S 8 KR 91/03

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 8 KR 91/03
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 5 KR 144/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 1 KR 27/05 R
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2003 verurteilt, die Versorgung des Klägers mit dem Medikament Cabaseril sicherzustellen. Der Beklagten werden die außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Versorgung des Klägers mit dem Medikament Cabaseril im Rahmen einer sog. Off-Label-Medikation.

Der 1939 geborene Kläger leidet an einer schweren Form des Restless-Legs-Syndroms (RLS). Die Behandlung mit dem für diese Erkrankung zugelassenen Medikament L-Dopa bringt trotz Höchstdosierung keinen zufriedenstellenden Erfolg mehr.

Im Oktober 2002 beantragte der Kläger unter Vorlage einer Stellungnahme des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. I die Genehmigung des für die Erkrankung Morbus Parkinson, aber nicht für das RLS zugelassene Medikament Cabaseril.

Die Beklagte legte die Unterlagen dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vor. Dieser führt in seinem Gutachten vom 14.11.2002 wie folgt aus:

"Zur Behandlung des RLS ist das L-Dopapräparat Resttex zugelassen. Nach Angaben des betreuenden Arztes erhält der Patient zur Zeit 750 mg L-Dopa/Tag.

Trotz dieser hohen L-Dopadosierung seien die Beschwerden weiterhin vorhanden.

Es ist korrekt, dass eine weitere Erhöhung der L-Dopadosis wohl kaum praktikabel ist, wegen der möglichen unerwünschten Nebenwirkungen. Des Weiteren kann bestätigt werden, dass in den Fachkreisen in einem solchen Fall der Einsatz von Dopaminagonisten empfohlen wird.

Für Cabaseril liegt, wie auch der behandelnde Arzt mitteilt, eine Datenlage vor, aus einer randomisierten doppelblinden multizentrischen Placebo kontrollierten Studie. Die Ergebnisse zeigten einen signifikanten Behandlungserfolg für Cabaseril.

Allerdings muss darauf verwiesen werden, dass Dosisfindungen bislang noch nicht abgeschlossen wurden und das für Ende 2002 eine erneute Studie geplant worden ist. Es sollen unvorbehandelte Patienten eingeschlossen werden, Cabaseril soll gegenüber L-Dopa erprobt werden.

Cabaseril ist zur Behandlung des Morbus Parkinson zugelassen, d. h. es ist verkehrsfähig und käme hier im sogenannten Off-Label-Use zum Einsatz. Um die Bedingungen für einen Off-Label-Use zu erfüllen, muss es sich zum einen um eine schwerwiegende Erkrankung handeln, dieses kann in einigen Fällen beim RLS sicherlich der Fall sein, des Weiteren soll keine weitere Therapieoption mehr zur Verfügung stehen und für das einzusetzende Präparat muss eine Datenlage vorliegen, die in Kürze eine Zulassung des Präparates für diese Indikation erwarten lässt.

Bei dem Patienten liegt eine die derzeitige Lebensqualität sehr beeinträchtigende Erkrankung vor. Die L-Dopa Therapie ist ausgeschöpft, die Datenlage für Cabaseril zur Behandlung des RLS wird als ermutigend angesehen, allerdings liegt bislang noch keine abschließende Datenlage vor. Ein Zulassungsantrag ist bislang noch nicht gestellt worden, soll jedoch nach Angaben im nächsten Jahr gestellt werden.

Sollte der behandelnde Arzt die Behandlung für unabdingbar für den Patienten halten, wäre eine Verordnung auf Kassenrezept in Eigenverantwortung und unter Berücksichtigung aller möglichen Konsequenzen im Rahmen seiner Therapiefreiheit möglich. Eine privatärztliche Verordnung kann in keinem Fall empfohlen werden."

Die Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 23.12.2002 unter Hinweis auf die gutachterliche Stellungnahme des MDK, dass die Datenlage für eine Off-Label-Medikation nicht ausreichend sei, ab.

