L 4 AS 179/13

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
4
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 53 AS 158/09
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 4 AS 179/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Der Umstand, dass allein die ursprünglichen Bewilligungsbescheide aufgehoben wurden, nicht jedoch die hinsichtlich dieser Bewilligungszeiträume ergangenen Änderungsbe-scheide, führt dazu, dass die von den Änderungsbescheiden geregelten Zeiträume nicht der Aufhebung unterfallen und daher auch die Erstattungsforderung schon aus diesem Grunde insoweit nicht berechtigt ist. Denn die Änderungsbescheide bilden nach ihrem Erscheinungsbild eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Zahlung der Leistungen für die von ihnen erfassten Monate (Rechtsprechung des Senats; vgl. Urteil vom 30.10.2012 – L 4 AS 117/10; ebenso BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 196/11 R).
2. Tatsachen im Sinne von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sind die Umstände, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ergibt, aber auch diejenigen Umstände, aus denen sich die weiteren Voraussetzungen einer Rücknahme, also etwa die für die Beurteilung der groben Fahrlässigkeit maßgeblichen Umstände ergeben. Daher läuft die Jahresfrist regelmäßig erst ab dem Abschluss der Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit, also der Anhörung. Hinsichtlich der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kann nicht auf die bloße Aktenkundigkeit der Umstände abgestellt werden, aus denen sich die Rechtswid-rigkeit ergibt, sondern vielmehr darauf, wann die Behörde die Rechtswidrigkeit des Be-scheides erkannt hat.
Auf die Berufung der Klägerinnen wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. April 2013 abgeändert und der Bescheid des Beklagten vom 15. September 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2008 aufgehoben. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerinnen zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Nachdem die Klägerin zu 1 in der mündlichen Verhandlung ihre Klage zurückgenommen hat, wenden sich nun noch die Klägerinnen zu 2 und 3 gegen die Aufhebung der Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2008 und die darauf beruhenden Erstattungsforderungen von insgesamt 12.012,- Euro.

Die Klägerin zu 1 ist 1973 geboren und lebt mit ihren beiden 1998 und 2002 geborenen Töchtern, den Klägerinnen zu 2 und 3, in einer Bedarfsgemeinschaft. Am 7. Dezember 2004 beantragte die Klägerin zu 1 für sich und die Klägerinnen zu 2 und 3 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II beim Beklagten. Auf dem Zusatzblatt 2 zum Antrag (Einkommenserklärung/Verdienstbescheinigung zum Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts) gab sie für die Klägerinnen zu 2 und 3 als Einkommen jeweils Kindergeld in Höhe von 154,- Euro monatlich und Unterhaltsvorschuss in Höhe von 122,- Euro (Klägerin zu 2) bzw. 164,- Euro (Klägerin zu 3) monatlich an. Mit Bescheid vom 10. Dezember 2004 bewilligte der Beklagte den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005 Leistungen in Höhe von monatlich 781,54 Euro. Dabei wurde ein Mehrbedarf für Alleinerziehende in Höhe von 124,- Euro berücksichtigt. Als Einkommen wurden das Kindergeld und der Unterhaltsvorschuss der Klägerinnen zu 2 und 3 angerechnet. Am 2. März 2005 erließ der Beklagte einen Änderungsbescheid, mit dem den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005 Leistungen in Höhe von monatlich 767,41 Euro bewilligt wurden. Aus dem Berechnungsbogen ergibt sich, dass gegenüber dem Bescheid vom 10. Dezember 2004 geringere Unterkunftskosten berücksichtigt wurden. Mit weiterem Änderungsbescheid vom 22. Juni 2005 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Januar 2005 bis zum 30. Juni 2005 Leistungen in Höhe von monatlich 827,41 Euro. Die Änderung wurde mit der "Berücksichtigung einer Pauschale" begründet; aus dem Berechnungsbogen ist ersichtlich, dass nunmehr von dem Einkommen der Klägerinnen zu 2 und 3 ein Freibetrag von jeweils 30,- Euro abgezogen wurde.

Am 20. Juni 2005 ging beim Beklagten ein Fortzahlungsantrag ein. Bei der Frage nach Änderungen in den Einkommensverhältnissen hatte die Klägerin zu 1 das Kästchen "Keine Änderungen" angekreuzt. In dem beigefügten Zusatzblatt 2.1 (Einkommenserklärung/Selbsteinschätzung zum Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts) hatte die Klägerin zu 1 angegeben: "Unterhalt A. in Höhe von 127 Euro monatlich; Unterhalt A1 in Höhe von 170 Euro monatlich". Mit dem Antrag reichte die Klägerin zu 1 Kopien der Änderungsbescheide zur Gewährung des Unterhaltsvorschusses ein. Aus diesen geht hervor, dass bei der Berechnung des Unterhaltsvorschusses für die Klägerinnen zu 2 und 3 jeweils das Kindergeld zur Hälfte angerechnet wurde. Mit Bescheid vom 22. Juni 2005 bewilligte der Beklagte den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 30. November 2005 Leistungen in Höhe von monatlich 1.000,41 Euro. Bei der Bedarfsberechnung war kein Mehrbedarf für Alleinerziehende berücksichtigt. Als Einkommen hatte der Beklagte lediglich den Unterhaltsvorschuss für die Klägerinnen zu 2 und 3 in Höhe von 127,- bzw. 170,- Euro monatlich, jeweils abzüglich eines Freibetrags von 30,- Euro, angerechnet. Am 1. November 2005 erließ der Beklagte einen weiteren Bescheid, mit dem den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 30. November 2005 Leistungen in Höhe von monatlich 1.124,41 Euro bewilligt wurden. Eine Begründung für die geänderte Bewilligung wurde nicht gegeben; aus dem Berechnungsbogen ergibt sich, dass nunmehr wieder ein Mehrbedarf für Alleinerziehende in Höhe von monatlich 124,- Euro berücksichtigt wurde.

