L 28 AS 2430/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
28
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 189 AS 20381/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 28 AS 2430/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Bemerkung
Auf die Beschwerden der Antragstellerinnen wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 04. September 2014 aufgehoben. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellerinnen vorläufig Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 25. August 2014 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. Januar 2015 in Höhe von insgesamt 126,42 Euro für die Zeit vom 25. bis zum 31. August 2014 und in Höhe von insgesamt 541,80 Euro monatlich für die Zeit vom 01. September 2014 bis zum 31. Dezember 2014 sowie für den Monat Januar 2015 in Höhe von insgesamt 553,20 Euro zu zahlen. Die Beschwerden gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerinnen in beiden Rechtszügen. Die Anträge auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung der Prozessbevollmächtigten der Antragstellerinnen werden abgelehnt.

Gründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerinnen gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit dem ihr Antrag auf einstweilige Zahlung von Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für die Dauer von sechs Monaten abgelehnt worden ist, ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Handelt es sich - wie hier - um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen - ggf. vermindert auf das absolut erforderliche Minimum - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind (vgl. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 - L 19 B 687/06 AS ER -, zitiert nach juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind den Antragstellerinnen jedenfalls im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zu gewähren.

Die Voraussetzungen für die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Arbeitslosengeld II für die Antragstellerin zu 1) nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II bzw. Sozialgeld (§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II) für die mit ihr in einer Bedarfsgemeinschaft lebende minderjährige Antragstellerin zu 2) sind ab dem 25. August 2014, dem Zeitpunkt der Anbringung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bei Gericht, gegeben. Die 21-jährige Antragstellerin zu 1) ist erwerbsfähig. Ihrer Erwerbsfähigkeit stehen weder körperliche (§ 8 Abs. 1 SGB II) noch rechtliche (§ 8 Abs. 2 SGB II) Gründe entgegen. Sie hat bereits bei der Antragstellung auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II am 21. Juli 2007 gegenüber dem Antragsgegner erklärt, gesundheitlich in der Lage zu sein, Tätigkeiten von mindestens drei Stunden täglich ausüben zu können. Anhaltspunkte dafür, dass sich daran etwas geändert haben könnte, sieht der Senat nicht. Nach Ablauf der Übergangszeit zum 31. Dezember 2013 (vgl. Vertrag über den Beitritt der Republik Bulgarien und Rumänien zur Europäischen Union vom 25. April 2005 (BGBl II 2006 S. 1146)) bedarf die Antragstellerin zu 1) auch keiner Arbeitserlaubnis.

Die Antragstellerinnen haben außerdem glaubhaft gemacht, hilfebedürftig zu sein.

Als Bulgarinnen sind die Antragstellerinnen Bürgerinnen der Europäischen Union und genießen Freizügigkeit, ohne dass es eines Aufenthaltstitels bedarf (§ 2 Abs. 4 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU)). Die Antragstellerin zu 1) hat außerdem seit Oktober 2013 dauerhaft ihren gewöhnlichen Aufenthalt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II) im Sinne von § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) in der Bundesrepublik Deutschland. Danach hat jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik soll - auch im Sinne einer Missbrauchsabwehr - ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – m. w. N.). Das BSG hat in der genannten Entscheidung klar gestellt, dass es der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II für den Bereich des SGB II zuwiderläuft, wenn unter Berufung auf eine sog. Einfärbungslehre dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus aufgestellt werden. Ein zu dem gewöhnlichen Aufenthalt hinzutretendes Tatbestandsmerkmal im Sinne des Innehabens einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügigkeitsG/EU bzw. eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz fehlt im SGB II. Vielmehr hat der Gesetzgeber mit § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in einer anderen Regelungssystematik ein Ausschlusskriterium von SGB II - Leistungen nur für diejenigen Ausländer vorgesehen, deren "Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt". Unabhängig hiervon liegt eine fehlende Dauerhaftigkeit des Aufenthalts im Sinne einer nicht vorhandenen Zukunftsoffenheit bei Unionsbürgern regelmäßig nicht vor, weil ihr Aufenthalt nicht nach einer bereits vorliegenden Entscheidung der dafür allein zuständigen Ausländerbehörde auflösend befristet oder auflösend bedingt ist. Die Antragstellerinnen verfügen zwar nicht über eine Freizügigkeitsbescheinigung (§ 5 FreizügkeitG/EU; entfallen durch Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des FreizügigkeitsG/EU und weitere aufenthaltsrechtlicher Vorschriften vom 21. Januar 2013), der ohnehin nur deklaratorische Bedeutung zukam, weil sich das Freizügigkeitsrecht unmittelbar aus Gemeinschaftsrecht ergibt. Bei Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten kann jedoch der Aufenthalt nur unter den Voraussetzungen der §§ 5, 6 und 7 FreizügkeitsG/EU wegen des Wegfalls, des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, also nach Durchführung eines Verwaltungsverfahrens, beendet werden (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – m. w. N.). Vorliegend gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass die Ausländerbehörde im Fall der Antragstellerinnen Maßnahmen ergriffen hat, um ihren Aufenthalt zu beenden.

