Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
48
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 48 SO 325/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 312/14
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Bei dem im Jahre 1968 geborenen Leistungsempfänger, dem Beigeladenen zu 1, besteht infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung eine schwere geistige Behinderung und aufgrund der Folgen eines Sturzes im Jahre 2002 eine massive körperliche Behinderung (hohe Querschnittslähmung). Er erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III.
Im Dezember 2007 beantragte er beim Kläger (örtlicher Sozialhilfeträger) Leistungen der Sozialhilfe, unter anderem der Hilfe zur Pflege. Der Betreuer des Beigeladenen zu 1 gab an, es habe sich für diesen "kurzfristig die Möglichkeit ergeben, in eine Wohngruppe unter ambulanter Pflege nach SGB XII zu ziehen". Er legte dem Kläger den Mietvertrag vom 29.11.2007 (siehe Blatt 6f Behördenakte des Klägers), den Servicevertrag vom 29.11.2007 (Blatt 8 Behördenakte) und den Pflegevertrag vom 01.12.2007 (Blatt 9ff Behördenakte) vor; Vertragspartner der beiden letztgenannten Verträge war die Beigeladene zu 2.
Der Kläger bewilligte dem Leistungsempfänger, erstmals mit Bescheid vom 07.02.2008, Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.12.2007.
Mit Schreiben vom 30.07.2008 legte der Kläger dem Beklagten (überörtlicher Sozialhilfe-träger) die Sache vor, "zur Entscheidung wegen dortiger Zuständigkeit". Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 09.04.2009 die Übernahme des Falles mit der Begründung ab, es liege kein ambulant betreutes Wohnen vor. Er bewilligte dem Beigeladenen zu 1 jedoch, erstmals mit Bescheid vom 25.09.2009, Leistungen der Eingliederungshilfe (ambulante Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft); hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 153ff der Behördenakte verwiesen.
Am 24.06.2013 ist die Klage beim Sozialgericht München eingegangen, zu deren Begrün-dung der Kläger vorgebracht hat, der Beigeladene zu 1 erhalte Eingliederungshilfe in einer betreuten Wohnform. Somit sei, nach den Vorgaben des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) in seinem Urteil vom 21.02.2013 (L 18 SO 85/10) die "Allzuständigkeit" des überörtlichen Sozialhilfeträgers gegeben. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 2ff der Gerichtsakte Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die ab dem 01.01.2009 für den Bei-geladenen zu 1. erbrachten Leistungen der Hilfe zur Pflege zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Leistungen der Eingliederungshilfe, welche ausschließlich dem Zweck der Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben dienten, wie das beim Beigeladenen zu 1 der Fall sei, stellten keine Hilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens dar. Die Argumen-tation des Beklagten im Detail ist Blatt 16f der Gerichtsakte zu entnehmen.
Dem Gericht lagen die Behördenakten des Klägers und des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe:
Die als ("echte") Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 54 Rn. 41) und auch sonst zulässige Klage, welche sich auf den Erlass eines Grundurteils gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG richtet (zur Zulässigkeit eines solchen Antrags siehe Bayerisches LSG, Urteil vom 21.02.2013, L 18 SO 85/10 in: juris), ist nicht begründet.
Dahinstehen kann, ob sich der hier streitige Anspruch auf Erstattung nach § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder nach § 105 SGB X richtet. Somit muss auch nicht entschieden werden, wie der Umstand rechtlich zu bewerten ist, dass der Kläger die Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht vorläufig, sondern, trotz der Zweifel an seiner Zuständigkeit, ("sehenden Auges") endgültig erbracht hat (vgl. dazu Roos in: von Wulffen, SGB X, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 105 Rn. 4).
Denn beide Normen setzen voraus, dass nicht der Kläger, sondern der Beklagte im hier streitigen Zeitraum (ab dem 01.01.2009) zur Leistung verpflichtet war. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Kläger hat die Leistungen der Hilfe zur Pflege zu Recht in eigener Zuständigkeit erbracht. Ein Fall des § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) liegt nicht vor, weil es nicht um die dort genannten Leistungen der Teilhabe geht.
Gem. § 97 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ist dann, wenn das Gesetz keine andere Bestimmung trifft, der örtliche Träger der Sozialhilfe für die Erbringung der Leistungen nach dem SGB XII zuständig; dies ist hier der Kläger. Ein Fall des § 97 Abs. 4 SGB XII (stationäre Leistungen) liegt nicht vor.
