammakarzinom. Die dringend erforderliche Krebsoperation wagte sie ebenfalls nur mit Verzögerung und intensiver psychologischer Begleitung. Danach verließ sie das Krankenhaus vorzeitig gegen ärztlichen Rat und brach auch die Chemotherapie bereits nach vier von sechs Terminen ab. Der langjährige Hausarzt Dr. Z. bestätigt in seinen Befundberichten vom 01.05.2010 und 10.05.2011 ebenfalls, dass es der Klägerin nur sehr schwer gelinge, zu Ärzten Vertrauen zu fassen. Sei bei einer geplanten Konsultation der ihr vertraute Arzt nicht anwesend, breche sie die Behandlung ab. Dieses im Zuge der Krebserkrankung verstärkt hervorgetretene Misstrauen gegenüber ihr unbekanntem medizinischem Personal habe bereits mehrfach notwendige Diagnostik und Therapien signifikant verzögert. Entsprechendes teilt der behandelnde Psychotherapeut Dr. T.-L. in seinen Befundberichten vom 03.05.2011 und 19.02.2013 mit (hohes Misstrauenspotential vor allem Ärzten gegenüber, Vermeidungsverhalten, Angst vor Auslieferungs- und Ohnmachtssituationen, Retraumatisierungen im Zusammenhang mit der Krebserkrankung).
Das geschilderte Verhaltensmuster zeigte sich erneut, als bei der Klägerin im Januar 2011 ein Darmleiden auftrat, das aus onkologischen Gründen ebenfalls einer dringenden Operation bedurfte. Hier gelang es trotz engmaschiger psychologischer Begleitung – insbesondere durch den Zeugen Dr. B. – erst im April 2013, die Klägerin zu dem erforderlichen Eingriff zu bewegen. Nach der Operation verließ sie ausweislich der Bescheinigung des V. Klinikum vom 17.04.2013 wiederum vorzeitig die Klinik.
Nach alledem ist die Kammer überzeugt, dass bei der Klägerin tatsächlich eine massive Phobie gegen medizinisches Personal, ärztliche Behandlungen und Klinikaufenthalte vorliegt. Dem steht – anders als der Beklagte meint – auch nicht entgegen, dass sich diese Angstsymptomatik anlässlich der gutachterlichen Untersuchungen in den renten- und versorgungsrechtlichen Verwaltungsverfahren nicht gezeigt hat. Denn die Befundberichte der behandelnden Ärzte belegen eine Verschlimmerung der Angstsymptomatik erst ab 2009, d.h. zu einem Zeitpunkt, als die Begutachtungen in den Verwaltungsverfahren bereits weitgehend abgeschlossen waren. Aktenkundig sind für den hier streitigen Zeitraum nur noch zwei Pflegegutachten mit Untersuchungen im häuslichen Umfeld und die Begutachtung durch Prof. Dr. G.(2) im hiesigen Verfahren. Ein von der Kammer geplantes weiteres Gutachten hat die Klägerin mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich psychisch nicht dazu in der Lage sehe. Zudem glaubt die Kammer der Klägerin, dass sie die relativ kurzen, überwiegend gesprächsbasierten Gutachtertermine, die teilweise sogar im vertrauten Umfeld stattfanden, weit weniger belastend empfunden hat, als die ärztlichen Behandlungen im Zusammenhang mit ihrer Brustkrebs- und Darmerkrankung. Denn diese Behandlungen umfassten umfangreiche (Apparate)-Diagnostik, zwei Operationen unter Vollnarkose mit ungewissem Ausgang und mehrere Klinikaufenthalte.
Die Kammer hat – insbesondere aufgrund der in jeder Hinsicht überzeugenden Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. B. in der mündlichen Verhandlung am 09.01.2014 – auch keine Zweifel daran, dass die geschilderte Ärztephobie der Klägerin überwiegend wahrscheinlich durch die rehabilitierten Haftzeiten mitverursacht wurde. Dr. B., der seit 34 Jahren als Arzt für Urologie und Sozialmedizin tätig ist und in Zusammenarbeit mit der Berliner Krebsgesellschaft Krebspatienten psychoonkologisch begleitet, hat aus seiner langjährigen ärztlichen Erfahrung heraus ausführlich, schlüssig und anschaulich bekundet, dass die Angstsymptomatik der Klägerin nach Art und Umgang außergewöhnlich und in seinem Patientenstamm einzigartig sei. Zwar komme es nicht selten vor, dass Krebspatienten sich erst mit zeitlicher Verzögerung zu den notwendigen Eingriffen entschlössen. Üblicherweise beschränke sich diese Zeitspanne jedoch auf drei bis fünf Wochen. Auch genügten im Regelfall ein bis zwei beratende Gespräche, um den Betroffenen zu motivieren, während bei der Klägerin 28 Kontakte erforderlich gewesen seien. Aus seiner ärztlichen Erfahrung heraus führe er diese außergewöhnliche Angst vor Situationen mit Kontrollverlust ganz überwiegend auf das Hafterleben zurück, da gerade diese biographische Komponente die Klägerin von seinen anderen Patienten unterscheide. Befragt nach den Auswirkungen der zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren gab Dr. B. ebenfalls überzeugend an, dass sicherlich auch diese Belastungen nicht spurlos an der Klägerin vorüber gegangenen seien. Er habe jedoch mehrfach Krebspatientinnen mit ähnlichen Belastungsfaktoren (insbesondere Opfer von häuslicher Gewalt) aber ohne Hafthintergrund begleitet und in diesen Fällen nie ein vergleichbar extremes Angstsyndrom festgestellt. Bei der Entwicklung dieses Krankheitsbildes müsse daher das Hafterleben eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den behandelnden Diplom-Psychologen Dr. T.-L., der die Klägerin bereits vor der Krebserkrankung begleitet hat und über langjährige Erfahrungen gerade in der traumatologischen Betreuung von DDR-Haftopfern verfügt. Schließlich drängt sich in Anbetracht der Situationsbeschreibung des Mammographiescreenings aus dem Jahr 2009 auch laienhaft die Parallele zwischen dem Hafterleben und den mit der Krebsbehandlung einher gehenden Untersuchungen auf. So schildert die behandelnde Radiologin anschaulich, dass die Klägerin u.a. große Schwierigkeiten hatte, sich für eine Ultraschalluntersuchung allein in einem abgedunkelten Raum aufzuhalten. Es erscheint der Kammer daher insgesamt schlüssig, dass die Aussicht, sich zur Krebstherapie verstärkt in unkontrollierbare Behandlungssituationen begeben zu müssen, für die Klägerin gerade aufgrund ihrer Hafterlebnisse besonders belastend war und daher zu einem erhöhten Meidungsverhalten geführt hat.