In der Folgezeit ergingen weitere Bewilligungs- und Änderungsbescheide: Mit Bescheid vom 1. November 2005 bewilligte der Beklagte den Klägerinnen für den Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis zum 31. Mai 2006 Leistungen in Höhe von monatlich 1.124,41 Euro. Mit Bescheid vom 8. Mai 2006 bewilligte er für den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 30. September 2006 Leistungen in Höhe von monatlich 1.124,41 Euro. Am 25. August 2006 erging ein Änderungsbescheid, mit dem aufgrund einer Mieterhöhung für den Zeitraum vom 1. Juni 2006 bis zum 30. September 2006 Leistungen in Höhe von monatlich 1.131,52 Euro bewilligt wurden. Mit Bescheid vom 11. Oktober 2006 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Oktober 2006 bis zum 31. März 2007 Leistungen in Höhe von monatlich 1.131,52 Euro; mit Bescheid vom 13. Februar 2007 für den Zeitraum vom 1. April 2007 bis zum 30. September 2007 Leistungen ebenfalls in Höhe von monatlich 1.131,52. Mit Änderungsbescheid vom 1. Juni 2007 wurden wegen der Änderung der Regelsatzhöhe für den Zeitraum vom 1. Juli 2007 bis zum 30. September 2007 Leistungen in Höhe von monatlich 1.136,52 Euro bewilligt. Mit Bescheid vom 4. September 2007 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum vom 1. Oktober 2007 bis zum 31. März 2008 Leistungen in Höhe von monatlich 1.136,52 Euro; mit Bescheid vom 12. Februar 2008 für den Zeitraum vom 1. April 2008 bis zum 30. September 2008 Leistungen ebenfalls in Höhe von monatlich 1.136,52 Euro. Am 17. Mai 2008 erging wiederum ein Änderungsbescheid, mit dem wegen einer Erhöhung der Regelsätze für den Zeitraum vom 1. Juli 2008 bis zum 30. September 2008 Leistungen in Höhe von monatlich 1.147,52 Euro bewilligt wurden. Mit Änderungsbescheid vom 6. Juni 2008 wurden die Leistungen an eine Änderung der Unterhaltsvorschüsse angepasst und für den Zeitraum vom 1. Juli 2008 bis zum 30. September 2008 in Höhe von monatlich 1.108,52 bewilligt.

Nach dem Weiterbewilligungsantrag vom 26. August 2008 teilte der Beklagte mit Anhörungsschreiben vom 27. August 2008 der Klägerin zu 1 mit, nach seinen Erkenntnissen habe sie in der Zeit vom 1. Juli 2005 bis 30. September 2008 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 12.012,- Euro zu Unrecht bezogen. Sie habe während dieses Zeitraumes Einkommen aus Kindergeld für ihre Töchter erzielt. Dieses Einkommen habe zum Wegfall bzw. zur Minderung ihres Anspruchs geführt, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X). Deshalb seien von der Klägerin zu 1 Leistungen in Höhe von insgesamt 12.012,- Euro zu erstatten. Die Klägerin zu 1 nahm mit Schreiben vom 10. September 2008 Stellung: Nach der Umstellung der Leistungen auf das SGB II zu Beginn des Jahres 2005 habe sie sich den neuen Leistungsbescheid erklären lassen. Deutsch sei nicht ihre Muttersprache; zudem seien viele Formulierungen und die aufgeführten Tabellen für sie unverständlich gewesen. In diesem Bescheid seien alle Berechnungen korrekt gewesen; das Kindergeld, das sie bei Antragstellung angegeben habe, sei angerechnet worden. In der darauf folgenden Zeit seien keine Änderungen in ihrer Lebens- und Finanzsituation eingetreten, weshalb sie keine Veranlassung gehabt habe, Änderungen mitzuteilen. Sie habe nicht erkannt, dass von dem Beklagten aus ihr nicht bekannten und ihr niemals mitgeteilten Gründen eine Veränderung vorgenommen und das Kindergeld nicht mehr angerechnet worden sei. Sie habe dies nicht zu verantworten und müsse die Berechnung auch nicht besser verstehen als der hiermit befasste Sachbearbeiter. Sie sei davon ausgegangen, dass das ihr überwiesene Geld für sie und ihre Kinder zur Lebensführung bereit stehe, und habe das Geld verbraucht. Über Rücklagen verfüge sie nicht.

