L 6 RI 201/01

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 6 RI 201/01
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 10.7.2001 aufgehoben sowie die Bescheide der Beklagten vom 9.10.1998 und vom 11.12.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.6.1999 und der weitere Bescheid vom 28.10.1999 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, für den Kläger eine zusätzliche Ersatzzeit vom 16.8.1946 bis zum 31.12.1949 anzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Anerkennung der Zeit vom 16.8.1946 bis zum 31.12.1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit.

Der Kläger wurde 1925 als M W in L , P , geboren. Seit August 1946 lebt er in Frankreich und besitzt die französische Staatsangehörigkeit.

Von November 1939 bis zu seiner Befreiung im April 1945 war er nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Vom 18.11.1939 bis zum 29.4.1940 war er verpflichtet, den "Judenstern" zu tragen. Von April 1940 bis August 1944 arbeitete der Kläger im Getto L gegen Gettoentgelt im Leder- und Sattler-Ressort. Im August 1944 wurde er in das Konzentrationslager A deportiert. Dort blieb er bis Oktober 1944. Anschließend kam er in die Lager R /K , A , B und T. Im Lager A wurde er am 29.4.1945 befreit. Bis März 1946 wurde er wegen seines schlechten Gesundheitszustandes im Lagerspital D behandelt. Anschließend wurde der Kläger in das DP-Lager F eingewiesen. Im August 1946 reiste er nach Paris, wo er blieb. Ab Juni 1947 arbeitete der Kläger bis zu seiner Berentung im April 1985 als Schneider in der Konfektion.

Auf den Antrag des Klägers vom 25.2.1998 bewilligte die Beklagte dem Kläger Regelaltersrente ab 1.2.1998 in Höhe von 207,58 DM und mit Bescheid vom 11.12.1998 in Höhe von 319,80 DM. Mit dem Bescheid vom 11.12.1998 hob die Beklagte den Bescheid vom 9.10.1998 auf. Zeiten nach dem 15.8.1946 wurden von der Beklagten nicht anerkannt. Der Widerspruch des Klägers wegen Nachzahlung freiwilliger Beiträge wurde durch Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 17.6.1999 zurückgewiesen.

Im Klageverfahren bei dem Sozialgericht Speyer (SG) hat der Kläger eidesstattlich versichert, dass er sofort nach der Befreiung die Absicht gehabt habe, nach Frankreich auszuwandern. Dies sei ihm jedoch erst im August 1946 möglich gewesen. Er sei nach seiner Befreiung ins Lagerspital gekommen, da er nur noch 29 Kilogramm gewogen habe.

Mit Bescheid vom 28.10.1999 hat die Beklagte den Antrag des Klägers auf Feststellung einer Ersatzzeit wegen nationalsozialistischer Verfolgung abgelehnt. Der Auslandsaufenthalt des Klägers in Frankreich sei nicht verfolgungsbedingt gewesen.

Durch Urteil vom 10.7.2001 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, eine Ersatzzeit sei nicht anzuerkennen, da ein Kausalzusammenhang zwischen den Verfolgungsmaßnahmen und dem Verlassen Deutschlands nicht nachgewiesen sei. Der Kläger sei nach Kriegsende keiner unmittelbaren Verfolgung mehr ausgesetzt gewesen.

Gegen das am 20.7.2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 13.8.2001 Berufung eingelegt.

Der Kläger trägt vor, dass er ein außerordentlich schweres Verfolgungsschicksal erlitten habe. Nur ein Bruder habe durch die Flucht nach Russland die nationalsozialistische Verfolgung überlebt. Er selbst habe befürchtet, dass er als Jude bei einem Verbleiben in Deutschland wieder Verfolgungsmaßnahmen oder zumindest Benachteiligungen ausgesetzt werde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 10.7.2001 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 9.10.1998 in der Fassung des Bescheides vom 11.12.1998 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.6.1999 und den Bescheid der Beklagten vom 28.10.1999 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 16.8.1946 bis zum 31.12.1949 als Ersatzzeit anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die getroffenen Entscheidungen für zutreffend. Sie ist der Auffassung, dass ein Rückkehrwille Voraussetzung dafür ist, dass Ersatzzeiten anerkannt werden könnten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten und der Prozessakte Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet.

Der Kläger hat Anspruch auf Anerkennung und Berücksichtigung einer zusätzlichen Ersatzzeit vom 16.8.1946 bis zum 31.12.1949 bei der von der Beklagten gewährten Altersrente.