Die Kammer verkennt nicht, dass der gerichtlich bestellte Gutachter Prof. Dr. G.(2) in seinem Gutachten vom 05.11.2012 und der ergänzenden Stellungnahme vom 25.03.2013 eine Kausalität zwischen den rehabilitierten Haftzeiten und der Verschlimmerung des psychischen Leidens verneint. Er führt die Verschlechterung ausschließlich auf haftunabhängige Faktoren – insbesondere die Krebserkrankung als solche – zurück. Die Kammer vermag dieser Einschätzung jedoch nicht zu folgen. Denn Prof. Dr. G.(2) gründet seine Kausalitätserwägungen ausdrücklich auf die Prämisse, dass das anfängliche Ausmaß eines haftbedingten Schadens im weiteren Verlauf des Lebens grundsätzlich nicht mehr zunehmen könne und vorliegend auch keine Anhaltspunkte für eine Retraumatisierung erkennbar seien. Hierbei übersieht Dr. G.(2) jedoch einen entscheidenden Punkt: Die aus den DDR-Krankenakten ersichtliche – ursprünglich unstreitig haftbedingte – Ärztephobie (vorzeitiger Abbruch von Krankhausaufenthalten entgegen ärztlichen Rat in den Jahren 1975 und 1984 sowie Absage eines Kurklinikaufenthalts in Bad S. im Jahr 1986) hatte sich zwischenzeitlich gebessert und besaß im Zeitpunkt der Erstantragstellung kein GdS-relevantes Ausmaß mehr. Das Gutachten des Dr. S.(1) vom 27.09.2007 erwähnt insofern nur eine skeptische Einstellung gegenüber Medikamenten, aber keine Ärztephobie. Dementsprechend war diese Symptomatik auch nicht in die GdS-Bewertung aus dem Jahr 2008 eingeflossen. Das ab 2009 dokumentierte Wiederauftreten der Ärztephobie ist mithin als nachträgliche (erneute) Verschlechterung durchaus geeignet, sich erhöhend auf die GdS-Bemessung auszuwirken. Hinzu kommt, dass die Kausalitätserwägungen des Gutachters sich in allgemein gehaltenen Ausführungen erschöpfen und insbesondere jegliche Auseinandersetzung mit der nahe liegenden Parallele zwischen dem Ausgeliefertsein in einer Haft- und einer Krankenhaussituation sowie der damit möglicherweise einhergehenden Retraumatisierung der Klägerin vermissen lassen. Auch erläutert Prof. Dr. G.(2) nicht ansatzweise konkret, welche alternativen Faktoren seiner Auffassung nach für das Wiederauftreten der Ärztephobie maßgeblich gewesen sein sollen und warum die Haft als zumindest gleichwertige Mitursache ausscheidet.
Vor diesem Hintergrund folgt die Kammer der deutlich schlüssigeren Einschätzung des Dr. T.-L. und des Zeugen Dr. B. Beide verfügen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen in der Psychoonkologie einerseits und der psychotherapeutischen Behandlung von DDR-Haftopfern andererseits auch über besondere Expertise darin, die Auswirkungen des Hafterlebens und der haftunabhängigen Faktoren – d.h. der Krebserkrankung als solcher und der weiteren haftfremden biographischen Belastungen – auf das psychische Krankheitsbild der Klägerin differenziert zu bewerten.
Nach alledem sieht die Kammer es als erwiesen an, dass die rehabilitierten Haftzeiten eine wesentliche Mitursache für die seit Frühjahr 2009 verschlimmerte Ärztephobie darstellen und die psychischen Haftfolgen daher neu bewertet werden müssen.
Die Bewertung psychischer Haftfolgen beurteilt sich nach Nr. 3.7 VersMedV. Danach sind Folgen psychischer Traumen wie folgt zu einzustufen: Für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen beträgt der GdS 0 bis 20. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten. Für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50 bis 70, für solche mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100.
Treffen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen aufeinander, ist der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen, wobei sich nach der Anlage zu § 2 VersMedV, Teil A, Abschnitt 3, Seite 10 bzw. nach den AHP Nr. 19, Abschnitt 1 die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, das heißt insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdB verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken. Dabei ist gemäß der vorgenannten Regelung, Buchstabe d) Absatz ee) bzw. AHP Nr. 19, Abschnitt 3 zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Einzel-GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen. Darüber hinaus ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderungen zu schließen.
Hiervon ausgehend hält die Kammer es für angemessen, den Einzel-GdS für das psychische Leiden von derzeit 30 auf 50 zu erhöhen. Die wieder aufgetretene Ärztephobie betrifft zwar nur einen abgegrenzten Bereich des täglichen Lebens. Indessen ist gerade dieser Bereich für die Klägerin, die sich hinsichtlich des Krebsleidens noch in Heilungsbewährung befindet, von existenzieller Bedeutung. Denn aufgrund des phobiebedingten Meidungsverhaltens besteht das Risiko, dass die lebensnotwendige ärztliche Behandlungen unterlässt. Durch diese lebensbedrohende Komponente erhält die psychische Schädigungsfolge eine neue Qualität, die eine Einordnung in den Bewertungsrahmen der schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdS 50 -70) rechtfertigt. Von diesem Rahmen ausgehend erscheint für den Bereich des sozialen Entschädigungsrechts der untere Spannenwert von 50 angemessen. Einer weitergehenden Erhöhung steht entgegen, dass die Hafterlebnisse zwar eine wesentliche Mitursache, nicht jedoch die alleinige Ursache für das psychische Krankheitsbild der Klägerin bilden und angesichts der zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren auch nicht davon auszugehen ist, dass letztere völlig hinter dem Hafterleben zurücktreten. Zudem müssen die psychischen Folgen der Verfolgungsmaßnahmen nach dem VwRehaG (insbesondere die Zwangsadoption) bei der Bemessung des GdS außer Betracht bleiben, da der Antrag nach dem VwRehaG bestandskräftig abgelehnt wurde.
