L 3 VE 1/13

Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 59 VG 18/08
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 3 VE 1/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1974 geborene Klägerin konsumiert seit ihrem 14. Lebensjahr "harte" Drogen unter intravenöser Einnahme von Heroin, mit einer "cleanen" Phase ca. von Oktober 1992 bis April 1997. Sie wurde in der Vergangenheit mehrfach Opfer von Misshandlungen und Vergewaltigungen. Im Oktober 1997 hatte die Klägerin bereits eine Hepatitis A, B und C – Erkrankung - letztere als chronisch festgestellt im Dezember 1997 - durchgemacht, drei Fehlgeburten erlitten, mindestens eine Abtreibung hinter sich, sowie eine Tochter geboren, die nach den Angaben der Klägerin gleichfalls aus einer Vergewaltigung hervorgegangen ist.

Aus der beigezogenen Akte der Staatsanwaltschaft und dem Urteil des Landgerichts Hamburg vom 16. Juni 1998 (Az.: 616 KLs 5/98) ergibt sich hinsichtlich des geltend gemachten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs der folgende Ablauf:

Die Klägerin befand sich am 15. November 1997 in H., um ihre Mutter zu besuchen. Am Nachmittag des Tages kam es darüber hinaus zwischen der Klägerin und ihrem Freund zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. In der Nacht vom 15. auf den 16. November 1997 verpasste die Klägerin am H. Hauptbahnhof den letzten Zug in Richtung ihres Wohnortes L ... Nachdem sie sich ein Gemisch aus Heroin und Kokain gespritzt hatte, traf sie auf dem H1 im Stadtteil S., auf dem sie in der Vergangenheit zur Finanzierung ihres Drogenkonsums gelegentlich der Prostitution nachgegangen war, auf den ihr vom Sehen bekannten R.Ö., der ihr das Angebot unterbreitete, mit ihm in dessen Wohnung zu kommen und dort die Wartezeit bis zur Abfahrt des nächsten Zuges nach L. am Morgen zu verbringen. Die Klägerin ging auf dieses Angebot ein.

In der Wohnung wurde die Klägerin dann Opfer brutaler Vergewaltigungen und Misshandlungen. Der Täter schlug die Klägerin und zwang sie mehrfach zum Oral- und Vaginalverkehr. Zum Samenerguss kam der Täter dabei nach den Angaben der Klägerin gegenüber der Polizei nicht. Gegen 13:45 Uhr des 16. November 1997 gelang es der Klägerin, sich mit Hilfe eines Bettlakens von dem Balkon der im vierten Stockwerk gelegenen Wohnung des Täter auf den in der darunterliegenden Etage befindlichen Balkon abzuseilen und sich auf diesem Wege zu befreien. Noch am selben Tag wurde die Klägerin von der Polizei in der Frauenklinik F. des Allgemeinen Krankenhauses S. vorgestellt und dort oberflächlich untersucht. Im ärztlichen Untersuchungsbericht heißt es, äußerliche Verletzungen seien nicht vorgefunden worden, es sei ein Vaginalabstrich gemacht worden, darüber hinaus sei die weitere Untersuchung von der Klägerin verweigert worden. In dem Abstrich wurden bei der biologischen Untersuchung des eingelagerten Materials sehr vereinzelt bis vereinzelt Samenköpfe gefunden, im Slip der Klägerin Spermaspuren.

Der unter anderem wegen sexueller Nötigung und Körperverletzung vorbestrafte Täter wurde wegen dieser Tat durch das vorgenannte Urteil wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung und Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Aus der Strafakte ergeben sich keinerlei Hinweis auf das Vorliegen einer HIV-Infektion bei dem Täter oder der Klägerin. Im Urteil des Landgerichts heißt es zur Klägerin (Aussage am 22. Mai 1998) insoweit: "Ferner ließ sie sich auf eine Ansteckung mit dem HI-Virus untersuchen. Auch dieses Ergebnis, das aber erst nach langer, nervenzehrender Wartezeit vorlag, war negativ."

