L 11 R 2080/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Ulm (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 1144/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 2080/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19.12.2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Die 1964 geborene Klägerin absolvierte eine Ausbildung zur Keramikerin und war in diesem Beruf zwei Jahre versicherungspflichtig beschäftigt. Nach vorübergehender Selbständigkeit mit einem Partyservice war die Klägerin sodann als Helferin in einem Heim für Behinderte und zuletzt als Servicekraft in Vollzeit versicherungspflichtig beschäftigt. Seit Juni 2010 ist sie arbeitslos, wobei sie zeitweise geringfügig versicherungspflichtige Beschäftigungen ausübte. Aktuell bezieht sie Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Vom 11.02.2008 bis 18.03.2008 befand sich die Klägerin in psychosomatischer stationärer Behandlung im Klinikum S ... Laut Entlassungsbericht vom 27.03.2008 wurden folgende Diagnosen gestellt:

• Rezidivierende depressive Störung, mittelgradige Episode • Chronischer Cannabisabusus • Chronischer Nikotinabusus • Hyperhidrosis palmares et plantares • Spreizfuß

Die behandelnden Ärzte empfahlen eine weiterführende Psychotherapie nach der Entlassung, um eine weitere Stabilisierung und eine erneute Dekompensation zu vermeiden.

Am 28.06.2011 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Sie verwies auf den Entlassungsbericht des Klinikums S. und trug vor, sie leide unter Depressionen, Schlafstörungen, Ängsten, chronischen Rückenschmerzen, Erschöpfung und Schwindel. Die Beklagte veranlasste daraufhin die neurologisch-psychiatrische Begutachtung der Klägerin. Dr. H., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, diagnostizierte in seinem Gutachten vom 11.08.2011 aufgrund ambulanter Untersuchung vom selben Tag folgende Gesundheitsstörungen:

• Anpassungsstörung • Somatisierung • Wirbelsäulenbeschwerden bei degenerativen Wirbelsäulenveränderungen, zum Untersuchungszeitpunkt ohne radikuläre Symptomatik • Persönlichkeitsvariante

Nach Einschätzung des Gutachters könne die Klägerin leichte bis mittelschwere Tätigkeiten für sechs Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Einschränkungen verrichten. Sie befinde sich auch erst seit kurzem in ambulanter psychiatrischer Behandlung.

Mit Bescheid vom 18.08.2011 lehnte die Beklagte daraufhin den Antrag der Klägerin ab, weil die medizinischen Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht vorlägen.

Hiergegen richtete sich der am 12.09.2011 eingelegte Widerspruch der Klägerin. Zur Begründung trug die Klägerin vor, dass die schwere Depression nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Zudem sei es zwischenzeitlich zu einer Verschlechterung der gesundheitlichen Beschwerden gekommen.

Die Beklagte veranlasste daraufhin eine erneute sozialmedizinische Stellungnahme von Dr. H. und wies sodann den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.2012 unter Wiederholung und Vertiefung der Begründung des Ausgangsbescheids zurück.

Hiergegen richtet sich die am 05.04.2012 zum Sozialgericht Ulm (SG) erhobene Klage. Die Klägerin hat ergänzend vorgetragen, dass die bei ihr vorliegenden Gesundheitsstörungen eine mindestens sechs Stunden tägliche Erwerbstätigkeit nicht zulassen würden. Sie leide unter massiven Schlafstörungen, Erschöpfungssymptomatik und Antriebslosigkeit. Ihr Gesundheitszustand habe sich seit der stationären Behandlung im Jahr 2008 verschlimmert. Ihr berufliches Leistungsvermögen sei herabgesetzt und durch die persistierende Angstsymptomatik, welche von Panikattacken und Weinkrämpfen begleitet werde, eingeschränkt. Sie habe sich daher auch in eine teilstationäre Behandlung im Zentrum für Psychiatrie W., Haus der Gesundheit in Sch. G. (Z.) begeben. Schließlich sei ihr berufliches Leistungsvermögen durch die rezidivierende Schmerzsymptomatik im Bereich der Lendenwirbelsäule gemindert.

Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung schriftlicher sachverständiger Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte sowie Beiziehung des Entlassberichts des Z. vom 22.05.2013. Darüber hinaus hat es eine neurologisch-psychiatrische Begutachtung veranlasst. Dr. J. hat in seinem Gutachten vom 14.03.2013 aufgrund einer ambulanten Untersuchung vom 12.03.2013 folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert:

• Rezidivierende leichte bis mittelgradige depressive Episoden, zurzeit leichtgradig • Anamnestisch beschriebener Alkohol- und Cannabismissbrauch, zur Zeit keine Symptomatik erkennbar • Rezidivierende Lumbalgie, zurzeit ohne wesentliche Beeinträchtigung und ohne radikuläre Symptome

Nach Einschätzung des Sachverständigen sei die Klägerin in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.