Nach § 97 Abs. 2 SGB XII ist eine abweichende Festlegung der Zuständigkeit durch Lan-desrecht möglich. Dabei soll gem. § 97 Abs. 2 Satz 2 SGB XII "soweit wie möglich" eine einheitliche sachliche Zuständigkeit für die Leistungen (im Sinne von § 8 Nr. 1 bis 6 SGB XII) geschaffen werden.
Eine entsprechende landesrechtliche Regelung trifft Art. 82 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG; in der Fassung des zweiten Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Ausführung der Sozialgesetze vom 27.12.2007). Nach (dem im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden) Art. 82 Abs. 2 AGSG gilt § 97 Abs. 4 SGB XII entsprechend, besteht also eine umfassende sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers (hier: des Beklagten), wenn Eingliederungshilfe an Behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Menschen im Sinne des § 53 Abs. 1 und 2 SGB XII durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen erbracht wird.
Dies ist nach der Überzeugung des Gerichts hier nicht der Fall.
Der Beigeladene zu 1 gehört aufgrund seiner schweren Behinderungen, verbunden mit Schwerstpflegebedürftigkeit, grundsätzlich zu dem von § 53 Abs. 1 und 2 SGB XII erfassten Personenkreis; insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Somit kommt es darauf an, ob an ihn im hier maßgeblichen Zeitraum Leistungen der Eingliederungshilfe "durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzel-wohnen" erbracht wurden.
Eine gesetzliche Definition des "betreuten Wohnens" findet sich im SGB XII nicht. Das Bayerische LSG hat insoweit die Auffassung vertreten, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs "sowohl aus seinem Wortlaut als auch aus der gesellschaftlichen Realität" ergebe, "ohne dass hier Auslegungsschwierigkeiten bestünden" (Urteil vom 21.02.2013, a.a.O.). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach sich die Auslegung an dem Verweis in § 54 Abs. 1 SGB XII "an" (gemeint ist wohl: "auf") § 55 Abs. 2 Nr. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zu orientieren habe, lasse sich auf (die landesrechtliche Norm des) Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht übertragen, weil diese den Zweck verfolge, eine einheitliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers zu begründen und dabei das Ziel des Gesetzgebers, Zuständigkeitsstreitigkeiten zu vermeiden, im Vordergrund stehe. Somit sei "lediglich dann, wenn überhaupt keine Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen" seien, der Anwendungsbereich des Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht eröffnet (a.a.O.).
Die Interpretation dieser Ausführungen hat ihrerseits viele Fragen aufgeworfen (siehe insbes. den Beschluss des Sozialausschusses der Landeshauptstadt München vom 05.12.2013, Sitzungsvorlage Nr. 08-14/V 13264; vgl. auch das Rundschreiben Nr. 46/2010 des Verbandes der Bayerischen Bezirke vom Juli 2010).
Aus der Sicht des hier entscheidenden Gerichts kann Art. 82 Abs. 2 AGSG jedenfalls nicht so ausgelegt werden, dass stets dann, wenn irgend eine (beliebige) Leistung der Eingliederungshilfe erbracht wird, unabhängig von den sonstigen Umständen der Betreuung, die "Gesamtfallzuständigkeit" des überörtlichen Trägers ausgelöst wird.
Dem steht bereits der Wortlaut der genannten Norm entgegen, wonach diese Zuständigkeit (für die Leistungen nach den anderen Kapiteln des SGB XII) voraussetzt, dass Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzel-wohnen erbracht wird. Die Eingliederungshilfe muss also Bestandteil des "betreuten Wohnens" sein. Dem entspricht im Übrigen eine andere Formulierung in dem betreffenden Urteil des Bayerischen LSG vom 21.02.2013, wo darauf abgestellt wird, dass der Leistungsempfänger "in einer selbst angemieteten Wohnung ambulant betreut" wird, "wo-bei diese Betreuung auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe umfasst".
Es erscheint somit sachgerecht, eine (selbst angemietete) Wohnung dann als betreute Wohnmöglichkeit anzusehen, wenn der behinderte Mensch dort Angebote zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhält, er also dort nicht nur Hilfen bekommt, die gesund-heitsbedingte Defizite ausgleichen sollen (Majerski-Pahlen in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, Kommentar, 12. Aufl. 2010, § 55 Rn. 21, Hervorhebung vom Unterzeich-ner).