In den Monaten nach der Gewalttat befand sich die Klägerin vom 2. bis 15. Dezember 1997 und nochmals vom 13. bis 26. Januar 1998 zu einer Entgiftungsbehandlung im H2- Krankenhaus. Währenddessen wurde am 12. Dezember 1997 ein Antikörper-HIV-1 und HIV-2-Test durchgeführt, der ein negatives Ergebnis erbrachte. Im Aufnahmebericht anlässlich dieses Aufenthalts finden sich die folgenden Ausführungen:

"Während eines Besuchs bei einem Bekannten in H. sei sie dort überfallen und geschlagen worden. Nur durch eine Flucht über den Balkon habe sie Schlimmeres verhüten können. Sie habe die Polizei gerufen, dieser Bekannte sei verhaftet und inhaftiert worden." "Im Kontakt war sie freundlich zugewandt, die Stimmung war leicht gehoben, häufig grinste oder kicherte die Patientin. Strahlend berichtete sie von ihren Plänen nach der Langzeittherapie, sie wolle wieder mit ihrer Tochter zusammenleben, eventuell das Abitur nachholen, um Tierärztin zu werden.Der Antrieb war normal, psychomotorisch war die Patientin ruhig. Suizidalität lag nicht vor." Im Entlassungsbericht nach dem zweiten Aufenthalt heißt es: "Während der drei stationären Aufenthalte sahen wir eine sehr kindlich wirkende Patientin, die anfänglich immer sehr motiviert wirkte und die trotz eines reduzierten Allgemeinzustandes die Entgiftungen auch immer zu Ende führte, dann aber jeweils kurz vor Ende der Behandlung, meist im Zusammenhang mit Abbrüchen von Mitpatienten die Station verließ. Im Einzelgespräch war der Kontakt nur oberflächlich herzustellen, die Patientin zeigte sich ein wenig misstrauisch, abwehrend. Männlichen Behandlern gegenüber war sie zugewandter, fast kokettierend. Die Stimmung schwankte zwischen ausgelassen-heiter, kippte dann recht schnell und unvermittelt ins Subdepressive, sehr Verschlossene Insgesamt dachten wir nebenbefundlich auch an eine frühe, emotional instabile Persönlichkeitsstörung."

Während eines weiteren stationären Aufenthaltes im AK H3 vom 11. Dezember 1998 bis 13. Januar 1999 wurde dann bei der Klägerin eine HIV-Infektion nachgewiesen.

Am 3. April 2007 beantragte die Klägerin bei der Beklagten Versorgungsleistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) unter Angabe der 1997 erlittenen Gewalttat. Mit Bescheid vom 27. September 2007 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Zwar sei die Klägerin am 16. November 1997 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Auch bestünden keine Versagungsgründe nach § 2 OEG. Jedoch sei die HIV-Infektion nicht auf diesen Angriff zurückzuführen.

Auf die Zurückweisung des Widerspruchs hin (Widerspruchsbescheid vom 26. April 2008) hat die Klägerin rechtzeitig Klage erhoben, mit welcher sie geltend gemacht hat, da sie vor der Tat nicht unter einer HIV-Infektion gelitten habe, sei davon auszugehen, dass die Gewalttat für die Infektion ursächlich gewesen sei. Es sei auch belegt, dass sie unter einer psychischen Störung leide. Angesichts der extremen Belastung durch die Vergewaltigung sei hier von einem Kausalzusammenhang auszugehen.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines nervenärztlichen Gutachtens. Die Ärztin für Psychiatrie und Neurologie Dr. P. führt in ihrem Gutachten vom 19. Dezember 2011 aus, die Gesprächssituation mit der Klägerin sei schwierig gewesen. Die Klägerin habe nunmehr angegeben, der Täter hätte sich gemeinsam mit zwei anderen an ihr vergangen, die er telefonisch zu sich in die Wohnung gerufen habe. Man habe sie mit Zigaretten und heißem Wasser verbrannt. Sie habe das der Polizei nicht erzählt, weil die Polizisten so unfreundlich zu ihr gewesen seien. Sie wisse nicht mehr, wie lange sie dort gefangen gewesen sei, es könnte eine Nacht, aber auch mehrere Tage gewesen sein. Auch ihre zweite Tochter sie das Ergebnis einer Vergewaltigung, da habe eine Freundin sie an Schwarzafrikaner verkauft, wo sie Opfer einer Massenvergewaltigung geworden sei. Das habe sie nicht angezeigt, da sie nicht mehr gekonnt habe. Sie sei auch bereits ab dem vierten Lebensjahr von dem Untermieter ihrer Großmutter sexuell missbraucht worden. Ihre Großmutter habe davon gewusst, aber nichts dabei gefunden. Sie habe das über viele Jahre völlig verdrängt. Eines Morgens sei ihr schlagartig alles wieder eingefallen. Weitere Gewalterlebnisse habe es in einer Jugendwohnung gegeben, wo sie von einem Nachbarn vergewaltigt worden sei. Davor sei sie im Alter von 15 Jahren von einem Dealer ihrer Schwester vergewaltigt worden. Hiervon habe sie aber nichts mitbekommen, da sie bewusstlos gewesen sei. Auf weitere Nachfrage habe die Klägerin mitgeteilt, dass es weitere Vergewaltigungen und auch Schwangerschaften gegeben habe. Hierüber wolle sie aber nicht sprechen.

