S 30 R 1853/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 30 R 1853/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
§ 86 SGG ist nicht auf den Fall der Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes anwendbar. § 96 Abs. 1 SGG findet im Falle der Ersetzung des angefochtenen Verwaltungsaktes während des Vorverfahrens keine analoge Anwendung.
Die Klage wird abgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt Vormerkung weiterer Zeiten als Berufsmusiker in R vom 7. Oktober 1971 bis 9. Oktober 1974 unter Berücksichtigung der Einstufung in die Qualifikationsgruppe 2.

Der am 1944 in I (Russland) geborene Kläger beantragte am 11. April 2006 die Klärung seines Rentenkontos.

Mit Bescheid vom 1. April 2008 stellte die Beklagte in einem beigefügten Versicherungsverlauf enthaltene Daten verbindlich fest.

Hiergegen erhob der Kläger mit Schriftsatz seiner späteren Prozessbevollmächtigten vom 29. April 2008 Widerspruch.

Mit Bescheiden vom 16. März 2009 und 27. Mai 2009 erkannte die Beklagte weitere Zeiten als glaubhaft gemacht an.

Auf den Antrag des Klägers vom 10. August 2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger eine Regelaltersrente ab 1. August 2009 (Rentenbescheid vom 7. Oktober 2009). Der Rentenbescheid vom 7. Oktober 2009 enthielt eine Rechtsbehelfsbelehrung, wonach der Kläger Widerspruch gegen den Rentenbescheid erheben könne. Der Kläger erhob gegen den Rentenbescheid mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2009 Widerspruch. Die Beklagte stellte die Rente mit Bescheid vom 16. Februar 2010 neu fest. Mit Bescheid vom 28. Juni 2010 stellte die Beklagte eine Altersrente für langjährig Versicherte ab 1. Februar 2008 fest, die sie am 3. September 2010 neu feststellte und ab 1. Juli 2011 mit Bescheiden vom 7. Juni 2011 und 21. November 2011 sowie 7. Dezember 2012 neu berechnete.

Den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 1. April 2008 wies die Beklagte, soweit ihm nicht durch Bescheide vom 16. März 2009, 27. Mai 2009, 16. Februar 2010, 29. Juni 2010 und 8. Juni 2011 abgeholfen worden sei, zurück (Widerspruchsbescheid vom 11. März 2013). Der Kläger begehre noch Anerkennung einer Beschäftigung als Musiker von Oktober 1971 bis Oktober 1974. Diesem Begehren könne nicht entsprochen werden, da eine Beschäftigung als Musiker nicht nachgewiesen oder glaubhaft gemacht worden sei. Es sei nicht eindeutig belegt, wer Arbeitgeber des Klägers gewesen sein soll. Es sei daher auch keine Anstellung und damit kein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis ausreichend glaubhaft gemacht.

Mit der am 3. April 2013 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 1. April 2008 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11. März 2013 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Tätigkeit des Versicherten als Berufsmusiker in R im Zeitraum 7. Oktober 1971 bis 9. Oktober 1974 als glaubhaft gemachte Beitragszeit bei Einstufung in die Qualifikationsgruppe 2 vorzumerken und daraufhin den Rentenanspruch für die Zeit ab 1. Februar 2008 neu zu ermitteln.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie nimmt Bezug auf die Begründung des angefochtenen Bescheids.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die der Kammer bei Entscheidung vorlagen, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Die Beteiligten haben hierfür ihr Einverständnis erteilt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die Klage ist unzulässig.

Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 1. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 11. März 2013.

Eine Anfechtungsklage ist nur zulässig, wenn objektiv ein Verwaltungsakt vorliegt (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 54 Rn. 8a; Böttiger, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl., § 54 Rn. 42). Die bloße Behauptung des Klägers, es liege ein Verwaltungsakt vor, genügt nicht (Keller, aaO). Der Verwaltungsakt muss noch bestehen. Erledigt sich der angefochtene Verwaltungsakt nach § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) auf sonstige Weise, ist die Anfechtungsklage unzulässig (vgl. Keller, aaO; Bötticher, aaO).