Ergänzend dazu hat der Beklagte, gestützt auf ein Urteil des BSG vom 25.08.2011 (B 8 SO 7/10 R, veröffentlicht in juris), argumentiert, Eingliederungshilfe in Form des betreuten Wohnens müsse auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn-und Lebensbereich gerichtet sein. Dies ergebe sich aus § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX, wonach Hilfen "zu selbstbestimmtem Leben" in betreuten Wohnmöglichkeiten geleistet würden. Die ausschließliche Erbringung von Hilfen am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben könne dem gegen-über für eine Anwendung von Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht genügen.
Dieser Argumentation ist aus der Sicht des Gerichts zu folgen, da nur sie eine sachge-rechte Abgrenzung ermöglicht. Der Sinn und Zweck des betreuten Wohnens liegt darin, trotz der behinderungsbedingten Beschränkungen ein möglichst eigenständiges und unabhängiges Leben führen zu können. Nur anhand dieses Zwecks kann jedoch eine Definition des betreuten Wohnens in sinnvoller Weise vorgenommen werden (siehe BSG, a.a.O., Rn. 15f).
Da der Beigeladene zu 1 in der von ihm angemieteten Privatwohnung keine Angebote der Eingliederungshilfe erhält, welche auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung seiner alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich gerichtet sind, bleibt es bei der sachlichen Zuständigkeit des Klägers.
Die Beigeladene zu 2, vertreten durch Herrn D. , hat dazu in der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2014 dargelegt, der Beigeladene zu 1 erhalte in seiner Wohnung lebenspraktische, lebensgestaltende sowie soziale Förderung. Es werde mit ihm der sog. "Langsitz" geübt, damit er selbständig aufrecht sitzen könne. Immer wieder werde der Schluckvorgang trainiert, mit der Folge, dass keine Sondenernährung mehr erforderlich sei. Zudem würden dem Beigeladenen zu 1 einfache Rechenaufgaben gestellt. Das geistige Leistungsvermögen des Beigeladenen zu 1 entspreche etwa dem eines zwei- bis vierjährigen Kindes. Dennoch habe er ganz individuelle Vorstellungen und Wünsche, fühle sich zum Beispiel zu bestimmten Pflege- und Bezugspersonen stärker hingezogen als zu anderen.
Aus der Sicht des Gerichts ergibt sich daraus mit hinreichender Deutlichkeit, dass der Beigeladene zu 1 behinderungsbedingt nicht (oder allenfalls in geringen Ansätzen) über die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensgestaltung verfügt. Ein Fall des betreuten Wohnens im Sinne von Art. 82 Abs. 2 AGSG liegt somit nicht vor, weil es in seinem Fall nicht möglich ist, ein Mindestmaß an Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung seiner alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich zu erreichen.
Bei einem Menschen, der behinderungsbedingt auf den geistigen Stand eines Kleinkindes beschränkt bleibt, kann man sinnvollerweise nicht von Eigenständigkeit in diesem Sinne sprechen. Nur wer über sich und seine eigene Lebensweise reflektieren kann, ist in der Lage, die vorhandenen Spielräume für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu nutzen. Ein Kleinkind kann das nicht, ohne dass ihm dieser Umstand in irgend einer Weise zum Problem würde, und ebenso wenig ein Erwachsener, der behinderungsbedingt auf dem Stand eines Kleinkinds verharrt.
Dem Beigeladenen zu 1 wird somit, neben den Leistungen der Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe lediglich in Form von Hilfen bei der Freizeitgestaltung gewährt. Ein betreutes Wohnen liegt nicht vor; die Zuständigkeit des Beklagten ist nicht gegeben.
Nach alledem kann der Klage nicht stattgegeben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwal-tungsgerichtsordnung.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand:
Bei dem im Jahre 1968 geborenen Leistungsempfänger, dem Beigeladenen zu 1, besteht infolge einer frühkindlichen Hirnschädigung eine schwere geistige Behinderung und aufgrund der Folgen eines Sturzes im Jahre 2002 eine massive körperliche Behinderung (hohe Querschnittslähmung). Er erhält Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III.