Der Einzel-GdS für die psychischen Haftfolgen war sodann – wie bisher – aufgrund des Lungenleidens um 20 und aufgrund der bereits anerkannten besonderen beruflichen Betroffenheit der Klägerin gemäß § 30 Abs. 2 BVG um weitere 10 zu erhöhen.
Darüber hinaus gehende Schädigungsfolgen sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts festgestellten weiteren Funktionsbeeinträchtigungen (Harnsäurestoffwechselstörung, Schilddrüsenfunktionsstörung, Fettleber, Diabetes mellitus, Polyneuropathie, Funktionsstörung der Wirbelsäule) durch die Haft verursacht wurden.
Nach alledem war der Bescheid vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 abzuändern und der Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zu verurteilen, bei der Klägerin eine Verschlimmerung der psychischen Schädigungsfolgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen und ab Antragstellung im Januar 2010 Versorgungsleistungen nach dem StrafRehaG i.V.m. dem BVG auf der Grundlage eines Gesamt-Grades der Schädigungsfolgen von 80 zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin eine GdS-Erhöhung von 60 auf 100 angestrebt und mit diesem Begehren hälftig Erfolg hatte.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Erhöhung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) i.V.m. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) für rehabilitierte Haftzeiten in der DDR.
Die Klägerin befand sich vom 24.04.1971 bis zum 10.05.1971 in Untersuchungshaft in der Haftanstalt C. und vom 31.01.1972 bis zum 29.11.1972 in Strafhaft in der Haftanstalt H. Mit Beschluss des Landgerichts Cottbus vom 07.02.1994 wurden die vorgenannten Haftzeiten nach dem StrafRehaG rehabilitiert. Während der schwangerschaftsbedingten Haftunterbrechung brachte die Klägerin – seinerzeit bereits Mutter zweier Kinder – am 04.01.1972 im Krankenhaus Hoyerswerda eine Tochter zur Welt, die sie auf Druck der Staatssicherheit und des Jugendamts unmittelbar zur Adoption frei gab.
Am 23.01.2006 stellte die Klägerin erstmals einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem StrRehaG und machte geltend, die psychischen und physischen Belastungen der Haftzeit – insbesondere die mangelnde ärztliche Versorgung nach der Entbindung, eine dreiwöchige Einzelhaft in einem feuchtkalten Keller und die Zwangsadoption ihres neugeborenen Kindes – hätten zu dauerhaften Folgeschäden geführt. Sie leide seither unter Schlafstörungen, Angstzuständen, Panikattacken, krampfartigen Schmerzen, Asthma und Albträumen. Die Symptomatik sei über Jahre hinweg einigermaßen beherrschbar gewesen, habe sich jedoch nach der Wiederbegegnung mit ihrer zwangsadoptierten Tochter verschlechtert. Sie habe daraufhin psychologische Hilfe bei der Beratungsstelle "G." in Anspruch genommen und dort auch von den Versorgungsleistungen des BVG erfahren. Einen zugleich beim Beklagten gestellten Antrag nach dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (VwRehaG) nahm die Klägerin zurück. Ein später in C. gestellter Antrag nach dem VwRehaG wurde mit Bescheid vom 20.03.2007 – inzwischen bestandskräftig – abgelehnt.
Der Beklagte veranlasste ein psychiatrisches Kausalitätsgutachten, das der Facharzt für Psychiatrie Dr. S.(1) nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 27.09.2007 erstellte. Dr. S.(1) gelangte zu der Einschätzung, dass die Klägerin nach der Haftentlassung die Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt habe. Durch die Wiederbegegnung mit ihrer zwangsadoptierten Tochter im Jahr 2005 sei es dann nach einer längeren Phase der Verdrängung zu einer Dekompensation gekommen. Dr. S.(1) empfahl, ab Antragstellung folgende Schädigungsfolge anzuerkennen: Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung, ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten (Einzel-GdB von 30 bei Berücksichtigung der Haft, Einzel-GdB von 40 bei zusätzlicher Berücksichtigung der Zwangsadoption)
Die depressive Symptomatik sah Dr. S.(1) nicht als Haftfolge sondern als Folge der zahlreichen weiteren Belastungsfaktoren an, die das Leben der Klägerin über Jahren hinweg geprägt haben: • vor der Haft – Missbrauch durch einen Nachbarn in früher Kindheit, Vergewaltigung durch den Vater und einen früheren Lebensgefährten, nachfolgende Geburt eines behinderten Kindes mit ungeklärter Vaterschaft • zwischen den rehabilitierten Haftzeiten – Geburt eines weiteren Kindes, das möglicherweise aus einer Vergewaltigung durch Verhörbeamte hervorgegangen ist, und Zwangsadoption • nach der Haft – Zermürbungsmaßnahmen der Staatssicherheit, Tod des Bruders unter mysteriösen Umständen, Sorge für vier Kinder (darunter ein behindertes Kind), gewalttätige Übergriffe durch den Ehemann von 1977 bis 1991, Scheitern der beruflichen Selbstständigkeit im Jahr 1996 mit daraus resultierender hoher Schuldenlast, Autounfall im Jahr 1999 und erneuter Verlust des Arbeitsplatzes, zwei Suizidversuche (1986 und 2001), Wiederbegegnung mit der zwangsadoptierten Tochter 2005, krankheitsbedingte Belastungen (ab 2009 vor allem durch die Krebserkrankung), Suizidversuch einer weiteren Tochter, Drogenabhängigkeit und HIV-Infektion des Sohnes, zuletzt familiäre Streitigkeiten um die Enkelkinder
Mit Bescheid vom 22.11.2007 erkannte der Beklagte bei der Klägerin die Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung und ein ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten mit einem GdS von 30 als Haftfolge an. Auf den Widerspruch der Klägerin wurde noch ein lungenfachärztliches Kausalitätsgutachten eingeholt und auf Empfehlung der Gutachterin Frau Dr. R. mit Abhilfebescheid vom 08.10.2008 eine chronisch-obstruktive Atmwegserkrankung mit einem Verschlimmerungsanteil von 25 = 30 als weitere Haftfolge anerkannt. Zugleich wurde die besondere berufliche Betroffenheit festgestellt und ab 01.01.2006 eine Beschädigtenversorgung auf der Grundlage eines GdS von 60 gewährt.
