L 9 KR 323/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 KR 226/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 323/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Zur Entscheidung über die Gewährung von Hörgeräten in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. August 2014 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat seinen Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, ihn vorläufig, bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, mit Hörgeräten "Widex Clear 440" entsprechend dem Kostenvoranschlag der Firma F & K vom 05. Juli 2012 zu versorgen, im Ergebnis rechtsfehlerfrei abgelehnt.

1.) Ein Anordnungsanspruch lässt sich mit der für das einstweilige Rechtsschutzverfahren erforderlichen Wahrscheinlichkeit derzeit nicht feststellen (vgl. § 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).

a) Nach § 33 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Wie in allen anderen Bereichen der Leistungsgewährung der gesetzlichen Krankenversicherung auch, müssen die Leistungen nach § 33 SGB V ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können Versicherte nicht beanspruchen, dürfen die Leistungserbringer nicht bewirken und die Krankenkassen nicht bewilligen (§ 12 Abs. 1 SGB V).

Da mit den Hörgeräten der Ausgleich der Behinderung erfolgen soll, indem die beim Antragsteller eingeschränkte Hörfähigkeit künstlich verbessert wird, hat die Prüfung des Anspruchs anhand des § 33 Abs. 1 Satz 1, dritte Alternative SGB V zu erfolgen. Im Vordergrund steht daher der Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst. Bei diesem unmittelbaren Behinderungsausgleich gilt das Gebot eines möglichst weitgehenden Ausgleichs des Funktionsdefizits, und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. Die gesonderte Prüfung, ob ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, entfällt, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktionsbeeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht; die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Dabei kann die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behinderten Menschen erreicht ist. Die Wirtschaftlichkeit eines dem unmittelbaren Behinderungsausgleich dienenden Hilfsmittels ist grundsätzlich zu unterstellen und erst zu prüfen, wenn zwei tatsächlich gleichwertige, aber unterschiedlich teure Hilfsmittel zur Wahl stehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 2009, B 3 KR 2/08 R juris, dort RdNr. 18 [Badeprothese]; Urteil vom 16. September 2004, B 3 KR 20/04 R, juris, dort RdNr. 12 ff. [C-Leg], Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, 9. Senat, Urteil vom 09. März 2011, L 9 KR 152/08, juris; Beschluss vom 13. August 2014, L 9 KR 132/14 B ER, juris).

b) Mit einer stattgebenden Entscheidung des Senats wäre eine endgültige Vorwegnahme der Hauptsache verbunden, weil der vom Antragsteller geltend gemachte Anspruch nicht nur in vollem Umfang erfüllt würde, sondern die einstweilige Versorgung für die Antragsgegnerin auch nicht ohne eine erhebliche Kostenbelastung rückgängig zu machen wäre. Denn die von der Antragsgegnerin zu finanzierenden Hörgeräte könnten im Falle des Unterliegens des Antragstellers im Hauptsacheverfahren nicht mehr für andere Versicherte verwendet werden. Die Antragsgegnerin wäre deshalb in diesem Fall auf den Weg des Schadensersatzes nach § 935 ZPO verwiesen, der bei so teuren Hilfsmitteln wie im vorliegenden Fall (5.670,00 EUR im Jahre 2013) regelmäßig nur schwer durchzusetzen wäre. Deshalb sind an das Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen für den Behinderungsausgleich als Voraussetzungen eines Anordnungsanspruchs im einstweiligen Verfahren die gleichen Anforderungen zu stellen wie für einen Anspruch in einem Hauptsacheverfahren, zumal der Antragsteller bei einer stattgebenden einstweiligen Entscheidung an der Durchführung eines solchen Hauptsacheverfahrens wegen der vollen Vorwegnahme der Hauptsache kein Interesse mehr haben dürfte, so dass eine endgültige Klärung der zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfrage für die Antragsgegnerin nur schwer zu erlangen wäre.

