L 1 KR 255/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 208 KR 218/13
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 255/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Befreiungsantrag nach § 8 SGB V kann schon vor Beginn der Versicherungspflicht gestellt werden.
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Wirksamkeit der durch die Beklagte erteilten Befreiung von der gesetzlichen Versicherungspflicht der Studenten.

Der Kläger beantragte auf einem Formular der Beklagten am 2. August 2010 die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht als Student, weil er sich zum Wintersemester 2010/2011 einschreiben werde. Er sei seit Januar 2009 bei der H Krankenversicherung auf Gegenseitigkeit privat krankenversichert. In dem dem Antragsformular beigefügten Informationsblatt werden die Antragsteller (in Fettdruck) darauf hingewiesen, dass die Befreiung nicht widerrufen werden könne. Mit dem Antragsformularschreiben unterschrieb der Kläger, dieses Informationsblatt erhalten zu haben und über die möglichen Konsequenzen einer Befreiung informiert worden zu sein.

Mit Bescheid vom selben Tag befreite die Beklagte den Kläger ab 1. Oktober 2010 von der Krankenversicherung der Studenten. Dies gelte auch für die Pflegeversicherung. Der Kläger ist seit dem 1. Oktober 2010 an der Universität Potsdam immatrikuliert.

Gut zwei Jahre später, mit Schreiben vom 11. Oktober 2012, widerrief der Kläger seinen Antrag und focht ihn zusätzlich an, da er die Rechtslage damals so verstanden habe, nur versicherungsfrei zu werden, nicht aber bereits für das gesamten Studium befreit zu werden. Außerdem sei er damals noch kein Student gewesen, was nach § 8 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) jedoch vorgeschrieben sei. Sein Antrag sei deshalb nicht gültig gewesen. Nach seiner Erinnerung habe die Sachbearbeiterin auch nie von einer Befreiung für das gesamte Studium gesprochen und auch nicht über eine Unwiderruflichkeit. Er habe deshalb solches auch nicht unterschrieben. Dass es in dem Antragsschreiben heiße, er habe ein Informationsblatt erhalten, stimme so nicht. Er habe nur einen Bescheid erhalten.

Mit Schreiben vom 29. Oktober 2012 unter dem Betreff "Widerspruch zum Antrag vom 2.08.2010 – Befreiung von der Kranken- und Pflegeversicherungspflicht der Studenten –" teilte die Beklagte dem Kläger mit, die vorgetragenen Gründe geprüft zu haben und dem Widerspruch nicht abhelfen zu können.

Sie wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2013 zurück. Der Kläger sei ausreichend über die Folgen seines Befreiungsantrags informiert worden und habe den Erhalt der Information mit seiner Unterschrift bestätigt. Es sei nicht wahrscheinlich, dass das Informationsblatt, welches bei der Beklagten automatisch zusammen mit dem Befreiungsantrag ausgedruckt werde, nicht übergeben worden sei. Ebenso unwahrscheinlich sei es, dass er im Zuge der persönlichen Vorsprache nicht ausreichend über die Folgen der Befreiung aufgeklärt worden sei. Diese Aufklärungsgespräche gehörten zum täglichen Geschäft der Sachbearbeiter. Die seinerzeit zuständige Mitarbeiterin habe dokumentiert, dass der Kläger sich nach ausführlicher Beratung habe befreien lassen wollen. Da der Antrag im August 2010 ausdrücklich für das Studium mit Semesterbeginn 2010/2011 gestellt worden sei, gehe der Einwand fehl, dass der Antrag ungültig sei.

Hiergegen hat der Kläger am 5. Februar 2013 Klage vor dem Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Die erfolgte Befreiung sei nicht wirksam. Ein Antrag auf Befreiung könne nämlich erst innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Versicherungspflicht gestellt werden und damit frühestens mit der Immatrikulation, die am 2. August 2010 noch nicht erfolgt sei.

Er hat erstinstanzlich schriftlich beantragt, die Beklagte zu verurteilen, den rechtswidrigen Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 zurückzunehmen und festzustellen, dass der Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 rechtswidrig sei.

Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. August 2013 abgewiesen. Es hat das Begehren dahingehend ausgelegt, dass der Kläger beantrage, den Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2013 aufzuheben. Zur Begründung hat es auf den Widerspruchsbescheid verwiesen und ergänzend ausgeführt, die Antragsfrist nach § 8 Abs. 2 SGB V begrenze nur den Zeitraum nach hinten. Es sei der Regelfall, dass der Antrag schon vor Beginn der Versicherungspflicht für die Zukunft gestellt werde. Auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. Juni 1994 (Aktenzeichen 12 RK 25/93) könne sich der Kläger nicht berufen. In der dortigen Entscheidung sei es erkennbar um einen anderen Sachverhalt gegangen.

Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers vom 30. August 2013. Er bleibe bei seiner Auffassung, dass der Antrag erst nach bereits erfolgter Immatrikulation erfolgen könne, was aus der Verweisung in § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB V auf § 5 Abs. 1 Nr. 9 und 10 folge. § 8 Abs. 2 Nr. 5 SGB V spreche von Einschreibung. Damit sei die erfolgte Immatrikulation gemeint. Dass damit nur die Antragsfrist nach hinten gemeint sei, lasse sich weder dem Gesetz noch der vom Gericht zitierten Literatur entnehmen. Die Kommentarliteratur vertrete weitgehend einhellig die Auffassung, dass die Antragsfrist erst mit Eintritt der Versicherungspflicht beginne. Hätte der Gesetzgeber einen Antrag schon vor Beginn der Versicherungspflicht erlauben wollen, hätte er nicht die Wortfolge "ist ( ) nach Beginn ( )" gewählt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. August 2013 und den Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Januar 2013 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung. § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB sei eine Ausschlussfrist.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob das Begehren, den erteilten Befreiungsbescheid aus der Welt schaffen zu wollen, hier mit einer Anfechtungs- oder mit einer Verpflichtungsklage zu verfolgen ist. Das SG ist von Ersterem ausgegangen, weil die Beklagte das Widerrufsschreiben als Widerspruch gegen den Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 selbst angesehen hat, den sie ungeachtet der Verfristung auch sachlich beschieden hat. Gegen diese Annahme spricht zwar, dass die Erklärung im Schriftsatz vom 11. Oktober 2012 nach ihrem Wortlaut kein förmlicher Widerspruch ist, der Kläger vielmehr von der Unwirksamkeit der Befreiung auch ohne Aufhebung des Befreiungsbescheides ausgeht. Gegen die Bescheidung eines Widerspruches (nur) gegen den Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 selbst spricht ferner auch die Formulierung im Widerspruchsbescheid, der Kläger habe sich seinerzeit nicht gegen den Befreiungsbescheid gewandt.

Für die Annahme einer Anfechtungsklage spricht aber, dass die Beklagte das Widerspruchsschreiben von Anfang an als Widerspruchsschreiben behandelt hat und im Schreiben vom 29. Oktober 2012 nicht durch einen Verwaltungsakt eine Rücknahme des Befreiungsbescheides abgelehnt, sondern mitgeteilt hat, dem Widerspruch nicht abhelfen zu können. Auch im Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2013 behandelt die Beklagte selbst nur den Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 als Verwaltungsakt, nicht hingegen das Schreiben vom 29. Oktober 2012.

In der Sache hat die Klage jedenfalls keinen Erfolg, weil der Befreiungsbescheid vom 2. August 2010 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt.

Der Kläger hat den Befreiungsantrag nicht zu früh gestellt. Er hat ihn auch nicht wirksam angefochten.