Bei dem angefochtenen Bescheid vom 1. April 2008 handelt es sich um einen Vormerkungsbescheid nach § 149 Abs. 5 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).

Der angefochtene Vormerkungsbescheid hat sich durch den Erlass des (ersten) Rentenbescheides vom 7. Oktober 2009 auf sonstige Weise gemäß § 39 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erledigt (vgl. BSG, Urt. v. 14.12.2011 - B 5 R 36/11 R, Rn. 12; LSG Baden-Württemberg, Urt. v.23.09.2014 – L 13 R 2527/12, juris). Mit Erlass eines Rentenbescheids hat sich das Verfahren gegen einen Vormerkungsbescheid erledigt, weil es keiner bindenden Regelung der Versicherungszeiten mehr bedarf und der Streit um die Höhe der Rente ein anderer Streitgegenstand ist (Zeihe, SGG, § 96 Rn 4j). Die Klage gegen den Vormerkungsbescheid muss daher als unzulässig abgewiesen werden (Zeihe, aaO).

Die nachfolgenden Rentenbescheide sind nicht nach § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens betreffend den Vormerkungsbescheid vom 1. April 2008 geworden.

Nach § 86 SGG wird einer neuer Verwaltungsakt Gegenstand des Vorverfahrens, wenn der angefochtene Verwaltungsakt während des Vorverfahrens abgeändert wird.

Der Rentenbescheid vom 7. Oktober 2009 hat den Vormerkungsbescheid vom 1. April 2008 nicht abgeändert sondern ersetzt.

Auf den Fall der Ersetzung ist § 86 SGG nicht anwendbar (1.). Auch ist § 96 Abs. 1 SGG nicht auf Fälle der Ersetzung während des Vorverfahrens analog anwendbar (2.)

1.) § 86 SGG ist nach Wortlaut, historischer Auslegung, systematischer Auslegung und teleologischer Auslegung nicht auf den Fall der Ersetzung anzuwenden.

§ 86 SGG setzt nach seinem Wortlaut voraus, dass ein (zweiter) Verwaltungsakt einen angefochtenen Verwaltungsakt abändert (vgl. Lowe, in: Hintz/Lowe, SGG, 1. Aufl., § 86 Rn. 2). Die Ersetzung ist von der Abänderung nicht erfasst und kann insbesondere nicht als "radikalste Form der Abänderung" angesehen werden (so aber Bayerisches LSG, Urt. v. 2.12.2011 – L 16 AS 877/11 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 28.10.2013 - L 13 AS 437/13 B). Im Gesetz ist allein von "Abänderung" die Rede und nicht von "Änderung". Während das Wort "ändern" auch den Fall der Ersetzung umfasst, trifft dies auf den Begriff der "Abänderung" nicht zu. Der Begriff "Ändern" kann durchaus auch die Bedeutung "durch etwas anderes ersetzen" haben (http://www.duden.de/rechtschreibung/aendern). Demgegenüber bedeutet "abändern" lediglich etwas "ein wenig, in Teilen ändern" (http://www.duden.de/rechtschreibung/abaendern). Schon dem Wortlaut nach kann also eine Ersetzung nicht unter "Abänderung" subsumiert werden, da eine Ersetzung vorliegt, wenn der Erstbescheid vollständig aufgehoben und der Folgebescheid ganz an dessen Stelle tritt (Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 6. Aufl., Rn. 209). Eine vollständige Aufhebung ist offenbar nicht dasselbe wie eine Änderung in Teilen.