Am 15. September 2008 erließ der Beklagte einen an die Klägerin zu 1 gerichteten Aufhebungs- und Erstattungsbescheid. In diesem heißt es:

die Entscheidungen vom 22.06.05, 11.11.05, 08.05.06, 11.10.06, 13.02.07, 04.09.07, 12.02.08 über die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) werden vom 01.07.2005 bis 30.09.2008 für Ihre Kinder A.P. (geb. xxxxx.2002), A.P. (geb. xxxxx.2002) teilweise in Höhe von 12.012,00 Euro aufgehoben.

Leistungen für A.P. – geb. am xxxxx.2002 Erstattungszeitraum: 01.07.2005 – 30.09.2008 Sozialgeld 4.290,00 EUR Leistungen für Unterkunft und Heizung 1.716,00 EUR

Summe Zeitraum: 6.006,00 EUR

Leistungen für A.P. – geb. am xxxxx2002 Erstattungszeitraum: 01.07.2005 – 30.09.2008 Sozialgeld 4.290,00 EUR Leistungen für Unterkunft und Heizung 1.716,00 EUR

Summe Zeitraum: 6.006,00 EUR Es ergibt sich somit eine Gesamtforderung in Höhe von: 12.012,00 EUR

Der Bescheid erging an die Klägerin zu 1 als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder. Zur Begründung hieß es, die Töchter A1 und A. hätten während des genannten Zeitraums einen Anspruch auf Kindergeld gehabt. Mit den nachgewiesenen Einkommensverhältnissen seien sie nicht in bisher festgestellter und bewilligter Höhe hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II, ihr Leistungsanspruch bestehe daher nur noch in geringerer Höhe. Als Rechtsgrundlage wurde § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X genannt. Die zu Unrecht gezahlten Leistungen seien gemäß § 50 SGB X zu erstatten.

Mit Schreiben vom 2. Oktober 2008 erhob die Klägerin zu 1 Widerspruch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid. Sie habe stets wahrheitsgemäß die von ihr geforderten Angaben gemacht. Die gezahlten Leistungen seien verbraucht worden. Sie sei bei der Antragstellung nicht beraten worden und habe die Bescheide auch nicht verstanden. Sie habe nicht gewusst, dass das von ihr bezogene Kindergeld nicht angerechnet worden sei und richtigerweise bedarfsmindernd hätte berücksichtigt werden müssen. Zudem sei die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X abgelaufen. Der Beklagte habe seit der erstmaligen Antragstellung gewusst, dass Kindergeld gezahlt wurde.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2008 änderte der Beklagte den Bescheid vom 15. September 2008 dahingehend ab, dass die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 30. September 2008 jeweils in Höhe von 6.006,00 Euro zurückgenommen wurde. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Zur Begründung hieß es, die Rücknahme der Bewilligungsentscheidungen erfolge nach § 45 SGB X. Die Bewilligungsentscheidungen seien rechtswidrig gewesen, da das Kindergeld nicht angerechnet worden sei. Die Klägerin zu 1 habe das ohne weiteres erkennen können. Diese Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidungen sei ihren Töchtern zuzurechnen, da die Klägerin zu 1 ihre gesetzliche Vertreterin sei. Den Klägerinnen zu 2 und 3 seien jeweils 6.006,- Euro zu Unrecht gezahlt worden (39 Monate jeweils 154,- Euro). Insgesamt sei daher ein Betrag von 12.012,- Euro zu erstatten. Die Jahresfrist sei nicht überschritten, da der Beklagte erst im September 2008 bei der Bearbeitung des Weiterbewilligungsantrages für den Zeitraum ab dem 1. Oktober 2008 Kenntnis von dem Bearbeitungsfehler erhalten habe.

Am 16. Januar 2009 haben die Klägerinnen Klage erhoben und geltend gemacht, es fehle an einer ordnungsgemäßen Anhörung. Mit dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid seien Leistungen nur gegenüber der Klägerin zu 2 aufgehoben worden; dies sei zwar im Widerspruchsbescheid korrigiert worden, doch fehle es an einer vorherigen Anhörung hinsichtlich der Klägerin zu 3. Die Klägerin zu 1 sei davon ausgegangen, dass bei zutreffenden Angaben ihrerseits auch die Berechnung seitens des Beklagten zutreffe. Die Jahre 2004 und 2005 seien für sie eine schwierige Zeit gewesen. Ihre Ehe sei auseinandergegangen und es habe umfangreiche Streitigkeiten um das Sorgerecht für die Klägerinnen zu 2 und 3 gegeben. Sie habe damals überhaupt nicht über die Höhe der Leistungen nachgedacht, sondern sei mit der Auseinandersetzung um ihre Kinder beschäftigt gewesen.

In dem Erörterungstermin vom 15. Oktober 2012 hat das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass es wegen des Wechsels der Rechtsgrundlage für die Aufhebung an einer ordnungsgemäßen Anhörung fehle und dem Beklagten Gelegenheit gegeben, die Anhörung nachzuholen. Der Beklagte hat unter dem 24. Oktober 2012 ein erneutes Anhörungsschreiben an die Klägerin zu 1 gesandt. Die Klägerinnen haben sich hierzu mit Schreiben vom 1. November 2012 geäußert. Mit Schreiben vom 1. Februar 2013 hat der Beklagte mitgeteilt, dass er nach Kenntnis und Prüfung dieser Antwort an dem streitgegenständlichen Verwaltungsakt festhalte.