Parallel zum Verwaltungsverfahren des Beklagten stellte die Klägerin einen Rentenantrag, auf den ihr mit Bescheid vom 22.02.2007 ebenfalls rückwirkend ab Januar 2006 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung gewährt wurde. Ein Antrag nach dem BerRehaG war ebenfalls erfolgreich.
Anfang des Jahres 2009 ertastete die Klägerin einen Knoten in der linken Brust, wartete jedoch mehrere Monate ab, bis sie einen Arzt aufsuchte und ließ sich – nachdem die Diagnose Brustkrebs gestellt war – erst durch intensive psychologischer Betreuung zu einem Eingriff bewegen. Nach der Operation am 19.08.2009 verließ sie die Klinik entgegen ärztlichem Rat vorzeitig und brach auch die anschließende Chemotherapie nach vier von sechs geplanten Behandlungsterminen ab.
Am 07.01.2010 stellte sie beim Beklagten einen Verschlimmerungsantrag und führte zur Begründung aus, dass sie aufgrund traumatischer Erfahrungen mit den Haftärzten eine Phobie gegenüber Ärzten und Krankenhäusern entwickelt habe. Im Zuge der Krebsbehandlung sei diese Symptomatik wieder verstärkt hervor getreten und führe dazu, dass sie dringend notwendige Behandlungen nicht oder nur mit großer Verzögerung durchführen lasse. Dies sei im Rahmen der psychischen Schädigungsfolgen erhöhend zu berücksichtigen.
Der Beklagte holte daraufhin eine Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie Dr. S.(2) ein, der zu der Einschätzung gelangte, dass der Brustkrebs haftunabhängig entstanden und die Ärztephobie nicht glaubhaft gemacht sei, da die Klägerin im Rahmen mehrerer Verwaltungsverfahren problemlos zahlreiche ärztliche Untersuchungen absolviert habe.
Mit Bescheid vom 22.03.2010 lehnte der Beklagte eine Neufeststellung ab.
Hiergegen wandte die Klägerin sich mit Widerspruch vom 07.04.2010 und machte geltend, dass Krebsoperation und Chemotherapie deutlich belastender gewesen seien als die versorgungsmedizinischen Untersuchungen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 16.08.2010 wies der Beklagte den Widerspruch im Wesentlichen unter Bezugnahme auf die Gründe des Ausgangsbescheides zurück.
Mit ihrer am 16.09.2010 erhobenen Klage verfolgt die Klägerin nunmehr ihr Begehren weiter.
Im Rahmen der medizinischen Sachverhaltsaufklärung hat die Kammer Befundberichte der behandelnden Ärzte Dr. G.(1) (Gynäkologie). Dr. P. (Pneumologie), Dr. T.-L. (Psychotherapie) und Prof. Dr. Z. (Praktischer Arzt) eingeholt.
Sodann hat die Kammer zu den bestehenden Schädigungsfolgen Beweis erhoben durch die Einholung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens, dass der Arzt für Neurologie, Psychiatrie, Physikalische Medizin und Sportmedizin Prof. Dr. G.(2) nach ambulanter Untersuchung der Klägerin unter dem 05.11.2012 erstellt hat. Das Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, dass die psychischen Haftfolgen als Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung einzustufen und mit einem GdS von 40 zu bewerten seien. Die spätere Verschlimmerung im Zusammenhang mit dem Krebsleiden sei nicht haftbedingt. Unter Berücksichtigung des Lungenleidens ergebe sich ein Gesamt-GdS von 50. Mit ergänzender gutachterlicher Stellungnahme vom 25.03.2013 hat Dr. G.(2) nochmals klargestellt, dass die nach 1990 eingetretenen Verschlimmerungen der Angsterkrankung durch andere Lebensereignisse bedingt und damit schädigungsunabhängig seien.
Zwischenzeitlich wurde wegen des Verdachts auf Darmkrebs erneut weitere Operation erforderlich, zu der die Klägerin sich erst nach über zwei Jahren und eingehender psychoonkologischer Begleitung durch den Zeugen Dr. B. entschließen konnte. Nach dem Eingriff, bei dem zwei gutartige Polypen diagnostiziert und entfernt wurden, hat die Klägerin die Klinik erneut vorzeitig verlassen.
Im mündlichen Verhandlungstermin am 09.01.2014 hat die Kammer sodann Beweis erhoben durch die zeugenschaftliche Vernehmung des Dr. B.
Auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts sind bei der Klägerin seit November 2010 (Bescheid vom 11.11.2010) ein Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen G und B wegen folgender Leiden festgestellt: psychische Störung (Einzel-GdB 60) Erkrankung der Brust in Heilungsbewährung (Einzel-GdB 60) chronische Bronchitis (Einzel-GdB 50) Harnsäurestoffwechselstörung (Einzel-GdB von 20) Schilddrüsenfunktionsstörung (Einzel-GdB von 10) Fettleber (Einzel-GdB von 10) Diabetes mellitus, Polyneuropathie (Einzel-GdB von 10) Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10)
Die Klägerin trägt vor, Ihre gesundheitlichen Beschwerden seien von den Haftärzten grundsätzlich in zynischer Weise bagatellisiert worden. Bereits bei der Eingangsuntersuchung vier Wochen nach der Geburt ihrer zwangsadoptierten Tochter, habe der Arzt ihr nicht geglaubt, dass sie erst kurz zuvor ein Kind entbunden hatte. Dementsprechend sei auch keine Schwangerschaftsnachsorge erfolgt. Erst nach ca. drei Monaten sei sie einem Gynäkologen vorgestellt worden, der eine Behandlung jedoch abgelehnt habe. Auch im weiteren Verlauf der Haft habe sie oftmals vergeblich um ärztliche Hilfe gebeten. Bei einer Zahnbehandlung sei ihr dann einmal ein Zahn ohne Betäubung gezogen worden. Während eines Krankenhausaufenthalts unmittelbar im Anschluss an die Haft habe sich dann erstmals ihre Ärztephobie gezeigt. Sie habe das Krankenhaus seinerzeit vorzeitig und fluchtartig verlassen. Dieses Muster habe sich dann – wie in ihren DDR-Krankenakten dokumentiert sei – bei späteren stationären Behandlungen regelmäßig wiederholt. Aufgrund ihrer Phobie verschlimmerten sich ihre körperlichen Leiden inzwischen zusehends, da sie ärztliche Behandlungen – selbst wenn sie wie die Krebsoperation lebensnotwendig seien – meide oder hinausschiebe. So sei nicht nur die als Schädigungsfolge anerkannte Atemwegserkrankung deutlich progredient. Es bestehe auch der Verdacht auf ein erneutes Darmleiden. Zu den erforderlichen Untersuchungen könne sie sich jedoch nicht überwinden. Der Zeuge Dr. B. habe diesbezüglich auch bestätigt, dass ihre Angstsymptomatik außergewöhnlich und in dieser extremen Ausprägung nur auf die Haft zurück zu führen sei. Der Umstand, dass sie sich im Rahmen mehrerer Verwaltungsverfahren freiwillig habe begutachten lassen, widerspreche dem nicht. Denn zum einen seien diese Untersuchungstermine weit weniger belastend gewesen als die Krebsbehandlung und zum anderen habe sie auch nach den Gutachterterminen zuletzt regelmäßig seelische Abstürze erlebt. Der Einzel-GdS auf psychischem Gebiet, sei daher deutlich zu erhöhen.
Die Klägerin beantragt, den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 zu verurteilen, bei ihr eine Verschlimmerung der psychischen Folgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen und ab Antragstellung im Januar 2010 Versorgungsleistungen nach dem StrafRehaG i.V.m. dem BVG auf der Grundlage eines Grades der Schädigungsfolgen von 100 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte trägt vor, die mit der Krebserkrankung verstärkt hervor getretene Ärztephobie sei nicht kausal auf die Haftzeit, sondern auf die zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren im Leben der Klägerin zurück zu führen. Zudem fehle es weiterhin an einer hinreichenden Glaubhaftmachung, da die Klägerin sich auch für das hiesige Verfahren erneut ohne Schwierigkeiten einer ärztlichen Begutachtung gestellt habe. Aus dem von Prof. Dr. G.(2) empfohlenen Einzel-GdS von 40 für das psychische Leiden sei noch der Verschlimmerungsanteil von 10 heraus zu rechnen, den Dr. S.(1) auf die Verfolgungsmaßnahmen nach dem VwRehaG – insbesondere die Zwangsadoption – zurück geführt habe. Insgesamt ergebe sich daher für den psychischen Bereich weiterhin ein GdS von 30. Die Verschlechterung des Lungenleidens sei erst nach dem Jahr 2008 eingetreten und ebenfalls nicht kausal auf die Haft zurück zu führen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands sowie zum Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Gerichtsakten – insbesondere auf die Sitzungsniederschrift vom 09.01.2014 – sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und nach Maßgabe des Tenors auch teilweise begründet.
Der Bescheid vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010, mit dem der Beklagte es abgelehnt hat, eine Verschlimmerung der psychischen Folgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Die Klägerin hat ab ihrem Neufeststellungsantrag im Januar 2010 Anspruch auf die Anerkennung eines GdS von 50 für die psychischen Haftfolgen und auf die Gewährung von Versorgungsleistungen nach einem Gesamt-GdS von 80 aus § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. §§ 21 Abs. 1 Satz 1 StrafRehaG, § 30 BVG und der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV).
Gemäß § 48 Abs. 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.
Vorliegend ist in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Bescheides vom 08.10.2008 – einem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – vorgelegen haben, durch die Verschlimmerung des psychischen Leidens eine wesentliche Änderung im Sinne der vorgenannten Norm eingetreten, die eine Neufeststellung des GdS rechtfertigt.
Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, d.h. der Adressat eines Rehabilitierungsbeschlusses nach § 12 StrRehaG, der infolge der rehabilitierten Freiheitsentziehungen eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes.
Nach § 30 Abs. 1 BVG ist der Grad der Schädigungsfolgen (GdS) nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (Satz 1).
Bei der Beurteilung des GdS sind bis zum 31. Dezember 2008 die Anhaltspunkte für die Ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) und ab dem 01. Januar 2009 die Anlage 2 - Versorgungsmedizinische Grundsätze (VG) zu § 2 der Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV) vom 10. Dezember 2008, BGBl. I S. 2412, zu beachten.
Während der schädigende Vorgang, die gesundheitliche Schädigung und die zu beurteilende Gesundheitsstörung nachgewiesen sein müssen, genügt nach § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (vgl. auch § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG). Sie ist gemäß den AHP, zuletzt Teil C Nr. 36 Abs. 2 AHP 2008 (Seite 148), und in Teil C Nr. 1 b) der Anlage zu § 2 VersMedV (Seite 104) gegeben, wenn nach Abwägung aller maßgeblichen Umstände und nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht. Ursache im Sinne der Versorgungsgesetze ist die Bedingung im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, sind sie versorgungsrechtlich nur dann nebeneinanderstehende Mitursachen (und wie Ursachen zu werten), wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges annähernd gleichwertig sind. Die bloße Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs reicht hingegen regelmäßig nicht aus. Kommt einem der Umstände gegenüber den anderen eine überragende Bedeutung zu, ist dieser Umstand allein Ursache im Sinne des Versorgungsrechts.
