L 3 SB 3212/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 12 SB 2255/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 3212/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. Juli 2013 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) eines Grades der Behinderung (GdB) höher als 20.

Bei der am 01.04.1968 geborenen, in Deutschland wohnhaften Klägerin hatte das Landratsamt R. (LRA) als Versorgungsamt mit Teilabhilfebescheid vom 14.08.2007 den GdB zuletzt ab dem 08.12.2006 auf 20 festgesetzt. Ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. vom 07.08.2007 lagen dem eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden, verheilter Wirbelbruch (Einzel-GdB 10) und depressive Verstimmung, psychovegetative Störungen (Einzel-GdB 20) zu Grunde. Wegen der Folgen des Wirbelbruchs, der auf einen Arbeitsunfall zurückzuführen ist, bezieht die Klägerin seit Oktober 2006 von der Berufsgenossenschaft der chemischen Industrie (BG Chemie) eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H.

Erstmals am 04.04.2008 stellte die Klägerin beim LRA Verschlimmerungsantrag. Sie fügte einen Reha-Ent¬las¬sungsbericht der F. B. vom 25.03.2008 bei (Bandscheibenvorfall L5/S1 links ohne Einschränkung der Beweglichkeit, Z.n. LWK-1-Fraktur, rezidivierende Cervicobrachialgien, Gonalgie rechts ohne Bewegungslimitierung bei belastungsabhängigen Schmer¬zen ). Das LRA holte weitere Unterlagen ein, darunter den Arztbrief des HNO-Arztes Dr. M. vom 28.04.2008 mit Ton-Audiogramm (leichte Innenohrschwerhörigkeit und Tinnitus bds. ). In der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20.05.2008 schlug Dr. P. vor, den Tenor um "Ohrgeräusche -Tinnitus" (Einzel-GdB 10) zu erweitern, aber den Gesamt-GdB nicht zu erhöhen. Daraufhin lehnte das LRA mit Bescheid vom 04.06.2008 den Antrag auf Neufeststellung ab.

Im Vorverfahren legte die Klägerin u.a. die Arztbriefe des Rheuma-Zentrums Baden-Baden, Dr. M., vom 13.05.2008 (Myofasziales Schmerzsyndrom u.a. ) und des Neurologen und Psychiaters Dr. E. vom 01.09.2008 vor, der eine depressive Somatisierungsstörung mit Tinnitus diagnostizierte und eine Behandlung mit Cymbalta und Zopiclon beschrieb. Dr. G. führte in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 24.09.2008 aus, die Schmerzen könnten im Rahmen einer Somatisierungsstörung gesehen werden und führten zu einer Höherbewertung der psychischen Erkrankung mit einem Einzel-GdB von 30 und damit einem Gesamt-GdB in dieser Höhe. Daraufhin stellte das LRA mit Teil-Abhilfebescheid vom 21.11.2008 den GdB ab dem 04.04.2008 mit 30 fest.

Die Klägerin hat damals am 03.12.2008 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Der Rechtsstreit ist unter dem Aktenzeichen S 10 SB 5320/08 geführt worden.

Den nach Erlass des Teilabhilfebescheids aufrecht erhaltenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.02.2009 zurück. Der GdB sei mit 30 zutreffend festgestellt.

Hiergegen hat die Klägerin ebenfalls Klage zum SG erhoben. Jener Rechtsstreit, der zunächst unter dem Aktenzeichen S 10 SB 815/09 geführt worden war, ist durch Beschluss vom 18.03.2009 zu dem bereits anhängigen Verfahren verbunden worden.

Im Hinblick auf einen weiteren beim SG anhängigen Rechtsstreit wegen Erwerbsminderungsrente (S 5 R 5718/08) ist der hiesige Rechtsstreit mit Beschluss vom 02.04.2009 ruhend gestellt worden.