Die Klägerin zu 1 hat ihre Klage in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht am 15. April 2013 zurückgenommen.

Mit Urteil vom 15. April 2013 hat das Sozialgericht der Klage teilweise stattgegeben. Die Klage sei zulässig, insbesondere habe es für die Klägerin zu 3 vor Klagerhebung nicht eines gesonderten Widerspruchsverfahrens bedurft. Zwar stelle sich für die Klägerin zu 3 der Widerspruchsbescheid als Ausgangsbescheid dar. Hier gelte jedoch der Gedanke des § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO); diese Vorschrift regle ausdrücklich, dass ein Vorverfahren nicht erforderlich sei, wenn der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthalte. Die Klage sei auch teilweise begründet. Formell sei der angefochtene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid rechtmäßig. Zwar habe es zunächst an einer ordnungsgemäßen Anhörung gefehlt, der hierin liegende Verstoß gegen § 24 SGB X sei jedoch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid genüge ferner dem Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X. Er benenne die aufgehobenen Ausgangsbescheide sowie den betroffenen Zeitraum. Dass er die Änderungsbescheide nicht explizit aufhebe, führe nicht zur Unbestimmtheit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids, sondern habe lediglich Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Erstattungsforderung. Auch dass der Bewilligungsbescheid vom 1. November 2005 mit "11.11.2005" falsch bezeichnet werde, sei als offensichtliche Unrichtigkeit unschädlich. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei schließlich auch nicht deshalb zu unbestimmt, weil er innerhalb der Übersicht über die zu Unrecht erbrachten Leistungen nicht für jeden einzelnen Monat des Aufhebungszeitraums konkret benenne, in welchem Umfang die Leistungen aufgehoben würden. Es ergebe sich aus der Begründung des Widerspruchsbescheids eindeutig, dass gegenüber jeder der beiden Klägerinnen zu 2 und 3 für jeden Monat des betroffenen Zeitraums die Leistungen in Höhe von 154,- Euro hätten aufgehoben werden sollen. Damit sei auch klar erkennbar, in welcher Höhe den Klägerinnen zu 2 und 3 für jeden Monat Leistungen verbleiben sollten. Materiellrechtlich sei der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid jedoch überwiegend rechtswidrig. Rechtsgrundlage sei § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (in der bis 31.12.2010 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X. Danach dürfe ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt zurückgenommen werden, sofern schutzwürdiges Vertrauen nicht entgegenstehe. Die Bewilligungsbescheide betreffend den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 30. September 2008 seien zu Gunsten der Klägerinnen zu 2 und 3 rechtswidrig gewesen, weil ihr Einkommen aus Kindergeld in Höhe von monatlich 154,- Euro entgegen §§ 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht auf ihren Bedarf angerechnet worden sei. Die Klägerinnen zu 2 und 3 könnten sich wegen grober Fahrlässigkeit der Klägerin zu 1, auf die es hier ankomme, nach § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Die Klägerin zu 1 hätte bereits aus dem Verfügungsteil der Bescheide die Rechtswidrigkeit der Bewilligungen ohne weiteres erkennen können. Mit dem ersten den streitgegenständlichen Zeitraum betreffenden Bewilligungsbescheid seien den Klägerinnen monatlich 1.000,41 Euro bewilligt worden. Dies sei gegenüber der vorherigen Bewilligungssumme von 827,41 Euro eine Erhöhung um 173,- Euro, mithin um etwa 20%. Eine derartige Erhöhung ohne Änderungen der finanziellen Verhältnisse der Klägerinnen hätte jedem, der den Verfügungsteil des Bescheids durchlese und zur Kenntnis nehme, ins Auge fallen müssen. Auch wenn die Klägerin zu 1 nur über geringe Deutschkenntnisse verfügt haben sollte, hätte ihr diese Diskrepanz in der Höhe der bewilligten Leistungen auffallen müssen. Ebenso wenig seien die von der Klägerin zu 1 vorgetragenen besonderen Lebensumstände – Trennung vom Ehemann, Streitigkeiten um das Sorgerecht – geeignet, eine grobe Fahrlässigkeit zu verneinen. Denn gleichwohl gelte die Obliegenheit, Bewilligungsbescheide zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Die Aufhebung der ergangenen Bewilligungsbescheide sei jedoch ganz überwiegend nicht fristgemäß erfolgt und schon deshalb rechtswidrig. Nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X könne eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen, welche eine solche Rücknahme rechtfertigten. Vorliegend sei die Tatsache, dass die Klägerinnen zu 2 und 3 Kindergeld bezogen, bereits seit dem ersten Leistungsantrag im Dezember 2004 aktenkundig. Das genüge für die Kenntnis einer Tatsache; auf die konkrete Kenntnis des zuständigen Sachbearbeiters oder darauf, wann dem Beklagten bzw. dem zuständigen Sachbearbeiter der Bearbeitungsfehler aufgefallen sei, er also die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide erkannt habe, komme es hingegen nicht an. Dem stehe bereits der Wortlaut der Norm entgegen. Die Rechtswidrigkeit des aufzuhebenden Verwaltungsaktes sei zwar Voraussetzung für die Rücknahme, aber keine Tatsache im Sinne des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Die Tatsachen, aus denen sich die grobe Fahrlässigkeit der Klägerin zu 1 ergebe, nämlich die Augenfälligkeit der zu hohen Bewilligung, sei jeweils mit Erlass der Bescheide aktenkundig und damit dem Beklagten bekannt gewesen. Voraussetzung für den Fristbeginn sei auch nicht, dass eine Anhörung der Klägerinnen durchgeführt werde, maßgeblich sei vielmehr, wann die Anhörung hätte eingeleitet werden können. Vorliegend hätte dies direkt nach Erlass der Bescheide geschehen können. Hätte somit die Rücknahmefrist jeweils direkt mit Erlass der Bewilligungsbescheide zu laufen begonnen, so sei innerhalb der Jahresfrist nur der Bewilligungsbescheid vom 12. Februar 2008 aufgehoben worden. Die Aufhebung der übrigen Bewilligungsbescheide sei rechtswidrig. Aber auch hinsichtlich des danach verbleibenden Zeitraums von April bis September 2008 sei die Erstattungsforderung teilweise rechtswidrig, denn die Änderungsbescheide vom 17. Mai 2008 und 6. Juni 2008, die den Zeitraum ab dem 1. Juli 2008 beträfen, würden weder im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid noch im Widerspruchsbescheid explizit genannt. Diese Änderungsbescheide regelten die Leistungen für die Klägerinnen für den genannten Zeitraum insgesamt neu. Damit bildeten sie eine eigenständige, fortbestehende Rechtsgrundlage für die Zahlung der Leistungen für die Monate Juli bis September 2008. Infolgedessen könne die Aufhebung des Bewilligungsbescheids vom 12. Februar 2008 nur noch die Monate April bis Juni 2008 erfassen und sei die Erstattungsforderung gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 lediglich in Höhe von jeweils 462,- Euro gerechtfertigt.