Im Dezember 2007 beantragte er beim Kläger (örtlicher Sozialhilfeträger) Leistungen der Sozialhilfe, unter anderem der Hilfe zur Pflege. Der Betreuer des Beigeladenen zu 1 gab an, es habe sich für diesen "kurzfristig die Möglichkeit ergeben, in eine Wohngruppe unter ambulanter Pflege nach SGB XII zu ziehen". Er legte dem Kläger den Mietvertrag vom 29.11.2007 (siehe Blatt 6f Behördenakte des Klägers), den Servicevertrag vom 29.11.2007 (Blatt 8 Behördenakte) und den Pflegevertrag vom 01.12.2007 (Blatt 9ff Behördenakte) vor; Vertragspartner der beiden letztgenannten Verträge war die Beigeladene zu 2.
Der Kläger bewilligte dem Leistungsempfänger, erstmals mit Bescheid vom 07.02.2008, Leistungen der Hilfe zur Pflege ab dem 01.12.2007.
Mit Schreiben vom 30.07.2008 legte der Kläger dem Beklagten (überörtlicher Sozialhilfe-träger) die Sache vor, "zur Entscheidung wegen dortiger Zuständigkeit". Der Beklagte lehnte mit Schreiben vom 09.04.2009 die Übernahme des Falles mit der Begründung ab, es liege kein ambulant betreutes Wohnen vor. Er bewilligte dem Beigeladenen zu 1 jedoch, erstmals mit Bescheid vom 25.09.2009, Leistungen der Eingliederungshilfe (ambulante Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft); hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 153ff der Behördenakte verwiesen.
Am 24.06.2013 ist die Klage beim Sozialgericht München eingegangen, zu deren Begrün-dung der Kläger vorgebracht hat, der Beigeladene zu 1 erhalte Eingliederungshilfe in einer betreuten Wohnform. Somit sei, nach den Vorgaben des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) in seinem Urteil vom 21.02.2013 (L 18 SO 85/10) die "Allzuständigkeit" des überörtlichen Sozialhilfeträgers gegeben. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf Blatt 2ff der Gerichtsakte Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die ab dem 01.01.2009 für den Bei-geladenen zu 1. erbrachten Leistungen der Hilfe zur Pflege zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Leistungen der Eingliederungshilfe, welche ausschließlich dem Zweck der Teilhabe am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben dienten, wie das beim Beigeladenen zu 1 der Fall sei, stellten keine Hilfe in Form des ambulant betreuten Wohnens dar. Die Argumen-tation des Beklagten im Detail ist Blatt 16f der Gerichtsakte zu entnehmen.
Dem Gericht lagen die Behördenakten des Klägers und des Beklagten bei seiner Entscheidung vor.
Entscheidungsgründe:
Die als ("echte") Leistungsklage gem. § 54 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte (vgl. dazu Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, Kommentar, 10. Aufl. 2012, § 54 Rn. 41) und auch sonst zulässige Klage, welche sich auf den Erlass eines Grundurteils gem. § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG richtet (zur Zulässigkeit eines solchen Antrags siehe Bayerisches LSG, Urteil vom 21.02.2013, L 18 SO 85/10 in: juris), ist nicht begründet.
Dahinstehen kann, ob sich der hier streitige Anspruch auf Erstattung nach § 102 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) oder nach § 105 SGB X richtet. Somit muss auch nicht entschieden werden, wie der Umstand rechtlich zu bewerten ist, dass der Kläger die Leistungen der Hilfe zur Pflege nicht vorläufig, sondern, trotz der Zweifel an seiner Zuständigkeit, ("sehenden Auges") endgültig erbracht hat (vgl. dazu Roos in: von Wulffen, SGB X, Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 105 Rn. 4).
Denn beide Normen setzen voraus, dass nicht der Kläger, sondern der Beklagte im hier streitigen Zeitraum (ab dem 01.01.2009) zur Leistung verpflichtet war. Dies ist jedoch nicht der Fall. Der Kläger hat die Leistungen der Hilfe zur Pflege zu Recht in eigener Zuständigkeit erbracht. Ein Fall des § 14 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) liegt nicht vor, weil es nicht um die dort genannten Leistungen der Teilhabe geht.
Gem. § 97 Abs. 1 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ist dann, wenn das Gesetz keine andere Bestimmung trifft, der örtliche Träger der Sozialhilfe für die Erbringung der Leistungen nach dem SGB XII zuständig; dies ist hier der Kläger. Ein Fall des § 97 Abs. 4 SGB XII (stationäre Leistungen) liegt nicht vor.