Am 29.03.2010 stellte die Klägerin erneut einen Höherstufungsantrag. Das LRA zog Arztberichte bei. Aus einem Arztbrief des Neurologen und Psychiaters Dr. E. vom 17.11.2009 ergab sich ein (weiterer) NPP (Nucleus-Pulposus-Prolaps) bei C5/6 links medio¬lateral. Dr. Z. schlug dar¬aufhin in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.06.2010 vor, den Einzel-GdB für die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule auf 20 anzuheben, aber wegen starker Überschneidungen mit der psychischen Erkrankung den Gesamt-GdB bei 30 zu belassen. Daraufhin lehnte das LRA den Antrag mit Bescheid vom 14.06.2010 ab.

Nach Beendigung des Rechtsstreits wegen Erwerbsminderungsrente (Gerichtsbescheid vom 01.04.2010) hat die Klägerin das hiesige Verfahren am 25.05.2010 wieder aufgerufen (neues Aktenzeichen S 10/12 SB 2255/10). Sie hat geltend gemacht, die Abweisung der Klage in dem Rentenstreitverfahren sei eine Fehlentscheidung gewesen. In der Sache bestehe bei ihr insbesondere wegen der Beeinträchtigungen der Wirbelsäule ein GdB von 50.

Der Beklagte hat dem SG den Erlass des Bescheids vom 14.06.2010 mitgeteilt und gemeint, dieser sei in das laufende Klageverfahren einbezogen worden. In der Sache hat er ausgeführt, aus den Gutachten, die in dem Rentenstreitverfahren eingeholt worden seien (Gutachten des Orthopäden und Rheumatologen Dr. R. vom 22.12.2009 und des Neurologen und Psychiaters Dr. R. vom 30.12.2009) ergebe sich vielmehr, dass seit Dezember 2010 nur noch ein Gesamt-GdB von 20 vorliege. Dazu hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. R. vom 16.02.2011 vorgelegt (Somatoforme Schmerzstörung, Einzel-GdB 20; Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und [fraglich] Tinnitus, je 10).

Das SG hat den Orthopäden Dr. A., Dr. E. und den Allgemeinmediziner Dr. M. schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses dieser Beweisaufnahme wird auf die Schreiben vom 17.05.2010, 23.05.2011 und vom 25.05.2011 verwiesen.

Sodann hat das SG auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin das orthopädische Gutachten vom 28.12.2011 bei Prof. Dr. B. erhoben. Dieser Sachverständige hat ausgeführt, bei der Klägerin handle es sich um ein chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom mit statischer Fehlstellung nach LWK-1-Fraktur und chronischen tief lumbalen Rückenschmerzen bei geringgradigen röntgenologischen Veränderungen und operativ entferntem Bandscheibenvorfall L5/S1, um chronische Schulter-Arm-Schmerzen bei endgradig schmerzhaft eingeschränkter Beweglichkeit und röntgenologisch geringgradigen degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule sowie konservativ behandeltem Bandscheibenvorfall C5/6 ohne neurologische Ausfälle oder radikuläre Symptomatik sowie um ein chronisches Fibromyalgie-Syndrom von wechselnder Intensität mit zum Zeitpunkt der Begutachtung blander Symptomatik. Zusammenfassend sei in Anbetracht der geringen funktionellen Einschränkungen bei ausgeprägtem Schmerzsyndrom und Fehlstatik der Wirbelsäule im thorakolumbalen Übergang ein GdB von 30 für die Wirbelsäule gerechtfertigt. Bezüglich der Schmerzsymptomatik sei - nur - ein GdB von 10 gerechtfertigt, dies beruhe auf der überwiegend auf die Wirbelsäule bezogenen Symptomatik von wechselnder Intensität und der geringen Krankheitsaktivität.

Die Klägerin hat den Entlassungsbericht der S. B. vom 29.10.2012 über eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme vom 18.09. bis 23.10.2012 (chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, chron. Schmerzsyndrom bei Z.n. LWK-1-Fraktur 2006, Spannungskopfschmerz/Migräne o. Aura ) vorgelegt.