Gegen das am 10. Mai 2013 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 29. Mai 2013 Berufung eingelegt. Er macht geltend, die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sei eine Entscheidungsfrist und laufe erst ab der Entdeckung des Rechtsfehlers, hier ab der Bearbeitung des Weiterbewilligungsantrags vom 26. August 2008. Weiter liege in den Änderungsbescheiden keine Neubewilligung, so dass die Aufhebung der ursprünglichen Bewilligungsbescheide die von diesen geregelten Zeiträume vollständig erfasse.

Die Klägerinnen zu 2 und 3 haben am 6. Juni 2013 Berufung eingelegt. Sie machen geltend, dass eine Heilung des Anhörungsmangels durch das nachträgliche Anhörungsverfahren nicht in Betracht komme. Vor allem aber sei mit der erst nachträglich durchgeführten Anhörung und angesichts der erstmaligen Beschwer der Klägerin zu 3 durch den Widerspruchsbescheid die Frist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X verletzt. In der Sache fehle es an grober Fahrlässigkeit. Die wechselnden Bewilligungssummen, die Inanspruchnahme der Klägerin zu 1 durch die Trennung sowie die mangelnden Sprachkenntnisse hätten die Klägerin zu 1 außer Stande gesetzt, die Fehlerhaftigkeit der Bewilligung zu erkennen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. April 2013 abzuändern und die Klage unter Zurückweisung der Berufung der Klägerinnen zu 2 und 3 abzuweisen.

Die Klägerinnen zu 2 und 3 beantragen,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 15. April 2013 abzuändern und den Bescheid vom 15. September 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Dezember 2008 unter Zurückweisung der Berufung des Beklagten aufzuheben.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung des Senats.

Entscheidungsgründe:

I. Gegenstand des Verfahrens ist die Rechtmäßigkeit der Bescheide vom 15. September 2008 und 10. Dezember 2008, mit denen die teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligungen gegenüber den Klägerinnen zu 2 und 3 für den Zeitraum vom 1. Juli 2005 bis zum 30. September 2008 sowie die entsprechende Erstattungsforderung verfügt wurden.

II. Die Berufungen sind statthaft (§§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz – SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Die Berufung der Klägerinnen zu 2 und 3 ist begründet, diejenige des Beklagten ist unbegründet.

1. Die Klage ist zulässig, insbesondere bedurfte es für die Klägerin zu 3 vor Klagerhebung nicht eines gesonderten Widerspruchsverfahrens. Der Bescheid vom 15. September 2008 dürfte sich erkennbar auch an die Klägerin zu 3 richten, so dass bereits hier ein Ausgangsbescheid vorlag, der Gegenstand des mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2008 abgeschlossenen Widerspruchsverfahrens war. Denn die Doppelnennung der Klägerin zu 2 war offensichtlich fehlerhaft und das wirklich Gewollte aufgrund des weiteren Inhalts des Bescheides, der ausdrücklich auf beide Klägerinnen zu 2 und 3 ("Töchter", "A1 und A.") Bezug nahm, wohl ohne weiteres richtig zu verstehen. Jedenfalls aber gilt hier – auch ohne eine entsprechende Regelung im SGG – der Gedanke des § 68 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 VwGO (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 78 Rn. 8 m.w.N.); diese Vorschrift regelt ausdrücklich, dass ein Vorverfahren nicht erforderlich ist, wenn der Widerspruchsbescheid erstmalig eine Beschwer enthält.