Die Klägerin gehört gemäß dem Rehabilitierungsbeschluss des Landgerichts Cottbus vom 07.02.1994 für folgende Haftzeiten und Verwaltungsmaßnahmen unstreitig zu dem nach § 21 Abs. 1 StrRehaG berechtigten Personenkreis: 24.04.1971 bis 10.05.1971 Untersuchungshaft in der Haftanstalt C. 31.01.1972 bis 29.11.1972 Strafhaft in der Haftanstalt H.
Als Schädigungsfolgen der Haft wurden mit dem Bescheid vom 08.10.2008 folgende Leiden anerkannt: • Teilsymptomatik einer posttraumatischen Belastungsstörung, ängstlich-depressives Syndrom mit agoraphobischem und klaustrophobischem Meidungsverhalten (Einzel-GdS von 30) • chronisch-obstruktive Atmwegserkrankung (Einzel-GdS von 25 = 30)
Hinsichtlich der chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung ist nach Überzeugung der Kammer seit der Erstantragstellung keine wesentliche Änderung eingetreten. Insofern folgt das Gericht nach eigener Prüfung und Bewertung den überzeugenden Ausführungen der Frau Dr. R. in ihren lungenfachärztlichen Kausalitätsgutachten vom 19.05.2008 und 23.09.2011. Dr. R. erläutert schlüssig und nachvollziehbar (in ihrem zweiten Gutachten unter Berücksichtigung der im hiesigen Verfahren eingeholten Befundberichte), dass das Lungenleiden auch nach dem Hinzutreten einer asthmatischen Komponente weiterhin mit einem GdB von 50 zu bewerten ist und jeweils hälftig auf die belastenden Haftbedingungen und haftunabhängige Faktoren (insbesondere die Adipositas und den Nikotinabusus) zurück geht. Für die Funktionsbeeinträchtigung der Lunge ist daher weiterhin von einem GdS von 25 = 30 auszugehen.
Bei den psychischen Schädigungsfolgen ist dagegen seit der letzten Feststellung im Bescheid vom 08.10.2008 eine wesentliche Änderung in Form einer Verschlimmerung eingetreten.
Die Kammer hat die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin seit ca. Februar 2009 unter einer verstärkten Phobie gegen Ärzte, medizinische Behandlungen und Krankenhausaufenthalte leidet, die mit der nach § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG erforderlichen Wahrscheinlichkeit wesentlich durch die Hafterlebnisse mitverursacht wurde.
Die Situationsbeschreibung des Mammographiescreenings vom 26.04.2010 und die ärztliche Stellungnahme des V. Klinikums vom 27.04.2010 schildern anschaulich und detailliert, dass die Klägerin sich selbst zu lebensnotwendigen ärztlichen Behandlungen nur nach eingehender psychologischer Betreuung und mit großer Verzögerung überwinden kann. Die Klägerin hatte sich, nachdem ihr im Frühjahr 2009 ein Knoten in ihrer linken Brust aufgefallen war, erst Monate später zu einem Screening entschlossen. Diagnostiziert wurde ein Mammakarzinom. Die dringend erforderliche Krebsoperation wagte sie ebenfalls nur mit Verzögerung und intensiver psychologischer Begleitung. Danach verließ sie das Krankenhaus vorzeitig gegen ärztlichen Rat und brach auch die Chemotherapie bereits nach vier von sechs Terminen ab. Der langjährige Hausarzt Dr. Z. bestätigt in seinen Befundberichten vom 01.05.2010 und 10.05.2011 ebenfalls, dass es der Klägerin nur sehr schwer gelinge, zu Ärzten Vertrauen zu fassen. Sei bei einer geplanten Konsultation der ihr vertraute Arzt nicht anwesend, breche sie die Behandlung ab. Dieses im Zuge der Krebserkrankung verstärkt hervorgetretene Misstrauen gegenüber ihr unbekanntem medizinischem Personal habe bereits mehrfach notwendige Diagnostik und Therapien signifikant verzögert. Entsprechendes teilt der behandelnde Psychotherapeut Dr. T.-L. in seinen Befundberichten vom 03.05.2011 und 19.02.2013 mit (hohes Misstrauenspotential vor allem Ärzten gegenüber, Vermeidungsverhalten, Angst vor Auslieferungs- und Ohnmachtssituationen, Retraumatisierungen im Zusammenhang mit der Krebserkrankung).
Das geschilderte Verhaltensmuster zeigte sich erneut, als bei der Klägerin im Januar 2011 ein Darmleiden auftrat, das aus onkologischen Gründen ebenfalls einer dringenden Operation bedurfte. Hier gelang es trotz engmaschiger psychologischer Begleitung – insbesondere durch den Zeugen Dr. B. – erst im April 2013, die Klägerin zu dem erforderlichen Eingriff zu bewegen. Nach der Operation verließ sie ausweislich der Bescheinigung des V. Klinikum vom 17.04.2013 wiederum vorzeitig die Klinik.