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Widerspruch, dem er eine Stellungnahme des Dr. I und weitere vielfältige Unterlagen beifügte, u. a. ein anonymisiertes Genehmigungsschreiben einer Krankenkasse vom 15.11.2002 mit Hinweis auf eine placebokontrollierte Dosisfindungsstudie und der Bitte an den Arzt um Verordnung des Medikamentes auf dem Verordnungsvordruck

"Muster 16" zur direkten Abrechung über die Apothekenabrechnungsstelle. Beigefügt war des Weiteren ein umfangreicher von der deutschen Restless-Legs-Vereinigung e.V. vorformulierter Antrag auf Kostenübernahme für das Medikament Cabaseril im Off-Label-Use, der unter anderem die Konsenserklärung von insgesamt 16 Ärzten verschiedener Universitätskliniken enthielt. Mit dieser Konsenserklärung erklärten diese Ärzte als Experten auf dem Gebiet der Erforschungsbehandlung des RLS, dass die in (näher zitierten) Veröffentlichungen (z. B. Stiasny K ... mit dem Titel "Cabergolie in RLS - A double-blind placebo-controlled multicenter does-finding trial") dargelegten Erkenntnisse zuverlässige und nachprüfbare Aussagen über Qualität und Wirksamkeit des Wirkstoffes Cabergoline und das diesen Wirkstoff enthaltene Medikament Cabaseril über die Behandlung des RLS zulassen. Es bestehe unter ihnen Konsens über den für die Behandlung des RLS nachgewiesenen Nutzen dieses Wirkstoffes sowie darüber, dass die Risiken vertretbar sind.

Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25.04.2003 zurück.

Der Kläger hat gegen die ablehnenden Bescheide der Beklagten Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er legt zur Begründung seiner Klage erneut umfangreiche Unterlagen vor.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23.12.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.04.2003 zu verpflichten, ihn mit dem Medikament Cabaseril zu versorgen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Bescheide aus den dort aufgeführten Gründen für rechtmäßig.

Zur weiteren Sachdarstellung wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten einschließlich der vorgelegten Unterlagen des Klägers und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da sich die Beteiligten mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Die Klage ist begründet.

Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert, § 54 Abs. 2 SGG, da diese rechtswidrig sind.

Dem Kläger steht ein Anspruch auf Bereitstellung des für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittels Cabaseril zu, § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 31 Abs. 1 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V). Diesem Behandlungsanspruch stehen nicht die Einschränkungen des § 2 Abs. 1 Satz 3, § 12 Abs. 1 SGB V entgegen, da vorliegend die Voraussetzungen der sogenannten Off-Label-Medikation im Sinne der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - erfüllt sind. Nach den Ausführungen des BSG in seiner Grundsatzentscheidung besteht ein Versorgungsanspruch, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind:

1. Es handelt sich um eine schwerwiegende (lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende) Erkrankung, bei der 2.keine andere Therapie verfügbar ist und 3.auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit den betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg zu erzielen ist.

Das letztere bedeutet: Es müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Davon kann ausgegangen werden, wenn entweder die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder außerhalb eines Zulassungsverfahrens Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels im neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und auf Grund deren in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen im vorbenannten Sinne besteht (BSG, a.a.O.).

Diese Voraussetzungen sind bereits nach den gutachtlichen Ausführungen des MDK vom 14.11.2002, die zusätzlich noch durch die umfangreichen Unterlagen des Klägers untermauert werden, erfüllt.

Sowohl nach der Beurteilung des behandelnden Arztes als auch des MDK handelt es sich bei dem beim Kläger vorliegenden schweren RLS um eine schwerwiegende, die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung, bei der die Standart-Therapie (L-Dopa) ausgeschöpft, d. h. keine andere Therapie verfügbar ist.

Entgegen der Schlussfolgerung des MDK ist auch die dritte Voraussetzung - die auf Grund der Datenlage begründete Erfolgsaussicht - erfüllt. Insoweit geht auch der MDK davon aus, dass außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit von Cabaseril zuverlässige und wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen. So bestätigt der MDK die Angaben des behandelnden Arztes Dr. I, nämlich die Existenz einer randomisierten doppelblinden multizentrischen Placebo kontrollierten Studie mit dem Ergebnis eines signifikanten Behandlungserfolges für Cabaseril. Die Existenz entsprechender Studien ergeben sich darüber hinaus aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen.

Des Weiteren hat der MDK auch den in Fachkreisen herrschenden Konsens über den voraussichtlichen Nutzen der erstrebten Behandlung bestätigt (" ... kann bestätigt werden, dass in den Fachkreisen in einem solchen Fall der Einsatz von Dopaminagonisten empfohlen wird"). Die entsprechende konkrete Konsenserklärung der auf diesem Gebiet tätigen Experten ist darüber hinaus vom Kläger im Widerspruchsverfahren vorgelegt worden.