Sie leide seit ihrer Kindheit unter erheblichen Albträumen. Zwar habe sie als Junkie ohnehin immer auf der Hut sein müssen, aber erst seit dem geltend gemachten Vorfall sei dies mit erheblicher Angst verbunden. Dieser Vorfall würde sie bis heute verfolgen. Auch z.B. im Supermarkt an der Kasse müsse sie immer hinter sich schauen, wer da stehe.

Die HIV-Infektion müsse von dem Täter der streitigen Gewalttat stammen. Die anderen beiden hätten Kondome benutzt, er habe sie möglicherweise als "Strafe" gezielt angesteckt. Ihr Spritzbesteck habe sie nie mit anderen geteilt. Sie habe ihre Sachen immer in der Apotheke gekauft. Vor Bekanntwerden ihrer HIV-Infektion habe sie sich auch nie prostituiert. Das habe sie wegen ihres gestörten Verhältnisses zur Sexualität nie gekonnt. Erst nachdem sie erfahren habe, dass sie HIV-positiv sei, habe sie damit angefangen, sich zu prostituieren. Im weiteren Verlauf schildert die Gutachterin weitere Angaben der Klägerin zu der Tat, die teilweise den zuvor ihr gegenüber gemachten Angaben widersprechen, teilweise den örtlichen und zeitlichen Gegebenheiten der Tat nicht entsprechen.

Das gesamte Untersuchungsverhalten der Klägerin sei geprägt gewesen von einer stark und zum Teil abrupt wechselnden Stimmung. Sie habe in bilanzierender Weise ihr eigenes Leben als durchgängige Abfolge von persönlichen Katastrophen gesehen. Die Klägerin sei bewusstseinsklar und in allen Qualitäten vollständig orientiert. Sie habe mit einem zum Teil kaum zu bremsenden Rededrang berichtet, zum Teil mit einem außerordentlichen Mitteilungsbedürfnis, jedoch in Abhängigkeit von dem jeweiligen Thema. Insbesondere in das Thema der von ihr erlebten gesellschaftlichen Ablehnung und Ächtung von Drogenabhängigen habe sie sich hineingesteigert. Zum Teil hätten deutliche Gedächtnislücken und Erinnerungsverzerrungen bestanden, wobei das gesamte Ausmaß zum einen aufgrund der Kürze der Untersuchung - die Klägerin war 2,5 Stunden zu spät zum vereinbarten Untersuchungstermin erschienen - zum anderen aufgrund der desolaten seelischen Verfassung der Klägerin nicht ausreichend habe ausgelotet werden können. Aus letzterem Grund sei auch die Konzentrationsfähigkeit und die Aufmerksamkeit der Klägerin deutlich beeinträchtigt gewesen. Insbesondere bei bestimmten Reizthemen, hierzu gehöre auch die streitige Gewalttat, sei die Klägerin schnell in eine Angriffs- und Verteidigungshaltung geraten und hierauf dann längere Zeit fixiert gewesen. Die Klägerin bringe offenbar verschiedene Ereignisse zumindest durcheinander, wenn sie nicht sogar vieles vollkommen falsch erinnere. So sei es zwar angesichts der desolaten sozialen Situation der Klägerin durchaus möglich, dass es zu dem von dieser geschilderten Vergewaltigungsgeschehen durch mehrere Männer, mittels dessen ihre zweite Tochter gezeugt worden sein soll, gekommen sei, jedoch könne es ebenso gut sein, dass die Geschichte nicht stimme. Dieses Problem der Glaubhaftigkeit betreffe auch die aktuellen Angaben bezüglich des Lebenswandels vor dem Ereignis im November 1997. So habe die Klägerin ihr, der Gutachterin, gegenüber angegeben, dass sie sich vor dem Bekanntwerden ihrer HIV-Infektion nie prostituiert habe. Andererseits habe sie in der damaligen Gerichtsverhandlung gegenüber dem Landgericht Hamburg angegeben, dass sie in den zurückliegenden Jahren zur Finanzierung ihres Drogenkonsums einige Male "anschaffen" gegangen sei. Auch die Angabe, dass sie ihr Spritzbesteck nie mit anderen geteilt habe, erscheine vor diesem Hintergrund fragwürdig. Dies insbesondere auch deshalb, weil die Klägerin bereits vor der Tat an verschiedenen für Drogenabhängige typischen Hepatitisinfektionen gelitten habe. Diese entstünden klassischer Weise durch eine direkte Blutübertragung bei der gemeinsamen Benutzung von Injektionsnadeln. Darüber hinaus habe die Klägerin damals angegeben, am Vortag der Tat, dem 15. November 1997 wenigstens mit einem weiteren Mann ungeschützten sexuellen Kontakt gehabt zu haben. Aufgrund des am 12. Dezember 1997 noch negativen Untersuchungsergebnisses könne gesagt werden, dass sich die Klägerin zu irgendeinem Zeitpunkt zwischen Mitte Juni 1997 und Mitte September 1998 mit dem HI-Virus infiziert haben müsse. Dieses könne entweder durch ungeschützten Geschlechtsverkehr oder aber durch die gemeinsame Nutzung von Injektionsbesteck im Rahmen der Drogenabhängigkeit stattgefunden haben. Eine Infizierung im Rahmen des Ereignisses vom 16. November 1997 sei zwar prinzipiell denkbar und möglich, jedoch nur eine Möglichkeit unter zahlreichen anderen. Darüber hinaus sei zu bedenken, dass es keinerlei Informationen darüber gebe, ob der Beschuldigte überhaupt HIV-positiv sei bzw. gewesen sei.