Ersatzzeiten sind Zeiten vor dem 1.1.1992, in denen Versicherungspflicht nicht bestanden hat und Versicherte nach vollendetem 14. Lebensjahr infolge Verfolgungsmaßnahmen bis zum 30.6.1945 ihren Aufenthalt in Gebieten außerhalb des jeweiligen Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze oder danach in Gebieten außerhalb des Geltungsbereiches der Reichsversicherungsgesetze nach dem Stand vom 30.6.1945 genommen oder einen solchen beibehalten haben, längstens aber die Zeit bis zum 31.12.1949, wenn sie zum Personenkreis des § 1 BEG gehören (Verfolgungszeit), § 250 Abs. 1 Nr. 4b SGB VI. Diese Voraussetzungen sind vorliegend für den Kläger erfüllt.

Der Kläger gehört zum Personenkreis des § 1 BEG. Sein Auslandsaufenthalt in Frankreich war ab dem 16.8.1946 verfolgungsbedingt, d.h. durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kommt es für die Frage des Kausalzusammenhanges zwischen Verfolgungsmaßnahmen und Auslandsaufenthalt auf den Begriff der wesentlichen Ursächlichkeit an. Danach ist wesentlich (nur) jede Ursache, die nach der Auffassung des praktischen Lebens wegen ihrer besonderen Beziehungen zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat (BSG, Urteil vom 22.9.1983 – 4 RJ 81/82). Bei der Prüfung, ob die Auswanderung verfolgungsbedingt war, können typische Geschehensabläufe berücksichtigt werden. Dabei ist es denkbar, dass über das Kriegsende hinaus fortdauernde oder später eingetretene Nachwirkungen nationalsozialistischer Verfolgungsmaßnahmen im Einzelfall erst in der Nachkriegszeit Anlass zur Auswanderung gegeben haben. Nach der Rechtsprechung des BSG führt eine Auswanderung nach dem 8.5.1945 dann – ausnahmsweise – zur Berücksichtigung des Auslandsaufenthaltes als Ersatzzeit, wenn hierfür Nachwirkungen und Verfolgungsmaßnahmen als wesentliche Ursache mitbestimmend waren. Erforderlich ist jedoch nicht, dass die Auswanderung aufgrund eines verfolgungsabhängigen Zwanges hervorgerufen wurde (BSG a.a.O.). Es ist allerdings nicht ausreichend für die Annahme einer wesentlichen Bedingung, dass die frühere Verfolgung als Auswanderungsmotiv behauptet wird. Es müssen vielmehr objektive Umstände vorhanden sein, die den Auswanderungsentschluss maßgebend bestimmt haben.

Nach Maßgabe der vorgenannten Kriterien ist für den Kläger davon auszugehen, dass er verfolgungsbedingt ausgewandert ist. Der Kläger wurde als Schüler in das Getto nach L gebracht. Er hatte keine Möglichkeit mehr, seine Studien fortzuführen. Die Eltern des Klägers und drei seiner vier Geschwister wurden deportiert und getötet. Der Kläger selbst war in mehreren Konzentrationslagern. Bei seiner Befreiung im April 1944 wog er bei einer Größe von 1,62 Meter lediglich nur noch 29 Kilogramm. Verfolgungsbedingt befand sich der Kläger in einer äußerst schwierigen gesundheitlichen Situation und verfügte nicht über finanzielle Mittel zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes. Damit waren Auswirkungen der nationalsozialistischen Verfolgung wesentlich mitursächlich für den Entschluss des Klägers, nach Frankreich zu übersiedeln.

Dem steht es nicht entgegen, dass der Kläger berechtigt war, in Deutschland seinen Wohnsitz zu nehmen (hierzu BSG, Urteil vom 19.8.1996 – Az: 4 RA 85/95). Der Kläger war ohne Familienangehörige und bei seiner schlechten gesundheitlichen Situation kaum in der Lage, sich eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu schaffen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass aufgrund des äußerst schwierigen Schicksals des Klägers und der zu diesem Zeitpunkt nicht aufgearbeiteten nationalsozialistischen Vergangenheit es nachvollziehbar ist, dass der Kläger Deutschland verlassen wollte.

Dem Kläger ist eine Ersatzzeit im gesetzlich vorgesehenen Rahmen bis zum 31.12.1949 zu gewähren. Er ist erst ab 1951 sozialversicherungspflichtig beschäftigt gewesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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