Nach § 97 Abs. 2 SGB XII ist eine abweichende Festlegung der Zuständigkeit durch Lan-desrecht möglich. Dabei soll gem. § 97 Abs. 2 Satz 2 SGB XII "soweit wie möglich" eine einheitliche sachliche Zuständigkeit für die Leistungen (im Sinne von § 8 Nr. 1 bis 6 SGB XII) geschaffen werden.
Eine entsprechende landesrechtliche Regelung trifft Art. 82 des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG; in der Fassung des zweiten Gesetzes zur Änderung des Ge-setzes zur Ausführung der Sozialgesetze vom 27.12.2007). Nach (dem im vorliegenden Fall allein in Betracht kommenden) Art. 82 Abs. 2 AGSG gilt § 97 Abs. 4 SGB XII entsprechend, besteht also eine umfassende sachliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers (hier: des Beklagten), wenn Eingliederungshilfe an Behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Menschen im Sinne des § 53 Abs. 1 und 2 SGB XII durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzelwohnen erbracht wird.
Dies ist nach der Überzeugung des Gerichts hier nicht der Fall.
Der Beigeladene zu 1 gehört aufgrund seiner schweren Behinderungen, verbunden mit Schwerstpflegebedürftigkeit, grundsätzlich zu dem von § 53 Abs. 1 und 2 SGB XII erfassten Personenkreis; insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Somit kommt es darauf an, ob an ihn im hier maßgeblichen Zeitraum Leistungen der Eingliederungshilfe "durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzel-wohnen" erbracht wurden.
Eine gesetzliche Definition des "betreuten Wohnens" findet sich im SGB XII nicht. Das Bayerische LSG hat insoweit die Auffassung vertreten, dass sich die Bedeutung dieses Begriffs "sowohl aus seinem Wortlaut als auch aus der gesellschaftlichen Realität" ergebe, "ohne dass hier Auslegungsschwierigkeiten bestünden" (Urteil vom 21.02.2013, a.a.O.). Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach sich die Auslegung an dem Verweis in § 54 Abs. 1 SGB XII "an" (gemeint ist wohl: "auf") § 55 Abs. 2 Nr. 6 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) zu orientieren habe, lasse sich auf (die landesrechtliche Norm des) Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht übertragen, weil diese den Zweck verfolge, eine einheitliche Zuständigkeit des überörtlichen Trägers zu begründen und dabei das Ziel des Gesetzgebers, Zuständigkeitsstreitigkeiten zu vermeiden, im Vordergrund stehe. Somit sei "lediglich dann, wenn überhaupt keine Leistungen der Eingliederungshilfe zu erbringen" seien, der Anwendungsbereich des Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht eröffnet (a.a.O.).
Die Interpretation dieser Ausführungen hat ihrerseits viele Fragen aufgeworfen (siehe insbes. den Beschluss des Sozialausschusses der Landeshauptstadt München vom 05.12.2013, Sitzungsvorlage Nr. 08-14/V 13264; vgl. auch das Rundschreiben Nr. 46/2010 des Verbandes der Bayerischen Bezirke vom Juli 2010).
Aus der Sicht des hier entscheidenden Gerichts kann Art. 82 Abs. 2 AGSG jedenfalls nicht so ausgelegt werden, dass stets dann, wenn irgend eine (beliebige) Leistung der Eingliederungshilfe erbracht wird, unabhängig von den sonstigen Umständen der Betreuung, die "Gesamtfallzuständigkeit" des überörtlichen Trägers ausgelöst wird.
Dem steht bereits der Wortlaut der genannten Norm entgegen, wonach diese Zuständigkeit (für die Leistungen nach den anderen Kapiteln des SGB XII) voraussetzt, dass Eingliederungshilfe durch Betreuung in einer Wohngemeinschaft oder in betreutem Einzel-wohnen erbracht wird. Die Eingliederungshilfe muss also Bestandteil des "betreuten Wohnens" sein. Dem entspricht im Übrigen eine andere Formulierung in dem betreffenden Urteil des Bayerischen LSG vom 21.02.2013, wo darauf abgestellt wird, dass der Leistungsempfänger "in einer selbst angemieteten Wohnung ambulant betreut" wird, "wo-bei diese Betreuung auch Maßnahmen der Eingliederungshilfe umfasst".