Mit Urteil vom 19.12.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klägerin erfülle die Voraussetzungen einer Erwerbsminderungsrente nicht. Das SG hat sich dabei auf das Gutachten von Dr. J. und ergänzend auch auf die Ausführungen von Dr. H. im Verwaltungsverfahren gestützt. Auch der behandelnde Nervenarzt Dr. G. gehe von einem über sechsstündigen Leistungsvermögen aus.

Gegen das ihren Bevollmächtigten am 11.04.2014 mittels Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil hat die Klägerin am 09.05.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, dass sich aus dem Entlassbericht des Z. W. eine schwerwiegendere Einschränkung des Leistungsvermögens entnehmen lasse. Der Einschätzung von Dr. J. könne nicht gefolgt werden. Darüber hinaus hätten sich inzwischen die orthopädischen Leiden weiter verschlechtert, so dass auch dies berücksichtigt werden müsse.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 19.12.2013 sowie der Bescheid der Beklagten vom 18.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.03.2012 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung seit 01.06.2011 (auf Zeit) zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat den behandelnden Facharzt für Orthopädie, Dr. K., befragt. Dieser hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 21.07.2014 mitgeteilt, dass sich die Klägerin erstmals am 30.05.2014 vorgestellt habe. Nach seiner Einschätzung sei die Klägerin weiterhin in der Lage leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr zu verrichten.

Im Erörterungstermin vor dem Berichterstatter am 29.10.2014 wurde darauf hingewiesen, dass beabsichtigt ist, das Verfahren durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 SGG zu entscheiden. Die Beteiligten erhielten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und sowie des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Der Senat entscheidet über die Berufung gemäß § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung und ohne Beteiligung ehrenamtlicher Richter, da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Die Beteiligten sind zu der beabsichtigten Verfahrensweise angehört worden.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft und zulässig, in der Sache jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten 18.08.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 20.03.2012 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Das angefochtene Urteil des SG ist daher nicht zu beanstanden.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Artikel 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554).

Versicherte haben nach § 43 Abs Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise Erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt.

Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünftagewoche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Die Klägerin kann zur Überzeugung des Senats unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes täglich noch mindestens sechs Stunden arbeiten und ist deshalb nicht erwerbsgemindert (§ 43 Abs 3 SGB VI). Diese Überzeugung schöpft der Senat aus dem nachvollziehbaren und plausiblen Sachverständigengutachten durch Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. vom 14.03.2013.

Dr. J. hat in seinem Sachverständigengutachten vom 14.03.2013 folgende Diagnosen gestellt:

• Rezidivierende leichte bis mittelgradige depressive Episoden, zurzeit leichtgradig • Anamnestisch beschriebener Alkohol- und Cannabismissbrauch, zur Zeit keine Symptomatik erkennbar • Rezidivierende Lumbalgie (zurzeit ohne wesentliche Beeinträchtigung und ohne radikuläre Symptome)

Diese Diagnosen leiten sich für den Senat nachvollziehbar und schlüssig aus den erhobenen Befunden ab. Aufgrund dieser Feststellungen hat Dr. J. dem Senat überzeugend dargelegt, dass die Klägerin auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet leichte und gelegentlich auch mittelschwere körperliche Tätigkeiten in einem zeitlichen Umfang von mindestens sechs Stunden täglich verrichten kann. So fand sich bei der Untersuchung durch Dr. J. lediglich eine leichtgradige depressive Symptomatik ohne Störung der Kontaktfähigkeit und der Konzentrationsfähigkeit bei erhaltener Psychomotorik. Ein sozialer Rückzug konnte dem Tagesablauf der Klägerin nicht entnommen werden. Insoweit stimmt die Leistungseinschätzung auch mit der quantitativen Leistungseinschätzung von Dr. H. dem Gutachten aus dem Verwaltungsverfahren überein.

Auch von den Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet geht keine quantitative Leistungsminderung aus. Dies hat der behandelnde Orthopäde Dr. Ke. im Verfahren vor dem Sozialgericht und auch gegenüber dem Senat bestätigt. Dem entspricht auch, dass Dr. J. bei seiner Untersuchung im März 2013 im Bereich der Wirbelsäule keine wesentliche Beeinträchtigung und keine radikulären Symptome fand.

Schließlich fehlen auch Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre. Den Einschränkungen wird größtenteils bereits durch den Umstand Rechnung getragen, dass nur leichte Arbeiten zumutbar sind. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5 ARKN 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996 in BSGE 80, 2, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag unter Berücksichtigung nicht arbeitsmarktunüblicher qualitativer Leistungseinschränkungen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit der Kläger noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 letzter Halbsatz SGB VI).

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI. Voraussetzung eines solchen Rentenanspruchs ist (vgl § 240 SGB VI), dass die Klägerin vor dem 02.01.1961 geboren und berufsunfähig ist. Da die Klägerin 1964 geboren ist, scheidet schon aus diesem Grund eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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