Entgegen der Auffassung des Klägers lässt sich § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB V nicht entnehmen, dass der Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht erst wirksam gestellt werden kann, nachdem die Versicherungspflicht eingetreten ist. § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB V regelt nur, ab wann die Drei-Monats-Frist zu laufen beginnt, nach deren Ablauf eine Befreiung nicht mehr möglich ist. Der Antrag kann also bereits vor dem Beginn der Versicherungspflicht gestellt werden (ebenso ausdrücklich Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 8 Rdnr. 74 Stand VIII/X, Kruse in Hähnlein/Kruse/Schuler SGB V, 4. Auflage 2012, § 8 Rdnr. 16: "muss ( ) spätestens vorliegen"). Norminhalt der Antragsfrist ist der Beginn und der Ablauf der Frist. Die Kommentarliteratur beschäftigt sich auch nur insoweit mit der Gesetzesvorschrift. Bereits das SG hat auf Peters in Kasseler Kommentar SGB V, 7. Ergänzungslieferung 2013, § 8 Rdnr. 3 hingewiesen, wonach es die Befreiungstatbestände den versicherungspflichtig w e r d e n d e n Personen überlasse, ob sie der Versicherungspflicht ausweichen wollten oder nicht. Der vom Kläger gewünschte Regelungsgehalt hätte als Ausnahme zu § 18 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) formuliert sein müssen. Danach gibt es nämlich keinen verfrühten Antrag: Nach § 18 SGB X entscheidet die Behörde nämlich ganz allgemein nach pflichtgemäßen Ermessen, ob und wann sie ein Verwaltungsverfahren durchführt (Satz 1). Dies gilt nicht, wenn die Behörde aufgrund von Rechtsvorschriften 1. von Amts wegen oder auf Antrag tätig werden muss, oder 2. nur auf Antrag tätig werden kann und ein Antrag nicht vorliegt (Satz 2). § 18 Satz 2 Nr. 2 SGB X ist für Befreiungen von der gesetzlichen Versicherungspflicht nach § 8 SGB V einschlägig. Ohne Antrag darf die Krankenkasse nämlich keine Befreiung aussprechen. Ein Antrag lag jedoch am 2. August 2010 vor.

Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass das SG mit seiner Auffassung Recht hat, die Antragstellung vor Beginn der Versicherungspflicht sei nicht nur möglich, sondern stelle auch den Regelfall vor. Alles anderes wäre unpraktisch. Nach § 254 Satz 1 SGB V haben nämlich versicherungspflichtige Studenten vor der Einschreibung die Beiträge für das ganze Semester im Voraus an die zuständige Krankenkasse zu zahlen. Nach Satz 2 kann der Spitzenverband Bund der Krankenkasse eine andere Zahlungsweise vorsehen. Nach Satz 3 muss der Student der Hochschule den Nachweis der Erfüllung der ihm gegenüber der Krankenkasse auferlegten Verpflichtung nachweisen, ansonsten muss die Hochschule die Einschreibung verweigern. Der GKV Spitzenverband hat zwar in den Einheitlichen Grundsätzen zur Beitragsbemessung freiwillige Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung und weitere Mitgliedergruppen sowie zur Zahlung und Fälligkeit der von Mitgliedern selbst entrichteten Beiträge (Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler) vom 27. Oktober 2008 von der zitierten abweichenden Regelungsmöglichkeit Gebrauch gemacht. Nach § 10 Abs. 2 der Beitragsverfahrensgrundsätze Selbstzahler gilt abweichend von § 254 Satz 1 SGB V für die Zahlung der Beiträge der versicherungspflichtigen Studenten der allgemeine Grundsatz, dass die Beiträge bis zum 15. des dem Beitragsmonat folgenden Monats zu zahlen sind. Dies gilt jedoch nur, wenn die monatliche Zahlung der Beiträge sichergestellt ist. Der Student, der die Befreiung erst nach Semesterbeginn und erfolgter Einschreibung begehren dürfte, müsste demnach zunächst nachweisen, die Beiträge zur gesetzlichen Pflichtversicherung zahlen zu können, um (zunächst als Pflichtversicherter) immatrikuliert werden zu können. Erst danach könnte Befreiung beantragt werden. So bürokratisch ist das Gesetz nicht, weil der Antrag schon vorab gestellt werden kann.

Dass der Kläger das Informationsschreiben der Beklagten am 2. August 2010 nicht erhalten haben könnte, ist nicht ersichtlich. Der Irrtum, welche Folgen mit der Befreiung verbunden wäre, könnte nur ein unbeachtlicher Motivirrtum sein. Eine entsprechende Anwendung des § 119 Bürgerlichen Gesetzbuches scheidet deshalb aus.

Die Nebenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache. Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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