Sodann hat das SG auf weiteren Antrag der Klägerin ein Gutachten auf dem Fachgebiet der Neurologie/Psychiatrie bei Dr. W. eingeholt. Dieser Sachverständige hat unter dem 26.03.2013 mitgeteilt, bei der Klägerin beständen chronische Rückenschmerzen nach Bandscheibenvorfall L5/S1 mit Nukleotomie L5/S1 links 04/2006 und nach Kompressionsfraktur des 1. LWK (06/2006), eine vordiagnostizierte Fibromyalgie und eine chronisch depressive Störung mit Angst sowie eine Migräne ohne Aura. Dr. W. hat den lumbalen Bandscheibenvorfall LWK 5 und den Z.n. LWK-1-Fraktur mit anhaltenden Rückenschmerzen mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet, das Fibromyalgie-Syndrom ebenfalls mit 30, die depressive Störung und Angst mit 20 und die Migräne ohne Aura mit unter 10. Den Gesamt-GdB hat er auf 50 eingeschätzt.

Der Beklagte hat unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. G. vom 10.06.2013 vorgetragen, für das chronische Schmerzsyndrom und die seelische Störung sei (wieder) ein GdB von 30 anzuerkennen, jedoch bedinge die Beeinträchtigung der Wirbelsäule nur einen GdB von 10, sodass es bei dem Gesamt-GdB von 30 verbleibe.

In der mündlichen Verhandlung am 23.07.2013 hat die Klägerin hilfsweise die Einholung dreier weiterer Gutachten auf ihr Kostenrisiko zur Abklärung eines Rheuma, eines Asthma bronchiale und des Tinnitus beantragt. Zu der rheumatischen Erkrankung hatte sie den Bericht der A.-Klinik B., Dr. D., vom 05.02.2013 (V.a. beginnende entzündlich-rheumatische Erkrankung mit Monarthritis des linken Handgelenks ) vorgelegt.

Mit Urteil vom selben Tage hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Neufeststellung und Feststellung einzelner Behinderungen sowie der Ermittlung des GdB dargelegt. In der Sache hat es ausgeführt, die bei der Klägerin im Vordergrund stehenden orthopädischen Beeinträchtigungen seien mit einem GdB von 10 zutreffend bewertet. Es beständen schmerzhafte Einschränkungen der Wirbelsäule, jedoch keine neurologischen Ausfälle bei normaler Sensibilität und unauffälligen elektrophysiologischen Verhältnissen der Arm- und Beinnerven. Bei der Begutachtung bei Prof. Dr. B. habe sich im Sitzen eine leichte Beweglichkeitseinschränkung der HWS gezeigt, jedoch sei die Wirbelsäule im Liegen nicht eingeschränkt gewesen. Schmerzausstrahlungen oder Missempfindungen seien nicht angegeben worden. Nach den Feststellungen von Dr. W. sei lediglich an der LWS die Flexion eingeschränkt gewesen. Vor diesem Hintergrund sei nicht nachvollziehbar, wie die beiden Sachverständigen einen GdB von 30 für das Wirbelsäulenleiden gebildet hätten. Auf psychiatrischem Gebiet bestehe bei der Klägerin eine depressive Verstimmung mit Somatisierungsneigung. Dr. W. habe die einzelnen Beeinträchtigungen in seinem Gutachten beschrieben. Seinem Vorschlag, einen GdB von 30 anzunehmen, könne gefolgt werden. Der Tinnitus und die Migräne bedingten jeweils einen GdB von unter 10. Eine darüber hinaus gehende rheumatische Erkrankung sei bislang nicht nachgewiesen, eine Behinderung könne daher - noch - nicht festgestellt werden. Der Gesamt-GdB betrage daher weiterhin 30. Zu den Hilfsbeweisanträgen hat das SG ausgeführt, diese würden die Erledigung des Rechtsstreits verzögern und sie seien aus grober Nachlässigkeit verspätet gestellt worden, deshalb seien sie abzulehnen.