Entgegen der Einschätzung des MDK, der sich die Beklagte angeschlossen hat, stehen der entsprechenden Genehmigungspflicht nicht die vom MDK angeführten Umstände, dass Dosisfindungen bislang noch nicht abgeschlossen wurden und für Ende 2002 eine erneute Studie geplant sei sowie eine bislang noch nicht abgeschlossene "Datenlage", entgegen. Denn diese vom MDK geforderten Voraussetzungen entsprechen nicht den vom Bundessozialgericht aufgestellten Erfordernissen. So hat das BSG keine "abgeschlossene Datenlage" gefordert, sondern lediglich "Erkenntnisse, die über Qualität und Wirksamkeit zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen". So kann dem Anspruch nicht entgegenstehen, dass über die bereits vorliegende Doppelblind-Studie hinaus eine erneute Studie geplant ist (zur Dosisfindung und quasi zu einer zusätzlichen Indikation, nämlich einem nicht vorbehandelten RLS), da sowohl gemäß der Konsenserklärung der Experten als auch nach der Einschätzung des MDK bereits zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen vorliegen.

Des Weiteren kann den geltend gemachten Anspruch auch nicht der Einwand des MDK hindern, dass Dosisfindungen bislang noch nicht abgeschlossen wurden. Denn dieser Einwand entspricht ebenfalls nicht den vom Bundessozialgericht aufgestellten Voraussetzungen. Relevant ist lediglich die begründete Aussicht eines Behandlungserfolgs, ohne dass das BSG weitere Anforderungen an Detailerkenntnisse aufgestellt hat. Dass die Frage der Dosisfindung keine wesentliche Voraussetzung für die Zulassung einer Off-Label-Medikation sein kann, ergibt sich bereits aus den Vorschriften des Arzneimittelrechts, das zwar bei der Einbeziehung neuer Indikationen eine gravierende Änderung des Zulassungsstatus sieht, dagegen nicht bei Veränderungen der Dosierung, der Art und der Dauer der Anwendung oder anderen geringeren Modifikationen, verbundenen mit einer bloßen Anzeigepflicht und ggf. einem Zustimmungserfordernis, § 29 Abs. 1, Abs. 2 a des Arzneimittelgesetzes - AMG - (vgl. BSG, a.a.O.). Letztendlich können möglicherweise fehlende Anweisungen zur Dosierung auch aus dem Gesichtspunkt nicht gegen den grundsätzlichen Versorgungsanspruch sprechen, dass es letztendlich in der Therapiehoheit und Verantwortung des behandelnden Arztes liegt, dem einzelnen Patienten ein bestimmtes Medikament in einer individuell und selbst festgelegten Dosierung zu verschreiben.

Darüber hinaus erscheint es hinsichtlich dieses Einwand des MDK fraglich, ob dieser von zutreffenden Voraussetzungen ausgeht. Denn aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen (anonymisiertes Schreiben einer Krankenkasse vom 15.11.2002; Konsenserklärung) ergeben sich Hinweise auf das Vorliegen einer Dosisfindungsstudie.

Unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK, dass eine privatärztliche Verordnung in keinem Fall empfohlen werden könne, wird darauf hingewiesen, dass es der Entscheidung der Krankenversicherung obliegt, ob sie ihren Versorgungsanspruch durch eine Kostenerstattung nach privatärztlicher Verordnung nachkommt oder dem Kläger die Medikation durch eine entsprechende Genehmigung und Verordnungsempfehlung gegenüber dem behandelnden Arzt (vgl. anonymisiertes Schreiben einer Krankenkasse am 15.11.2003) als Sachleistung zur Verfügung stellt. In diesem Sinne hatte der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen bereits 1999 eine Neufassung der Arzneimittel-Richtlinien beschlossen, nach der mit Zustimmung der Krankenkasse eine Verordnung außerhalb zugelassener Indikationen zulässig sein sollte. Diese geänderten Richtlinien sind jedoch lediglich auf Grund kartellrechtlicher Einwände nicht in Kraft getreten (vgl. BSG, a.a.O.).

Aus dieser 1999 beabsichtigten Richtlinie ergibt sich ebenfalls, dass die Zulässigkeit der Off-Label-Medikation mit einem bestimmten Medikament mit der krankenversicherungsrechtlichen Kostenfolge dem Genehmigungsvorbehalt und ggf. der Genehmigungspflicht der Krankenkassen obliegt und nicht - wie vom MDK angenommen - allein dem Bereich der Eigenverantwortung des behandelnden Arztes zugeordnet werden kann.

Die Kostenfolge beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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