Die historische Auslegung anhand des ursprünglichen Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung ist unergiebig. Deutlich wird zunächst lediglich, dass das Gesetz von Anfang in zeitlicher Hinsicht unterschied, ob sich die Anfechtung des ursprünglichen Verwaltungsakts im Stadium des Vorverfahrens befindet oder im gerichtlichen Verfahren. § 34 Abs. 1 SGO-E erfasste nur den Fall der Abänderung des Verwaltungsaktes während des Vorverfahrens, während § 43 Abs. 1 SGO-E den Fall der Abänderung und Ersetzung während des gerichtlichen Verfahrens ("nach Klageerhebung") umfasste. Zu § 34 Abs. 1 SGO-E führt die Entwurfsbegründung lediglich aus, dass ein neuer Bescheid aus "Zweckmäßigkeitsgründen" von dem bereits eingelegten Widerspruch erfasst werden soll (BT-Drs. 1/4357, S. 27). Nähere Erläuterungen, wann der Gesetzgeber von einer Zweckmäßigkeit ausgeht, lassen sich nicht erkennen. Zu § 43 Abs. 1 SGO-E führt der Gesetzgebers aus, dass er den Rechtsgedanken des § 1608 Reichsversicherungsordnung (RVO) auf alle Streitigkeiten ausdehnt und durch die Vorschrift alle Bescheide "ergriffen werden, die den anhängigen Prozessstoff beeinflussen können" (BT-Drs. 1/4357, S. 27). Für die Auslegung des § 86 SGG ergibt sich hieraus nichts.

Es vermag nicht zu überzeugen, aus der Gesetzesbegründung zu § 34 Abs. 1 SGO-E den Rückschluss zu ziehen, dass die bloße Zweckmäßigkeit für die Einbeziehung eines neuen Verwaltungsakts ausreicht. Die genetische Auslegung ist nie allein maßgeblich, sondern nur, wenn sie im Gesetz auch ihren Niederschlag gefunden hat, da gemeinhin der Grundsatz gilt, dass das Gesetz klüger ist als die Väter und Mütter des Gesetzes (vgl. Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, 10. Aufl., § 28 Rn. 60, mwN). Das Gesetz knüpft ausdrücklich nicht an die Zweckmäßigkeit der Einbeziehung an, sondern an eine Abänderung des angefochtenen Verwaltungsaktes.

Systematisch ist die Auslegung nachgerade zwingend, dass § 86 SGG nicht den Fall der Ersetzung betrifft (vgl. bereits SG Berlin, Urt. v. 16.05.2012 - S 205 AS 11726/09, Rn. 35, juris). Nach § 96 Abs. 1 SGG wird ein nachfolgender Verwaltungsakt einbezogen, der den ursprünglichen abändert oder ersetzt. Dies zeigt, dass das Gesetz zwischen Abänderung und Ersetzung unterscheidet und die Vorschrift, die ihrem Wortlaut nach nur einen Fall erfasst, auch nur auf diesen zur Anwendung gelangt. Soweit angeführt wird, es sei nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber im Vorverfahren eine restriktivere Regelung schaffen wollte als im Klageverfahren (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 28.10.2013 - L 13 AS 437/13 B), so überzeugt dies nicht, da das Gesetz bereits offenkundig hinreichende Anhaltspunkte für eine unterschiedliche Regelung bietet, in dem nach dem eindeutigen Wortlaut ersichtlich unterschiedliche Regelungen getroffen werden.