Gegen dieses Urteil, das ihrem Prozessbevollmächtigten am 05.08.2013 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 06.08.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie trägt vor, die anerkannten Behinderungen seien höher zu bewerten. Außerdem seien bislang die rheumatische Erkrankung, das Asthma und der Tinnitus nicht hinreichend bewertet. Sie verweist erneut auf den Bericht der A.-Klinik B. vom 05.02.2013.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 23. Juli 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 04. Juni 2008 in der Fassung des Teil-Abhilfe¬be-scheids vom 21. November 2008 und des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2009 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von wenigstens 50 seit dem 04. April 2008 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angegriffene Urteil und seine Entscheidungen.

Die Klägerin hat zunächst die Einholung eines rheumatologisch-internistischen Gutachtens bei Dr. K. beantragt. Nachdem dieser Sachverständige mitgeteilt hatte, das Gutachten nicht zeitnah erstatten zu können, hat die Klägerin an seiner Stelle Prof. Dr. S. vom S. R. benannt. Diesen Arzt hat der Senat ernannt. Der Sachverständige hat unter dem 01.12.2013 ein "fachorthopädisches Gutachten" erstattet. Darin ist ausgeführt, bei der Klägerin zeigten sich ein lotgerechter Aufbau der Wirbelsäule, eine normale Kyphosierung und Lordosierung der Rumpfwirbelsäule. Es bestehe ein ausgeprägter Klopf-, Rüttel- und Stauchungsschmerz über den Dornfortsätzen als auch in der gesamten paravertebralen Muskulatur, insbesondere bei L2 bis S1, in geringerem Maße bei Th12 und L1. Die Entfaltbarkeit der Wirbelsäule sei fast nicht eingeschränkt (FBA 31 cm, Schober 10:16 cm, Ott 30:31,5 cm). Bei allen Bewegungsprüfungen seien starke Schmerzen angegeben worden, es sei jedoch auffallend, dass im Liegen mit Aufstehen zum Sitzen die Position problemlos erreicht werden könne und also eine Beugung bis 90° möglich sei. An der HWS würden starke Bewegungsschmerzen angegeben, hier zeige sich eine hohe Druckempfindlichkeit der paravertebralen Muskulatur im Trapeziusbereich. In den Armen bzw. Händen hätten sich keine rheumatischen Synovitiden (entzündliche Veränderungen der Gelenkschleimhaut) gefunden. Bei der Klägerin zeigten sich in zahlreichen Körperregionen Schmerzhaftigkeiten. Insgesamt beständen ein LWS-Syndrom mit Z.n. LWK-1-Fraktur, ein HWS-Syndrom mit Ausstrahlung in die rechte Schulter und ein Fibromyalgie-Syndrom mit mittelgradiger bis hoher Aktivität. Das LWS-Syndrom und die Fibromyalgie bedingten je einen GdB von 20. Hinweise auf eine entzündlich-rheumatische Erkrankung seien nicht zu finden gewesen. Das HWS-Syndrom hat Dr. S. einmal mit einem GdB von 10 (S. 19 GA) und einmal mit 20 (S. 22 GA) bewertet. Hinzu komme - fachfremd - der von Dr. W. angegebene GdB von 20 auf psychiatrischem Gebiet. Es sei daher, so Dr. S. zusammenfassend (S. 20 GA), ein Gesamt-GdB von 40 angemessen.

Der Beklagte ist den Feststellungen und Vorschlägen Prof. Dr. S. unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 25.03.2014 entgegengetreten.

Der Beklagte hat unter dem 03.04.2014, die Klägerin mit Schriftsatz vom 08.04.2014 einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte des Beklagten sowie den der Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

1. Der Senat entscheidet über die Berufung der Klägerin nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einvernehmen mit beiden Beteiligten durch Urteil ohne mündliche Verhandlung.

