L 4 SB 74/03

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
4
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 4 SB 74/03
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 19.03.2003 wird zurückgewiesen.
2. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt der Beklagte.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe:

I.

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers nach dem Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX).

Bei dem 1961 geborenen Kläger stellte das Versorgungsamt Dortmund mit Bescheid vom 27.09.1982 als Behinderung mit einem GdB von 40 fest: "Juveniler Diabetes mellitus".

Im September 2000 stellte der Kläger einen Neufeststellungsantrag, worauf das Amt für soziale Angelegenheiten Landau einen Befundbericht des S Krankenhauses L einholte, wo sich der Kläger stationär vom 15. bis 19.05.2000 nach einem Motorradsturz in stationärer Behandlung befunden hatte. Weiter holte es Befundberichte des Facharztes für Augenheilkunde Dr. J und der Internisten Dres. S und S ein. Dr. S führte in einer gutachterlichen Stellungnahme aus, zusätzlich sei als weitere Teil-Behinderung eine Hüftgelenksbewegungseinschränkung nach Unfall mit einem GdB von 10 zu berücksichtigen.

Mit Bescheid vom 24.11.2000 stellte das Amt für soziale Angelegenheiten Landau weiter einen GdB von 40 fest und bezeichnete die Behinderung neu als:

1. Diabetes mellitus,

2. Hüftgelenksbewegungseinschränkung nach Unfall.

Den Widerspruch des Klägers wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 20.03.2001 zurück.

Im vor dem Sozialgericht Speyer durchgeführten Klageverfahren hat das Sozialgericht Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Dr. S , des Dr. J , des Facharztes für Chirurgie Dr. Q sowie eines Gutachtens auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG des Internisten Dr. K.

Der Sachverständige hat den Kläger im Mai 2002 untersucht und in seinem Gutachten zusammenfassend ausgeführt, beim Kläger bestehe ein Diabetes mellitus Typ I mit beginnender diabetischer Retinopathie und beginnender diabetischer Nephropathie, wobei es trotz intensivierter Insulintherapie zu keiner optimalen Glättung des Blutzuckertagesprofils und einer anhaltenden Tendenz zur Hypoglykämie gekommen sei. Die Erkrankung sei als schwer einstellbar einzuordnen und nach den Anhaltspunkten mit einem GdB von 50 zu bewerten. Der Gesamt-GdB sei ebenfalls mit 50 einzuschätzen.

Der Beklagte ist dem Gutachten durch Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. U entgegengetreten, wonach das Leiden des Klägers als Diabetes mellitus Typ II einzuschätzen sei. Die vom Sachverständigen angedeuteten Spätschäden im Sinne einer Nephropathie und Retinopathie führten derzeit noch nicht zu funktionellen Einschränkungen, so dass sie sich im GdB noch nicht niederschlagen könnten.

Mit Urteil vom 19.03.2003 hat das Sozialgericht den Beklagten zur Feststellung eines GdB von 50 verurteilt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, beim Kläger liege ein Diabetes mellitus vor, der schwer einstellbar sei und daher einen GdB von 50 nach den Anhaltspunkten rechtfertige. Es handele sich um ein Typ I-Diabetes mit beginnender diabetischer Retinopathie und beginnender diabetischer Nephropathie, der wegen der zunehmend schlechteren Blutzuckereinstellung und schwankenden Blutzuckerwerten die Verordnung mit einer Insulinpumpe erforderlich gemacht habe. Die weitere Teil-Behinderung (Hüftgelenksbewegungseinschränkung) bedinge einen GdB von 10 und wirke sich auf den Gesamt-GdB nicht aus.

Am 10.04.2003 hat der Beklagte gegen das ihm am 26.03.2003 zugestellte Urteil Berufung eingelegt.

Der Beklagte trägt unter Bezugnahme auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme des Dr. U vor, auch unter Berücksichtigung einer Insulinpumpe sei der Diabetes mellitus nicht schlecht eingestellt, so dass ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt sei. Zudem müsse berücksichtigt werden, dass der Diabetes mellitus im Vergleich mit anderen Behinderungen nach den Anhaltspunkten hoch eingeschätzt werde.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 19.03.2003 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor,

das Sozialgericht habe zu Recht festgestellt, dass bei ihm ein schwer einstellbarer Diabetes mellitus vorliege, der zu Organfehlfunktionen geführt habe. Deshalb sei nach den Anhaltspunkten ein GdB von 50 festzustellen.

Im Übrigen wird zur Ergänzung Bezug genommen auf den Inhalt der beigezogenen und den Kläger betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten (Az.: ) sowie der Gerichtsakte, der Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung war.

II.

Die zulässige Berufung des Beklagten, über die der Senat gemäß § 153 Abs. 4 SGG nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, ist nicht begründet.

Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Recht verurteilt, die Behinderung des Klägers mit einem GdB von 50 festzustellen, da der Kläger schwerbehindert ist.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch –Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ist entsprechend § 30 Abs. 1 BVG nach dem Ausmaß des Abweichens von dem für das Lebensalter typischen Zustand der körperlichen Funktion, geistigen Fähigkeit oder seelischen Gesundheit unabhängig von ihren Ursachen zu bemessen (§§ 69 Abs. 1 Satz 3; 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Das SGB IX ist seit dem 01.07.2001 anzuwenden (Art. 68 Abs. 1 SGB IX), ersetzt das bisherige Schwerbehindertengesetz und enthält –soweit die Feststellung des GdB oder von Nachteilsausgleichen streitig ist– keine wesentlichen Änderungen gegenüber dem alten Rechtszustand.

Bei der Beurteilung des GdB steht die Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben im Vordergrund (vgl. BSGE 48, 82, 83 = BSG, SozR 3870 § 3 Nr. 4). Im Interesse einer einheitlichen und gleichmäßigen Behandlung hat das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz herausgegeben, die fortlaufend überarbeitet und 1996 neu veröffentlicht worden sind. Die darin aufgeführten GdB-Werte beruhen auf neuesten medizinischen Erkenntnissen; sie sollen einen Anhalt zur Ermittlung des GdB und zur Auslegung des § 2 SGB IX bilden. In diesem Sinne sind die Anhaltspunkte in der Regel anzuwenden, weil sie den Stand der medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung wiedergeben und damit als antizipiertes Sachverständigengutachten im Regelfall der gleichmäßigen Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe des Schwerbehindertenrechts dienen (BVerfG, SozR 3-3870 § 3 Nr. 6; BSG, NJW 1992, 455; SGb 1993, 579; Urteil des Senats, br 1995, 195).

Da zwischen den Beteiligten im Berufungsverfahren nur die Bewertung des GdB der Teil-Behinderung Nr. 1 (Diabetes mellitus) streitig ist, insbesondere, ob diese mit einem GdB von 40 oder 50 einzuschätzen ist, nimmt der Senat im Übrigen (d.h. hinsichtlich der Teil-Behinderung Nr. 2) Bezug auf die Ausführungen des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

Hinsichtlich des Diabetes mellitus geht der Senat mit dem Sozialgericht im Gegensatz zu der Einschätzung in den versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Dr. U davon aus, dass der Diabetes mellitus des Klägers entsprechend den Anhaltspunkten 1996 mit einem GdB von 50 einzuschätzen ist.

Nach den Anhaltspunkten (aaO, S. 119 ) beträgt der GdB für einen durch Diät und alleinige Insulinbehandlung schwer einstellbaren Diabetes mellitus 50. An einer derartigen Erkrankung leidet der Kläger, wie sich aus dem vom Sozialgericht eingeholten Gutachten und den beigezogenen Befundunterlagen ergibt, da beim Kläger Komplikationen, Folgeerkrankungen und Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen bestehen. Gegen den eindeutigen Wortlaut der Anhaltspunkte ist eine Bewertung mit einem GdB von nur 40 nicht möglich. Entgegen der Ansicht des Beklagten unterscheiden die Anhaltspunkte nicht zwischen einem Typ I und Typ II Diabetes. Entscheidend ist alleine die Therapienotwendigkeit, d.h. die Art der Behandlung. Ein ausreichend einstellbarer, allein mit Insulin behandelter Diabetes – unabhängig davon, ob Typ I oder Typ II – bedingt nach den Anhaltspunkten immer einen GdB von 40, während ein schwer einstellbarer Diabetes mit einem GdB von 50 zu bewerten ist.

Die Anhaltspunkte stellen ein geschlossenes Beurteilungsgefüge dar. Sie können nicht durch Einzelfallgutachten oder Auslegungen gegen den klaren und eindeutigen Wortlaut hinsichtlich ihrer generellen Richtigkeit widerlegt werden. Sie besitzen insoweit Normcharakter (vgl. BSG, SozR 3 - 3870 § 4 SchwbG Nr. 6 und Nr. 19). Dies gilt jedenfalls für die GdB-Bewertung, so dass nicht entscheidend sein kann, ob – wie Dr. U in der letzten versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.05.2003 ausführt – der Diabetes mellitus im Vergleich mit anderen Behinderungen nach den Anhaltspunkten hoch eingeschätzt werde. Als antizipiertes Sachverständigengutachten können die Anhaltspunkte jedoch durch den Medizinischen Beirat beim BMA jederzeit geändert werden, z.B. weil neue Behandlungsmethoden eine andere Beurteilung rechtfertigen. Zwar hätte der Beirat die Anhaltspunkte insoweit jederzeit ändern können. Dies ist indessen nicht erfolgt. In der Niederschrift der Beiratssitzung vom 07./08.11.2001 wird ausdrücklich ausgeführt: " Eine Änderung der Beurteilungskriterien für den Diabetes mellitus ist nicht erforderlich". Damit muss es bei einem GdB von 50 für einen allein mit Insulin schwer einstellbaren Diabetes mellitus verbleiben (vgl. Beschluss des Senats vom 20.01.2003, Az.: L 4 SB 135/02).

Die Berufung ist daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG.

Die Revision wird nicht zugelassen, da Revisionszulassungsgründe (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 SGG) nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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