Der Sinn und Zweck der Regelung spricht schließlich auch gegen die Anwendung des § 86 SGG auf den Fall der Ersetzung. Der Sinn und Zweck einer Regelung ist anhand der üblichen Auslegungstopoi, unter anderem auch der Rechtssystematik zu ermitteln (vgl. nur Wolff/Bachof/Stober, aaO). Wie dargetan, lassen Wortlaut und Systematik eine Bestimmung des Sinn und Zweck dahingehend, dass auch eine Ersetzung erfasst wird, nicht zu. Angesichts des Wortlauts und der systematischen Auslegung ist die Bestimmung des Sinn und Zwecks dahingehend, eine umfassende Erledigung des Streitstoffs in einem Widerspruchsverfahren unter Einbeziehung aller Folgebescheide zu erreichen (so LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 28.10.2013 - L 13 AS 437/13 B) nicht überzeugend. Wäre diese Bestimmung des Sinn und Zwecks zutreffend, dürfte über die Frage, ob Bescheide über Folgezeiträume im Recht der Grundsicherung für Arbeitssuchende und im Recht der Sozialhilfe einzubeziehen sind, gar kein Streit bestehen. Bei einem so definierten Sinn und Zweck wäre eine Einbeziehung zweifelsfrei zu bejahen. Tatsächlich ist Einbeziehung von Folgebescheiden umstritten (vgl. nur Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl., § 86 Rn. 13, mwN). Überdies steht eine solche weitgehende Bestimmung des Sinn und Zwecks der Norm mit dem Wortlaut und der systematischen Auslegung nicht in Einklang. Der Allgemeinplatz, die Vorschrift diene der Verfahrens- und Prozessökonomie, ist für eine Definition des Sinn und Zwecks der Norm schlechterdings ungeeignet, da sie keine Abgrenzung verschiedener Fälle ermöglicht. Mit dieser Begründung könnte schlicht jedweder Bescheid Gegenstand des Vorverfahrens werden, der nach einem Widerspruch ergeht und dieselbe Person betrifft. Wie bereits erläutert, hat die vom Gesetzgeber möglicherweise beabsichtigte Einbeziehung bei bloßer Zweckmäßigkeit keinen Niederschlag im Gesetz gefunden.

2.) Eine analoge Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG (vgl. nur Francke/Dörr, Verfahren nach dem Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl., S. 77) scheidet schon deshalb aus, weil keine planwidrige Regelungslücke festgestellt werden kann. Der Gesetzgeber hat sich erst jüngst intensiv mit der von ihm als ausufernd angesehenen Rechtsprechung zu § 96 SGG befasst. Aufschlussreich ist daher die Entwurfsbegründung zu § 96 SGG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26. März 2008 (BGBl. I, S. 444). Der Gesetzgeber wendet sich ausdrücklich gegen eine extensive Auslegung der Vorschrift durch die Rechtsprechung, die auch Verwaltungsakte einbezogen hat, wenn er mit dem ursprünglichen in irgendeinem tatsächlichen oder rechtlichen Zusammenhang stand (BT-Drs. 16/7716, S. 19). Künftig solle die Einbeziehung des neuen Verwaltungsaktes – entsprechend der ursprünglichen Zielsetzung der Norm – nur noch möglich sein, wenn nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen Verwaltungsakt ersetzt oder abgeändert wird (BT-Drs. 16/7716, S. 19). Zwar wurde hierdurch nicht der Wortlaut des § 86 SGG verändert, indes hat sich das Verständnis der Norm an dem gesetzgeberischen Willen zu orientieren, sodass eine analoge Anwendung der Vorschrift nicht mehr in Betracht gezogen werden kann (vgl. Lowe, in: Hintz/Lowe, SGG, 1. Aufl., § 86 Rn. 5; Becker, in: Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Aufl., § 86 Rn. 13; Hintz, in: BeckOK-SozR, Stand: 01.09.2014, § 86 SGG Rn. 3; HK-Binder, SGG, 4. Aufl., § 86 Rn. 3; a. A. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86 Rn. 3).

Es besteht auch keine für eine analoge Anwendung des § 96 Abs. 1 SGG vergleichbare Sachlage. Zum einen ist zwischen Vorverfahren und Klageverfahren zu unterscheiden. Zum anderen ist eine so "radikale Abänderung" wie die Ersetzung qualitativ von einer Abänderung, bei der sich lediglich um eine geringfügige Änderung handelt, zu unterscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Rechtskraft
Aus
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