2. Die Rücknahme der Leistungsbewilligung richtet sich nach den Maßgaben von § 40 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II (in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung) in Verbindung mit § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und § 45 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X. Denn es lagen mit den Bewilligungsbescheiden begünstigende Bescheide vor, die infolge der Anrechnung zu geringen Einkommens der Klägerinnen zu 2 und 3 von Anfang an gegen die Regelungen der §§ 9 Abs. 1, 11 Abs. 1 Satz 4 SGB II verstießen und damit insoweit rechtswidrig waren. Es fehlt aber an den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X für eine Aufhebung dieser Bescheide mit Wirkung für die Vergangenheit.

a. Formell sind die angefochtenen Bescheide allerdings nicht zu beanstanden. Zwar hat der Beklagte die Klägerinnen zu 2 und 3 zunächst nicht ordnungsgemäß angehört und somit gegen die Vorschrift des § 24 SGB X verstoßen. Denn im Anhörungsschreiben vom 27. August 2008 wurde die beabsichtigte Aufhebung noch mit der nachträglichen Erzielung von Einkommen begründet. Ebenso wurde im Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 15. September 2008 die Aufhebung der Leistungsbewilligung auf § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gestützt. Hingegen nennt der Widerspruchsbescheid § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X als Rechtsgrundlage und begründet die Aufhebung erstmals damit, die Klägerin zu 1 habe die Rechtswidrigkeit der Bewilligung ohne weiteres erkennen können. Zur bereits anfänglichen Rechtswidrigkeit der Bewilligungen und dem Vorwurf der Kenntnis bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis von dieser Rechtswidrigkeit waren die Klägerinnen zuvor jedoch nicht angehört worden. Eine wirksame Anhörung setzt aber voraus, dass alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt gegeben werden (vgl. BSG, Urteil vom 9.11.2010 – B 4 AS 37/09 R). Dieser Verstoß gegen § 24 SGB X ist jedoch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens gem. § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X geheilt worden entsprechend den Maßgaben, die das Bundessozialgericht (a.a.O.) insoweit aufgestellt hat. Mit Schreiben vom 24. Oktober 2012 wurden der Klägerin zu 1 die der Entscheidung im Widerspruchsbescheid zugrunde gelegten Tatsachen mitgeteilt und ihr Gelegenheit eingeräumt, hierzu Stellung zu nehmen. Zu Recht war das Anhörungsschreiben an die Klägerin zu 1 gerichtet. Soll die Leistungsbewilligung gegenüber einem Minderjährigen aufgehoben werden, so hat die erforderliche Anhörung gegenüber einem vertretungsberechtigten Erziehungsberechtigten zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 7.7.2011 – B 14 AS 153/10 R). Auf die Stellungnahme der Klägerin zu 1 hat der Beklagte erklärt, an dem Bescheid festhalten zu wollen.

b. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid genügt ferner dem Bestimmtheitsgebot des § 33 Abs. 1 SGB X. Danach muss ein Verwaltungsakt so eindeutig formuliert sein, dass sich ohne Rückfrage für den Adressaten ergibt, was die Behörde regelt bzw. was von ihm verlangt wird. Ob eine danach hinreichend bestimmte Verfügung vorliegt, ist durch Auslegung zu ermitteln, deren Maßstab die Sicht eines verständigen Empfängers ist (vgl. Engelmann, in: v. Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, § 33 Rn. 3 m.w.N.). Insoweit ist unzweifelhaft, dass die benannten Bewilligungsbescheide teilweise aufgehoben und monatsweise jeweils 154,- Euro zurückgefordert werden sollten. Die Bezeichnung des Bescheides vom 1. November 2005 als "11.11.2005" schadet hier als offensichtliche Unrichtigkeit, die nach § 38 SGB X jederzeit beseitigt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 196/11 R), nicht. Das gilt trotz der Mehrzahl von Bescheiden vom 1. November 2005, da angesichts der Gesamtverfügung unzweifelhaft der Bewilligungsbescheid für den Zeitraum von Dezember 2005 bis Mai 2006 gemeint war.