2. Gegenstand des Verfahrens ist nach wie vor nur der zunächst angegriffene Bescheid vom 04. Juni 2008 in der Fassung des Teil-Abhilfe¬be¬scheids vom 21. November 2008 und des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2009. Der erneute Ablehnungsbescheid vom 14.06.2010 ist nicht nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des laufenden Berufungsverfahrens geworden. Jener Bescheid hat den zunächst angegriffenen Bescheid weder ersetzt - schon weil er ausgehend von dem erneuten Neufeststellungsantrag der Klägerin über einen anderen Zeitraum entschieden hat - noch hat er jenen verändert (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urt. v. 17.04.2013, B 9 SB 6/12 R, Juris Rn. 27). Unabhängig davon hindert dieser neue Bescheid den Senat nicht, über den GdB der Klägerin während des gesamten Zeitraums seit Stellung des Antrags vom 04.04.2008 bis zum Schluss der Verhandlung vor dem Senat zu entscheiden. Auch ein erneuter Ablehnungsbescheid entfaltet insoweit, auch wenn er bestandskräftig wird, keine Zäsurwirkung (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 28).

3. Mit diesem Inhalt ist die Berufung der Klägerin nach § 143 SGG statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet. Wegen des Gesundheitszustands der Klägerin ist nach wie vor ein GdB von 30 anzuerkennen. Ein Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB besteht nicht, sodass sich die angegriffenen Bescheide des Beklagten als rechtmäßig (§ 54 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 SGG) erweisen.

Die rechtlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Neufeststellung eines bereits bindend zuerkannten GdB nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) und § 69 Abs. 1 Satz 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) sowie die einzelnen Anforderungen für die Bewertung einzelner Behinderungen mit einem GdB und die Ermittlung eines Gesamt-GdB nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und Satz 5 SGB IX i.V.m. den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" (VG), also der Anlage der nach § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargestellt. Dies gilt auch für die die Anwendbarkeit und den Inhalt der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) für die hier z.T. auch noch streitige Zeit bis Ende 2008. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweist der Senat nach § 153 Abs. 2 SGG auf die dortigen Ausführungen.

In Anwendung dieser Maßstäbe ergibt sich der genannte Gesamt-GdB von 30:

a) Der Einzel-GdB für die Beeinträchtigungen des Funktionssystems "Rumpf" (zur Zusammenfassung einzelner Beeinträchtigungen in Funktionssysteme vgl. Teil A Nr. 2 lit. e Satz 2 VG) bei der Klägerin beträgt 20.

aa) Nach Teil B Nr. 18.9 VG bedingen Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einen GdB von 10, solche mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyn¬drome) einen Einzel-GdB von 20, solche mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbel¬säulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen Einzel-GdB von 30 und Schäden mit mittelgradigen bis schweren funktio¬nellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen Einzel-GdB von 30 bis 40. Ein darüber hinausgehender Einzel-GdB ist nur bei besonders schweren Auswir¬kungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpf¬orthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst [z.B. Milwaukee-Korsett]; schwere Skoliose [ab ca. 70° nach Cobb]) anzuerkennen. In diesen Bewertungen mit einem GdB sind die üblicherweise auftretenden Beschwerden mitberücksichtigt (vgl. Teil B Nr. 18.1 VG).

bb) Bei der Klägerin bestehen allenfalls mittelgradige Funktionseinbußen in einem WS-Abschnitt, der LWS, und allenfalls geringgradige Einbußen in einem weiteren, der HWS. Mangels mindestens mittelgradiger Auswirkungen in zwei Abschnitten kommt daher ein GdB von 30 nicht in Betracht. Bei dieser Einschätzung stützt sich der Senat im Wesentlichen auf das aktuelle Gutachten von Prof. Dr. S. vom 01.12.2013. Dieser hat entsprechende Diagnosen gestellt. Gestützt wird er z.B. von den Feststellungen aus dem Gutachten von Dr. W. vom 26.03.2013, der ausschließlich Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der LWS beschrieben und diese als mittelschwer eingeschätzt hat. Beide Sachverständige haben insoweit die Ergebnisse der vorherigen Beweiserhebung von Amts wegen, insbesondere die Aussagen des sachverständigen Zeugen Dr. A., bestätigt. Im Einzelnen gilt:

An der HWS bestehen keine Beweglichkeitseinschränkungen. Prof. Dr. S. hat eine regelgerechte Re- und Deklination, Seitwärtsneigung bds. und Rotationsfähigkeit rechts und links gemessen. Entsprechende Werte hatte schon Dr. W. ermittelt, der für die HWS durchgängig Normalbefunde angegeben hat (S. 17 GA). Bei den Untersuchungen, vor allem bei Prof. Dr. S., hat die Klägerin zwar jeweils starke Schmerzen bei den Bewegungsprüfungen angegeben. Diese konnte Prof. Dr. S. jedoch nur auf eine hohe Druckdolenz der Muskulatur zurückführen. Radikuläre Reizerscheinungen, etwa Schmerzausstrahlungen in Schultern oder obere Gliedmaßen, hat dieser Sachverständige ausgeschlossen. Hierbei konnte er sich auch auf Röntgenbilder vom 26.11.2013 stützten (S. 13 f. GA), die auch an der HWS nur eine leicht vermehrte Sklerosierung ergeben haben, die der Sachverständige als geringgradige degenerative Veränderung eingestuft hat. Entsprechend hat Prof. Dr. S. die Beeinträchtigungen an der HWS mit einem GdB von 10 bewertet. Dass er an anderer Stelle einen GdB von 20 angegeben hat, muss auf einem Schreibversehen beruhen, denn der von ihm vorgeschlagene Gesamt-GdB von 40 leitet sich nach seinen Ausführungen im Gutachten aus drei Einzel-GdB von je 20 (LWS, Fibromyalgie, psychische Erkrankung) ab.

Dagegen haben beide Sachverständigen an der LWS über die auch dort geklagten Schmerzen hinaus - geringfügige - Einschränkungen in der Funktionsprüfung feststellen können. Insbesondere war der Finger-Boden-Abstand mit 15 cm (bei Dr. W.) und 31 cm (bei Prof. Dr. S.) eingeschränkt. Auch das Schober’sche Zeichen, das die Entfaltbarkeit der LWS betrifft, war mit 10:13 cm (Normwert 10:15 cm) bei Dr. W. leicht eingeschränkt, jedoch bei Prof. Dr. S. mit 10:16 cm regelgerecht. Dort konnte die Klägerin auch aus dem Liegen problemlos zum Sitzen aufstehen und also eine Beugung von 90° erreichen. Auch waren die Schmerzempfindungen der Klägerin hier nach Einschätzung des Sachverständigen stärker als an der HWS. Er hat über den gesamten Bereich vom unteren Ende der BWS (Th12) bis zur Sakralwirbelsäule (S1) einen ausgeprägten Klopf-, Rüttel- und Stauchungsschmerz diagnostiziert. Wenn er diese Beeinträchtigungen stärker bewertet hat als jene an der HWS, so erscheint dies nachvollziehbar und hält sich noch im Rahmen gutachterlicher Einschätzungsprärogative.

Soweit die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) allein für den Zustand nach Bruch des 1. LWK als Folge des Arbeitsunfalles vom 13.06.2006 mit 20 festgestellt ist, bindet dies den Beklagten nicht. Eine Feststellung der MdE ist für die Versorgungsbehörde nicht verbindlich, wenn sie - wie hier - den Grad der Behinderung unter Berücksichtigung weiterer gesundheitlicher Beeinträchtigungen festzustellen hat (BSG, Urt. v. 05.07.2007, B 9/9a SB 12/06 R, Juris Rn. 15).

b) Auch auf psychiatrischem Gebiet kann ein GdB von 20 angenommen werden. Diesen Wert hatte auch der ebenfalls von der Klägerin benannte Wahlarzt Dr. W. in seinem Gutachten vom 26.03.2013 für eine depressive Störung und Angst (gemischt) vorgeschlagen (S. 24 GA). Diese Einschätzung entspricht den Vorgaben. Nach Teil B Nr. 3.7.VG bedingen leichtere psychovegetative oder psychische Störungen einen GdB von 0 bis 20, erst eine stärker behindernde Störung mit einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit, z.B. eine ausgeprägtere depressive oder somatoforme Störung, kann mit einem GdB von 30 bis 40 bewertet werden. Wenn Dr. W. hier nur eine leichtere Störung angenommen hat, kann dies nicht beanstandet werden. Bei der Begutachtung war die Klägerin etwas bedrückt, manchmal affektlabil, begann bei belastenden Themen zu weinen. Sie ist allerdings weiterhin berufstätig. Anzeichen für kognitive Störungen konnte Dr. W. nicht finden. Entsprechend hat er dann auch - in Übereinstimmung mit den behandelnden Ärzten, v.a. Dr. E. - nur die genannte Mischdiagnose angegeben.