Nach alledem ist die Kammer überzeugt, dass bei der Klägerin tatsächlich eine massive Phobie gegen medizinisches Personal, ärztliche Behandlungen und Klinikaufenthalte vorliegt. Dem steht – anders als der Beklagte meint – auch nicht entgegen, dass sich diese Angstsymptomatik anlässlich der gutachterlichen Untersuchungen in den renten- und versorgungsrechtlichen Verwaltungsverfahren nicht gezeigt hat. Denn die Befundberichte der behandelnden Ärzte belegen eine Verschlimmerung der Angstsymptomatik erst ab 2009, d.h. zu einem Zeitpunkt, als die Begutachtungen in den Verwaltungsverfahren bereits weitgehend abgeschlossen waren. Aktenkundig sind für den hier streitigen Zeitraum nur noch zwei Pflegegutachten mit Untersuchungen im häuslichen Umfeld und die Begutachtung durch Prof. Dr. G.(2) im hiesigen Verfahren. Ein von der Kammer geplantes weiteres Gutachten hat die Klägerin mit der Begründung abgelehnt, dass sie sich psychisch nicht dazu in der Lage sehe. Zudem glaubt die Kammer der Klägerin, dass sie die relativ kurzen, überwiegend gesprächsbasierten Gutachtertermine, die teilweise sogar im vertrauten Umfeld stattfanden, weit weniger belastend empfunden hat, als die ärztlichen Behandlungen im Zusammenhang mit ihrer Brustkrebs- und Darmerkrankung. Denn diese Behandlungen umfassten umfangreiche (Apparate)-Diagnostik, zwei Operationen unter Vollnarkose mit ungewissem Ausgang und mehrere Klinikaufenthalte.
Die Kammer hat – insbesondere aufgrund der in jeder Hinsicht überzeugenden Aussage des sachverständigen Zeugen Dr. B. in der mündlichen Verhandlung am 09.01.2014 – auch keine Zweifel daran, dass die geschilderte Ärztephobie der Klägerin überwiegend wahrscheinlich durch die rehabilitierten Haftzeiten mitverursacht wurde. Dr. B., der seit 34 Jahren als Arzt für Urologie und Sozialmedizin tätig ist und in Zusammenarbeit mit der Berliner Krebsgesellschaft Krebspatienten psychoonkologisch begleitet, hat aus seiner langjährigen ärztlichen Erfahrung heraus ausführlich, schlüssig und anschaulich bekundet, dass die Angstsymptomatik der Klägerin nach Art und Umgang außergewöhnlich und in seinem Patientenstamm einzigartig sei. Zwar komme es nicht selten vor, dass Krebspatienten sich erst mit zeitlicher Verzögerung zu den notwendigen Eingriffen entschlössen. Üblicherweise beschränke sich diese Zeitspanne jedoch auf drei bis fünf Wochen. Auch genügten im Regelfall ein bis zwei beratende Gespräche, um den Betroffenen zu motivieren, während bei der Klägerin 28 Kontakte erforderlich gewesen seien. Aus seiner ärztlichen Erfahrung heraus führe er diese außergewöhnliche Angst vor Situationen mit Kontrollverlust ganz überwiegend auf das Hafterleben zurück, da gerade diese biographische Komponente die Klägerin von seinen anderen Patienten unterscheide. Befragt nach den Auswirkungen der zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren gab Dr. B. ebenfalls überzeugend an, dass sicherlich auch diese Belastungen nicht spurlos an der Klägerin vorüber gegangenen seien. Er habe jedoch mehrfach Krebspatientinnen mit ähnlichen Belastungsfaktoren (insbesondere Opfer von häuslicher Gewalt) aber ohne Hafthintergrund begleitet und in diesen Fällen nie ein vergleichbar extremes Angstsyndrom festgestellt. Bei der Entwicklung dieses Krankheitsbildes müsse daher das Hafterleben eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bestätigt wird diese Einschätzung durch den behandelnden Diplom-Psychologen Dr. T.-L., der die Klägerin bereits vor der Krebserkrankung begleitet hat und über langjährige Erfahrungen gerade in der traumatologischen Betreuung von DDR-Haftopfern verfügt. Schließlich drängt sich in Anbetracht der Situationsbeschreibung des Mammographiescreenings aus dem Jahr 2009 auch laienhaft die Parallele zwischen dem Hafterleben und den mit der Krebsbehandlung einher gehenden Untersuchungen auf. So schildert die behandelnde Radiologin anschaulich, dass die Klägerin u.a. große Schwierigkeiten hatte, sich für eine Ultraschalluntersuchung allein in einem abgedunkelten Raum aufzuhalten. Es erscheint der Kammer daher insgesamt schlüssig, dass die Aussicht, sich zur Krebstherapie verstärkt in unkontrollierbare Behandlungssituationen begeben zu müssen, für die Klägerin gerade aufgrund ihrer Hafterlebnisse besonders belastend war und daher zu einem erhöhten Meidungsverhalten geführt hat.
Die Kammer verkennt nicht, dass der gerichtlich bestellte Gutachter Prof. Dr. G.(2) in seinem Gutachten vom 05.11.2012 und der ergänzenden Stellungnahme vom 25.03.2013 eine Kausalität zwischen den rehabilitierten Haftzeiten und der Verschlimmerung des psychischen Leidens verneint. Er führt die Verschlechterung ausschließlich auf haftunabhängige Faktoren – insbesondere die Krebserkrankung als solche – zurück. Die Kammer vermag dieser Einschätzung jedoch nicht zu folgen. Denn Prof. Dr. G.(2) gründet seine Kausalitätserwägungen ausdrücklich auf die Prämisse, dass das anfängliche Ausmaß eines haftbedingten Schadens im weiteren Verlauf des Lebens grundsätzlich nicht mehr zunehmen könne und vorliegend auch keine Anhaltspunkte für eine Retraumatisierung erkennbar seien. Hierbei übersieht Dr. G.(2) jedoch einen entscheidenden Punkt: Die aus den DDR-Krankenakten ersichtliche – ursprünglich unstreitig haftbedingte – Ärztephobie (vorzeitiger Abbruch von Krankhausaufenthalten entgegen ärztlichen Rat in den Jahren 1975 und 1984 sowie Absage eines Kurklinikaufenthalts in Bad S. im Jahr 1986) hatte sich zwischenzeitlich gebessert und besaß im Zeitpunkt der Erstantragstellung kein GdS-relevantes Ausmaß mehr. Das Gutachten des Dr. S.(1) vom 27.09.2007 erwähnt insofern nur eine skeptische Einstellung gegenüber Medikamenten, aber keine Ärztephobie. Dementsprechend war diese Symptomatik auch nicht in die GdS-Bewertung aus dem Jahr 2008 eingeflossen. Das ab 2009 dokumentierte Wiederauftreten der Ärztephobie ist mithin als nachträgliche (erneute) Verschlechterung durchaus geeignet, sich erhöhend auf die GdS-Bemessung auszuwirken. Hinzu kommt, dass die Kausalitätserwägungen des Gutachters sich in allgemein gehaltenen Ausführungen erschöpfen und insbesondere jegliche Auseinandersetzung mit der nahe liegenden Parallele zwischen dem Ausgeliefertsein in einer Haft- und einer Krankenhaussituation sowie der damit möglicherweise einhergehenden Retraumatisierung der Klägerin vermissen lassen. Auch erläutert Prof. Dr. G.(2) nicht ansatzweise konkret, welche alternativen Faktoren seiner Auffassung nach für das Wiederauftreten der Ärztephobie maßgeblich gewesen sein sollen und warum die Haft als zumindest gleichwertige Mitursache ausscheidet.