c) Auch wenn der Antragsteller durch sein detailliertes Vorbringen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zahlreiche Anhaltspunkte dafür vorgebracht hat, dass die von ihm begehrten Hörgeräte zu den besten und fortschrittlichsten technisch weiterentwickelten Hilfsmitteln in diesem Bereich gehören und ihm im Vergleich der getesteten Geräte für seine Hörfähigkeit den besten Behinderungsausgleich gewähren, so dass sie dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts auf diesem Gebiet entsprechen könnten, bleiben daran im Hinblick auf das schlüssige Vorbringen der Antragsgegnerin nicht unerhebliche Zweifel, die durch eine Beweiserhebung ausgeräumt werden müssen. Aus der von der Antragsgegnerin eingeholten Stellungnahme des im Antrag des Antragstellers genannten Leistungserbringers vom 26. November 2013 ist zu entnehmen, dass das Sprachverstehen unter Störgeräuschen bei Verwendung der begehrten Hörgeräte gegenüber den getesteten zuzahlungsfreien Geräten arithmetisch nur unwesentlich, d.h. um jeweils 5%, höher lag. Darüber hinaus hat der Leistungserbringer in seinem Bericht über die Hörgeräteversorgung an die Antragsgegnerin auf einem ihm übersandten Vordruck unter dem 15. August 2012 berichtet, dass die dem Antragsteller angebotenen eigenanteilsfreien Hörgeräte geeignet seien, den bei ihm bestehenden Hörverlust ausreichend auszugleichen. Auf die weiteren Aufklärungsbemühungen der Antragsgegnerin hat im Februar 2013 ein Mitarbeiter des Leistungserbringers hierzu ergänzend ausgeführt, dass der Antragsteller sich die begehrten Geräte aus rein subjektivem Empfinden ausgesucht habe, denn die zuzahlungsfreien Geräte seien ausreichend. So habe der Antragsteller bei der Messung mittels Freiburger Sprachtest mit den zuzahlungsfreien Geräten im Anpassraum die nach den Hilfsmittel-Richtlinien vorgeschriebene Verbesserung des Sprachverstehens erreichen können (Schreiben des Leistungserbringers vom 25. September 2012). Bei dieser Sachlage bedürfte es deshalb weiterer Ermittlungen zur Feststellung, mit welchen Hörgeräten der Antragsteller zum Ausgleich der Behinderung optimal, aber gleichwohl ausreichend im Sinne des Krankenversicherungsrechts versorgt wäre; zur Beurteilung der hierbei zu klärenden medizinischen und technischen Fragen müssten ein medizinischer Sachverständiger und ein sachverständiger Hörgeräteakustiker eingeschaltet werden. In diesem Zusammenhang wird auch zu klären sein, welche Bedeutung den arithmetischen Abweichungen beim Sprachverstehen bei den getesteten Geräten medizinisch und akustisch zukommt. Erst danach kann über den Versorgungsanspruch des Antragstellers abschließend entschieden werden. Diese Fragen sind im Hauptsacheverfahren zu klären.

2.) Die Sozialgerichte dürfen sich bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsacheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 (74); 94, 166 (216); NJW 2003,1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Umbach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 RdNr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. NZS 2000, 510 ff.). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 (73)). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, dass diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 ( 218)) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgenabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtsschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt: Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 10. Februar 2014, L 9 KR 293/13 B ER, juris).

3.) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze steht dem Antragsteller bei einer Folgenabwägung kein Anspruch auf die Versorgung mit dem begehrten Hilfsmittel zu. Dabei lässt sich der Senat von folgenden Überlegungen leiten: Die Antragsgegnerin ist bereit, den Antragsteller mit den getesteten zuzahlungsfreien Geräten zu versorgen; diese Geräte hat der vom Antragsteller ausgewählte Leistungserbringer – wie oben dargestellt – für den hier maßgeblichen Behinderungsausgleich als ausreichend beschrieben. Vor diesem Hintergrund ist es dem Antragssteller bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zuzumuten, von dieser Bewilligung Gebrauch zu machen, die bewilligten Hilfsmittel anzunehmen und seinen Versorgungsanspruch mit der von ihm gewünschten Alternativversorgung in einem Hauptsacheverfahren weiterzuverfolgen. Denn es ist nicht erkennbar, dass er in diesem Fall schwerwiegenden, nicht wieder rückgängig zu machenden Nachteilen ausgesetzt wäre. Entspräche die von ihm gewünschte Versorgung dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts und wäre nur sie ausreichend i.S.d. § 12 SGB V, hätte die Antragsgegnerin mit der Zurverfügungstellung eines anderen Hilfsmittels seinen Leistungsanspruch nicht erfüllt mit der Folge, dass er trotz anderweitiger Versorgung dessen Erfüllung weiterhin verlangen könnte. Demgegenüber würde die Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu den oben bereits beschriebenen, für sie nur schwer rückgängig zu machenden Nachteilen führen, so dass ihren Interessen deshalb hier der Vorrang zukommt. Das Gleiche gilt, soweit vom Antragsteller erstmals im Beschwerdeverfahren ein Versorgungsanspruch mit dem Nachfolgemodell der ursprünglich begehrten Hörgeräte geltend gemacht wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens selbst.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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