Es erscheint somit sachgerecht, eine (selbst angemietete) Wohnung dann als betreute Wohnmöglichkeit anzusehen, wenn der behinderte Mensch dort Angebote zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft erhält, er also dort nicht nur Hilfen bekommt, die gesund-heitsbedingte Defizite ausgleichen sollen (Majerski-Pahlen in: Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, Kommentar, 12. Aufl. 2010, § 55 Rn. 21, Hervorhebung vom Unterzeich-ner).
Ergänzend dazu hat der Beklagte, gestützt auf ein Urteil des BSG vom 25.08.2011 (B 8 SO 7/10 R, veröffentlicht in juris), argumentiert, Eingliederungshilfe in Form des betreuten Wohnens müsse auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung der alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn-und Lebensbereich gerichtet sein. Dies ergebe sich aus § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX, wonach Hilfen "zu selbstbestimmtem Leben" in betreuten Wohnmöglichkeiten geleistet würden. Die ausschließliche Erbringung von Hilfen am gemeinschaftlichen und kulturellen Leben könne dem gegen-über für eine Anwendung von Art. 82 Abs. 2 AGSG nicht genügen.
Dieser Argumentation ist aus der Sicht des Gerichts zu folgen, da nur sie eine sachge-rechte Abgrenzung ermöglicht. Der Sinn und Zweck des betreuten Wohnens liegt darin, trotz der behinderungsbedingten Beschränkungen ein möglichst eigenständiges und unabhängiges Leben führen zu können. Nur anhand dieses Zwecks kann jedoch eine Definition des betreuten Wohnens in sinnvoller Weise vorgenommen werden (siehe BSG, a.a.O., Rn. 15f).
Da der Beigeladene zu 1 in der von ihm angemieteten Privatwohnung keine Angebote der Eingliederungshilfe erhält, welche auf die Förderung der Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung seiner alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich gerichtet sind, bleibt es bei der sachlichen Zuständigkeit des Klägers.
Die Beigeladene zu 2, vertreten durch Herrn D. , hat dazu in der mündlichen Verhandlung vom 15.10.2014 dargelegt, der Beigeladene zu 1 erhalte in seiner Wohnung lebenspraktische, lebensgestaltende sowie soziale Förderung. Es werde mit ihm der sog. "Langsitz" geübt, damit er selbständig aufrecht sitzen könne. Immer wieder werde der Schluckvorgang trainiert, mit der Folge, dass keine Sondenernährung mehr erforderlich sei. Zudem würden dem Beigeladenen zu 1 einfache Rechenaufgaben gestellt. Das geistige Leistungsvermögen des Beigeladenen zu 1 entspreche etwa dem eines zwei- bis vierjährigen Kindes. Dennoch habe er ganz individuelle Vorstellungen und Wünsche, fühle sich zum Beispiel zu bestimmten Pflege- und Bezugspersonen stärker hingezogen als zu anderen.
Aus der Sicht des Gerichts ergibt sich daraus mit hinreichender Deutlichkeit, dass der Beigeladene zu 1 behinderungsbedingt nicht (oder allenfalls in geringen Ansätzen) über die Fähigkeit zur eigenständigen Lebensgestaltung verfügt. Ein Fall des betreuten Wohnens im Sinne von Art. 82 Abs. 2 AGSG liegt somit nicht vor, weil es in seinem Fall nicht möglich ist, ein Mindestmaß an Selbständigkeit und Selbstbestimmung bei der Erledigung seiner alltäglichen Angelegenheiten im eigenen Wohn- und Lebensbereich zu erreichen.
Bei einem Menschen, der behinderungsbedingt auf den geistigen Stand eines Kleinkindes beschränkt bleibt, kann man sinnvollerweise nicht von Eigenständigkeit in diesem Sinne sprechen. Nur wer über sich und seine eigene Lebensweise reflektieren kann, ist in der Lage, die vorhandenen Spielräume für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung zu nutzen. Ein Kleinkind kann das nicht, ohne dass ihm dieser Umstand in irgend einer Weise zum Problem würde, und ebenso wenig ein Erwachsener, der behinderungsbedingt auf dem Stand eines Kleinkinds verharrt.
Dem Beigeladenen zu 1 wird somit, neben den Leistungen der Hilfe zur Pflege, Eingliederungshilfe lediglich in Form von Hilfen bei der Freizeitgestaltung gewährt. Ein betreutes Wohnen liegt nicht vor; die Zuständigkeit des Beklagten ist nicht gegeben.
Nach alledem kann der Klage nicht stattgegeben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 Verwal-tungsgerichtsordnung.
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