Vor diesem Hintergrund folgt die Kammer der deutlich schlüssigeren Einschätzung des Dr. T.-L. und des Zeugen Dr. B. Beide verfügen aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen in der Psychoonkologie einerseits und der psychotherapeutischen Behandlung von DDR-Haftopfern andererseits auch über besondere Expertise darin, die Auswirkungen des Hafterlebens und der haftunabhängigen Faktoren – d.h. der Krebserkrankung als solcher und der weiteren haftfremden biographischen Belastungen – auf das psychische Krankheitsbild der Klägerin differenziert zu bewerten.
Nach alledem sieht die Kammer es als erwiesen an, dass die rehabilitierten Haftzeiten eine wesentliche Mitursache für die seit Frühjahr 2009 verschlimmerte Ärztephobie darstellen und die psychischen Haftfolgen daher neu bewertet werden müssen.
Die Bewertung psychischer Haftfolgen beurteilt sich nach Nr. 3.7 VersMedV. Danach sind Folgen psychischer Traumen wie folgt zu einzustufen: Für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen beträgt der GdS 0 bis 20. Stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) sind mit einem GdS von 30 bis 40 zu bewerten. Für schwere Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheiten) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50 bis 70, für solche mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten 80 bis 100.
Treffen mehrere Funktionsbeeinträchtigungen aufeinander, ist der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen, wobei sich nach der Anlage zu § 2 VersMedV, Teil A, Abschnitt 3, Seite 10 bzw. nach den AHP Nr. 19, Abschnitt 1 die Anwendung jeglicher Rechenmethoden, das heißt insbesondere die schlichte Addition der Einzel-GdB verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen, ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden und damit ineinander aufgehen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen ggf. gegenseitig verstärken. Dabei ist gemäß der vorgenannten Regelung, Buchstabe d) Absatz ee) bzw. AHP Nr. 19, Abschnitt 3 zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Einzel-GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen. Darüber hinaus ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderungen zu schließen.
Hiervon ausgehend hält die Kammer es für angemessen, den Einzel-GdS für das psychische Leiden von derzeit 30 auf 50 zu erhöhen. Die wieder aufgetretene Ärztephobie betrifft zwar nur einen abgegrenzten Bereich des täglichen Lebens. Indessen ist gerade dieser Bereich für die Klägerin, die sich hinsichtlich des Krebsleidens noch in Heilungsbewährung befindet, von existenzieller Bedeutung. Denn aufgrund des phobiebedingten Meidungsverhaltens besteht das Risiko, dass die lebensnotwendige ärztliche Behandlungen unterlässt. Durch diese lebensbedrohende Komponente erhält die psychische Schädigungsfolge eine neue Qualität, die eine Einordnung in den Bewertungsrahmen der schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten (GdS 50 -70) rechtfertigt. Von diesem Rahmen ausgehend erscheint für den Bereich des sozialen Entschädigungsrechts der untere Spannenwert von 50 angemessen. Einer weitergehenden Erhöhung steht entgegen, dass die Hafterlebnisse zwar eine wesentliche Mitursache, nicht jedoch die alleinige Ursache für das psychische Krankheitsbild der Klägerin bilden und angesichts der zahlreichen haftunabhängigen Belastungsfaktoren auch nicht davon auszugehen ist, dass letztere völlig hinter dem Hafterleben zurücktreten. Zudem müssen die psychischen Folgen der Verfolgungsmaßnahmen nach dem VwRehaG (insbesondere die Zwangsadoption) bei der Bemessung des GdS außer Betracht bleiben, da der Antrag nach dem VwRehaG bestandskräftig abgelehnt wurde.
Der Einzel-GdS für die psychischen Haftfolgen war sodann – wie bisher – aufgrund des Lungenleidens um 20 und aufgrund der bereits anerkannten besonderen beruflichen Betroffenheit der Klägerin gemäß § 30 Abs. 2 BVG um weitere 10 zu erhöhen.
Darüber hinaus gehende Schädigungsfolgen sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Insbesondere bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die auf dem Gebiet des Schwerbehindertenrechts festgestellten weiteren Funktionsbeeinträchtigungen (Harnsäurestoffwechselstörung, Schilddrüsenfunktionsstörung, Fettleber, Diabetes mellitus, Polyneuropathie, Funktionsstörung der Wirbelsäule) durch die Haft verursacht wurden.
Nach alledem war der Bescheid vom 22.03.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.08.2010 abzuändern und der Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zu verurteilen, bei der Klägerin eine Verschlimmerung der psychischen Schädigungsfolgen der in der Zeit vom 24.04.1971 bis 10.05.1971 und 31.01.1972 bis 29.11.1972 in der DDR erlittenen rechtsstaatswidrigen Haft anzuerkennen und ab Antragstellung im Januar 2010 Versorgungsleistungen nach dem StrafRehaG i.V.m. dem BVG auf der Grundlage eines Gesamt-Grades der Schädigungsfolgen von 80 zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin eine GdS-Erhöhung von 60 auf 100 angestrebt und mit diesem Begehren hälftig Erfolg hatte.
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