c) Eine weitere Behinderung im Sinne eines Schmerzsyndroms, die zu einem gesonderten Einzel-GdB führen würde, ist nicht anzuerkennen. Nach Teil B Nr. 18.4 VG i.d.F. der Ersten Änderungsverordnung vom 01.03.2013 (BGBl I S. 249) sind "die Fibromyalgie ( ) und ähnliche Syndrome ( ) jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen". Eine ähnliche Aussage hatten die VG - im Einklang mit den früheren AHP - schon vor der genannten Änderung enthalten, die dort genannten Krankheiten waren lediglich als "Somatisierungssyndrome" zusammengefasst worden. Bei der Klägerin nun hat die mehrfach, auch von den Sachverständigen Dr. W. und Prof. Dr. S., diagnostizierte Schmerzerkrankung keine eigenständige (somatische) Ursache. Insbesondere konnte Prof. Dr. S. eine entzündlich-rheumatische Erkrankung ausschließen. Er hat entsprechend als Diagnose "Fibromyalgie" angegeben. Diese Schmerzempfindungen der Klägerin bilden einen wesentlichen Teil der Beeinträchtigungen an HWS und LWS. Dort sind die Schmerzen lokalisiert, im Wesentlichen in Form von Druck- und Bewegungs- oder Belastungsschmerzen. Entsprechend der Regelung in Teil A Nr. 2 lit. j Sätze 1 und 2 VG sind daher die Schmerzen der Klägerin ausschließlich im Rahmen der zu Grunde liegenden Beeinträchtigungen, neben der psychischen Problematik also vor allem die WS-Beeinträchtigung, zu bewerten.

d) Weitere Behinderungen, die einen - berücksichtigungsfähigen (vgl. Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee Satz 1 VG) - GdB von 20 oder mehr bedingen könnten, liegen nicht vor.

Die Kopfschmerzen der Klägerin erreichen nicht das Ausmaß einer echten Migräne nach Teil B Nr. 2.3 VG, auch Dr. Wörz hat insoweit - nur - eine Migräne ohne Aura mit einem GdB unter 10 angegeben (S. 24 GA).

Der vorbestehende Tinnitus hat keine über die depressive Erkrankung hinausgehende beeinträchtigende Wirkung.

Ein akutes Asthma liegt anscheinend nicht vor, jedenfalls erreicht es nicht das Ausmaß einer dauernden Einschränkung der Lungenfunktion (Teil B Nr. 8.3 VG) oder eines Bronchialasthmas mit regelmäßigen - saisonalen - Anfällen (Teil B Nr. 8.5 VG). Der insoweit zuletzt gehörte Zeuge, Allgemeinmediziner Dr. M., hat in seiner Aussage vom 25.05.2011 überhaupt keine Erkrankung der Atemorgane angegeben. Aus dem von ihm vorgelegten Arztbrief des Pneumologen Dr. H. vom 24.05.2011 ergibt sich lediglich eine leichte bronchiale Hyperreagibilität bei Nikotinabusus ohne Nachweis einer obstruktiven oder restriktiven Ventilastionsstörung.

e) Aus den insoweit relevanten Einzel-GdB von je 20 für den Rumpf und die Psyche ist nach Teil A Nr. 3 lit. c VG ein Gesamt-GdB von 30 zu bilden. Es besteht eine deutliche Überschneidung der erfassten Funktionsbeeinträchtigungen, nämlich der Schmerzen, die sowohl bei der Beurteilung der psychischen Erkrankung als auch - noch stärker - bei der Wirbelsäulenbeeinträchtigung berücksichtigt worden sind.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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