Der Umstand, dass der Beklagte allein die Bewilligungsbescheide für die Bewilligungszeiträume vom 1. Juli 2005 bis zum 30. September 2008 aufgehoben hat, nicht jedoch die hinsichtlich dieser Zeiträume ergangenen Änderungsbescheide, führt allerdings dazu, dass die von den Änderungsbescheiden geregelten Zeiträume nicht der Aufhebung unterfallen und daher auch die Erstattungsforderung schon aus diesem Grunde insoweit nicht berechtigt ist. Denn die Änderungsbescheide treffen nach ihrem Erscheinungsbild nicht lediglich eine ergänzende Regelung, die neben die des jeweiligen Bewilligungsbescheides tritt, sondern regeln die Leistungen für die Klägerinnen zu 2 und 3 für den jeweils genannten Zeitraum insgesamt neu. Damit bilden sie eine eigenständige Rechtsgrundlage für die Zahlung der Leistungen für die von ihnen erfassten Monate Juli bis November 2005 (Bescheid vom 1.11.2005), Juni bis September 2006 (Bescheid vom 25.8.2006), Juli bis September 2007 (Bescheid vom 1.6.2007) und Juli bis September 2008 (Bescheide vom 17.5.2008 und 6.6.2008). Ist für die Änderungsbescheide eine Aufhebung nicht verfügt worden, so kann für die von ihnen erfassten Monate keine Erstattung verlangt werden (Rechtsprechung des Senats; vgl. Urteil vom 30.10.2012 – L 4 AS 117/10; ebenso BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 196/11 R). Etwas anders mag gelten, wenn ein Aufhebungsbescheid die aufzuhebenden Bescheide nicht datumsmäßig benennt, sondern allein nach den von ihnen geregelten Bewilligungszeiträumen beschreibt (so der Fall bei BSG, Urteil vom 10.9.2013 – B 4 AS 89/12 R). Das war hier indes nicht der Fall.

c. Auch erfolgte die Aufhebung der Bewilligungsbescheide fristgemäß nach § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X. Danach kann eine Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit nur innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen erfolgen, welche eine solche Rücknahme rechtfertigen. Das Verständnis dieser Norm ist uneinheitlich. Der Senat folgt der wohl überwiegend vertretenen Auffassung, dass Tatsachen in diesem Sinne die Umstände sind, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes ergibt, aber auch diejenigen Umstände, aus denen sich die weiteren Voraussetzungen einer Rücknahme ergeben (BVerwG, Großer Senat, Beschluss vom 19.12.1984 – GrSen1/84 und 2/84, zu § 48 Abs. 4 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG –; BSG, Urt. v. 8.2.1996 – 13 RJ 35/94; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, Stand Juni 2014, § 45 Rn. 147 f.; Schütze, in: v.Wulffen/Schütze, SGB X, 8. Aufl. 2014, § 45 Rn. 81), also etwa die für die Beurteilung der groben Fahrlässigkeit maßgeblichen Umstände. Das ergibt der Wortlaut des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X, der von "rechtfertigen" spricht. Daher läuft die Frist regelmäßig erst ab dem Abschluss der Ermittlungen zur Einsichtsfähigkeit, also der Anhörung (Merten, a.a.O., Rn. 152; auch Schütze, a.a.O., mit der zutreffenden Einschränkung, dass dies bei treuwidriger Verzögerung nach Erkenntnis der die Rechtswidrigkeit begründenden Tatsachen anders zu sehen sein könne). Ob hier insoweit tatsächlich auf den Zeitpunkt der Anhörung zu den Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X abzustellen ist, könnte allerdings in Zweifel gezogen werden, weil der Beklagte ursprünglich einen Fall von § 48 SGB X annahm, der keine weiteren Ermittlungen zur Kenntnis oder zum Kennenmüssen der Rechtswidrigkeit erfordert hätte. Das kann aber dahinstehen, da es nach Überzeugung des Senats zunächst bereits an der Kenntnis über die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide fehlte. Insoweit kann nämlich nicht die bloße Aktenkundigkeit der Umstände angeführt werden, aus denen sich die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides ergibt (so aber Waschull, in: LPK-SGB X, 2. Aufl. 2007, § 45 Rn. 111). Das würde zu Konflikten mit den Fristbestimmungen in Absatz 3 von § 45 SGB X (bzw. von § 48 VwVfG) führen und damit der Konzeption der Normen nicht entsprechen. Vielmehr ist darauf abzustellen, dass die Behörde die Rechtswidrigkeit des Bescheides erkannt hat; erst ab diesem Zeitpunkt kann die Frist zu laufen beginnen (BVerwG, a.a.O.; Schütze, a.a.O., Rn. 83).

Eine solche Erkenntnis der Rechtwidrigkeit der Bewilligungsbescheide durch den Sachbearbeiter des Beklagten kann nicht vor dem Zeitpunkt der Abfassung des Anhörungsschreibens vom 27. August 2008 festgestellt werden. Offenbar war bei der Bearbeitung des Weiterbewilligungsantrags vom 26. August 2008 der Fehler entdeckt worden und wurden sogleich mit dem Anhörungsschreiben die Ermittlungen aufgenommen. Die Aufhebungsentscheidung vom 15. September 2008 erfolgte mithin innerhalb der Jahresfrist.

d. Die Klägerinnen zu 2 und 3 können sich jedoch auf Vertrauensschutz berufen, weil sie die gewährten Leistungen offenbar verbraucht haben. Ein Ausschluss des Vertrauensschutzes kommt nicht in Betracht.