Der Senat sieht es auch als glaubhaft gemacht an, dass die Antragstellerin zu 1) ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende im Sinne von § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 FreizügigkeitsG/EU hat. Die Antragstellerin zu 1) hat zu keiner Zeit ausgeschlossen, arbeiten zu wollen, sei es als Selbständige, sei es als Arbeitnehmerin. Allein der Hinweis auf die gerade erfolgte Geburt der Antragstellerin zu 2) und die damit einhergehenden Beschwernisse, wenn ein Platz in einer Kindertagesstätte oder eine andere Versorgungsmöglichkeit des Säuglings – noch – nicht zur Verfügung steht, schließt eine berufliche Tätigkeit nicht aus. Das ergibt sich bereits aus der Ausnahmeregelung in § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II, wonach einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person nur dann nicht jede Arbeit zumutbar ist, wenn u. a. die Ausübung der Arbeit die Erziehung ihres Kindes gefährden würde.

Letztlich hält der Senat hält die Frage, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegenüber Unionsbürgern, die sich wie die Antragstellerin zu 1) zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik aufhalten, Geltung beanspruchen kann oder ob (vorrangige) europarechtliche Regelungen ihn entweder verdrängen oder er zumindest in deren Lichte europarechtskonform in seinem Anwendungsbereich für Unionsbürger einschränkend auszulegen ist, nach wie vor für offen (vgl. Beschluss des Senats vom 21. Mai 2014 - L 28 AS 1130/14 B ER -). Es ist deshalb allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, bei der abzuwägen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, sich die zugrunde liegenden Normen aber als europarechtswidrig erweisen sollten, gegenüber der Lage, die entstünde, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl die Normen im Einklang mit Europarecht stehen. Die Folgenabwägung ist nach diesen Grundsätzen zu Gunsten der hilfebedürftigen Antragstellerinnen zu treffen gewesen.

Die Höhe der Leistungen zur Deckung des Regelbedarfs ergibt sich nach einem hier im Wege der Folgenabwägung vorgenommenen Abschlag von 20% von dem Regelbedarf für die Antragstellerin zu 1) in Höhe von je 312,80 Euro für die Monate September bis Dezember 2014, für den Monat August 2014 anteilig (§ 41 Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB II) in Höhe von 72,99 Euro und für den Monat Januar 2015 (aufgrund der Erhöhung des Regelbedarfs von 391,- Euro auf 399, Euro) in Höhe von 319,20 Euro. Das Sozialgeld für die Antragstellerin zu 2) beträgt 229,- Euro, im Januar 234,- Euro. Für den Monat August beträgt das Sozialgeld anteilig 53,43 Euro. Kosten der Unterkunft und Heizung fallen für die Antragstellerinnen nicht an. Damit sind für die Zeit vom 25. bis zum 31. August 2014 insgesamt 126,42 Euro zuzusprechen, für die Zeit vom 01. September 2014 bis zum 31. Dezember 2014 541,80 Euro monatlich und für den Monat Januar 2015 553,20 Euro. Während dieses Zeitraums zufließendes Kindergeld sowie weiteres Einkommen sind darauf anzurechnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog.

Die Anträge auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren werden abgelehnt, da die Antragstellerinnen aufgrund der unanfechtbaren Entscheidung über die Kostenerstattung in der Lage sind, die Kosten des Verfahrens selbst zu tragen. Aus diesem Grund sind auch die Beschwerden gegen den Beschluss, soweit mit ihm die Anträge auf Prozesskostenhilfe abgelehnt worden sind, zurückzuweisen.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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