Nach § 45 Abs. 1 und 2 SGB X darf ein rechtswidriger, begünstigender Verwaltungsakt nur zurückgenommen werden, sofern schutzwürdiges Vertrauen nicht entgegensteht. Kannte der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes oder kannte er sie infolge grober Fahrlässigkeit nicht, so kann er sich nicht auf Vertrauen berufen, § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X. In diesem Fall ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, § 45 Abs. 4 Satz 1 SGB X, § 330 Abs. 2 SGB III. Diese Voraussetzungen liegen jedoch nicht vor.

Dass die Klägerin zu 1 – auf die als gesetzliche Vertreterin der Klägerinnen zu 2 und 3 abzustellen ist (vgl. LSG Hamburg, Urteil vom 8.9.2011 – L 5 AS 50/08) – die Rechtwidrigkeit der Bewilligungsbescheide kannte, ist nicht festzustellen. Dass die Klägerin zu 1 die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsbescheide infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, kann ebenfalls nicht angenommen werden. Grobe Fahrlässigkeit liegt nach dem Gesetz nur vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt wurde. Das Gesetz trägt damit dem Umstand Rechnung, dass in dieser Fallgruppe die Angaben des Betroffenen zutreffend waren und die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides mithin auf Amtsverschulden beruht. Eine Verlagerung des Risikos unrichtiger Bescheidung auf den Begünstigten erscheint nur dann als verhältnismäßig, wenn er einfachste und naheliegende Überlegungen außer Acht lässt, also an seinem individuellen Verständnishorizont gemessen augenfällige Fehler übersieht (vgl. hierzu und zum folgenden Schütze, a.a.O., Rn. 56 m.w.N.). Der Begünstigte, der im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht hat, ist dabei nicht verpflichtet, Bewilligungsbescheide umfassend auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Allerdings sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor vermeidbarem Schaden zu bewahren. Dementsprechend ist der Begünstigte gehalten, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen (vgl. für das Arbeitslosengeld BSG, Urteil vom 2.2.2001 – B 11 AL 21/00 R).

Gemessen an diesem Maßstab ist der Klägerin zu 1 grobe Fahrlässigkeit nicht vorzuwerfen. Zwar hat der Senat bereits entschieden, dass sich auch aus dem Verfügungsteil eines Bescheides die Rechtswidrigkeit der Bewilligung erkennen lassen kann, etwa, wenn der bewilligte Betrag deutlich von dem des Vormonats abweicht, ohne dass sich im Sachverhalt Änderungen ergeben hätten (a.a.O.). Das gäbe dem Betroffenen Anlass, bei der Behörde nachzufragen, und würde ihm den Vorwurf grober Fahrlässigkeit eintragen, wenn er dies unterließe. Hier jedoch war unter der Geltung des SGB II erst ein Bewilligungszeitraum verstrichen, in dem überdies die Leistungshöhe mehrfach geändert worden war, ohne dass dies in den Bescheiden durchgehend deutlich erläutert worden war. Die Klägerin zu 1 konnte demgemäß vor dem Bescheid vom 22. Juni 2005 noch keine klare Vorstellung entwickelt haben, welcher Leistungsbetrag ihr und den Klägerinnen zu 2 und 3 zustand. Der Leistungsbetrag für den Bewilligungszeitraum ab dem 1. Juli 2005 lag zwar um etwa 170,- Euro höher als zuvor, nach den subjektiven Erfahrungen eines häufig schwankenden Leistungsbetrages musste der Klägerin zu 1 das aber nicht Anlass zur Nachfrage geben. Die folgenden Leistungsbescheide setzten den fehlerhaften Ansatz fort und ließen aus ihrem jeweiligen Verfügungsteil den Fehler von vornherein nicht erkennen. Auch aus dem Begründungsteil der Bescheide ergab sich der Fehler nicht augenfällig: Insbesondere war nicht etwa das Kindergeld ausdrücklich auf "Null" gesetzt worden, sondern es war gar nicht mehr als Einkommensposition aufgenommen worden. Das Fehlen dieser Einkommensart hätte nur bei näherer Überprüfung bemerkt werden können – das aber obliegt dem Bescheidempfänger gerade nicht. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Antragstellerin auch die Fehlerhaftigkeit des Bescheides vom 22. Juni 2005 nicht bemerkte, soweit diese zu ihren Lasten ging: Der Mehrbedarf für Alleinerziehende war hier übersehen worden. Auch das spricht dafür, dass ihr nach ihren individuellen Möglichkeiten die Beurteilung des Bescheides als fehlerhaft oder zumindest zweifelhaft nicht offenstand.

3. Erweist sich danach die Aufhebung der Bewilligungsbescheide als rechtswidrig, so ist die Erstattungsforderung ebenfalls rechtswidrig. Denn nach § 50 Abs. 1 SGB X sind bereits erbrachte Leistungen zu erstatten, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Daran fehlt es jedoch nach dem Ergebnis zu 2.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Zur Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass lediglich die Klägerinnen zu 2 und 3 den Rechtsstreit geführt haben, nachdem die Klägerin zu 1 noch vor der Entscheidung des Sozialgerichts durch Rücknahme ihres Antrags aus dem Verfahren ausgeschieden ist, und daher nur ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten sind.

Die Revision ist nicht nach § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen.
Rechtskraft
Aus
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