Was die von der Klägerin des Weiteren geltend gemachte Schädigungsfolge einer seelischen Erkrankung angehe, sei darauf hinzuweisen, dass die Klägerin seit ihrer Kindheit diversen, insbesondere sexuellen Traumatisierungen ausgesetzt gewesen sei. Dass diese zahlreichen, schon früher im Leben der Klägerin beginnenden Gewalterfahrungen ebenfalls schon früh zu psychischen Symptomen geführt hätten, habe die Klägerin selbst aktuell berichtet. So habe sie angegeben, schon als Kind Albträume gehabt zu haben, die im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden sein. Insgesamt sei festzustellen, dass bei der Klägerin bereits zum Zeitpunkt 16. November 1997 ein komplexes psychiatrisches Krankheitsbild vorgelegen habe, welches sich aus einer schweren Abhängigkeitserkrankung, einer mit einiger Wahrscheinlichkeit vorliegenden Borderline-Persönlichkeitsstörung und aus einer posttraumatischen Belastungsstörung zusammensetze. Es sei zwar möglich, dass es durch das Ereignis vom 16. November 1997 zu einer wahrscheinlich nur vorübergehenden Verschlechterung der Symptomatik gekommen sei, dies lasse sich jedoch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit nachweisen. Insbesondere lasse sich aus den zeitnah erstellten Berichten des H2-Krankenhauses kein entsprechender Hinweis entnehmen. Die aktuell auffallende ausgeprägte Gedächtnisproblematik sei am ehesten Ausdruck der von verschiedenen Behandlern wiederholt beschriebenen HIV-Enzephalopathie. Zusammengefasst liege bei der Klägerin eine polyvalente Drogenabhängigkeit, ein Verdacht auf eine Borderline-Persönlichkeitsstörung und Aids mit Enzephalopathie, sowie eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Das Ereignis vom 16. November 1997 sei nicht wahrscheinlich als alleinige oder Mitursache für eine dieser Gesundheitsstörungen anzusehen. Eine möglicherweise kurzzeitige, Tage bis wenige Wochen dauernde Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörung durch das Ereignis könne nicht als gesichert angesehen werden.

Das Sozialgericht hat - nach Anhörung der Sachverständigen im Termin, in welcher die Sachverständige ergänzt hat, dass auch eine Verschlimmerung des Suchtverhaltens nach dem Ereignis nicht als gesichert angesehen werden könne - die Klage mit Urteil vom 4. September 2012 abgewiesen. Es sei zwar theoretisch möglich, dass es durch die Vergewaltigung vom 16. November 1997 zu einer HIV-Infektion gekommen sei. Dies sei jedoch keineswegs wahrscheinlich, denn zum einen gebe es keinerlei Hinweis dafür, dass der Täter zum Zeitpunkt der Gewalttat selbst mit HIV infiziert gewesen sei, zum anderen seien die Lebensumstände der Klägerin bereits vor der Gewalttat mit einem hohen Risiko einer HIV-Infektion verbunden. Anlässlich des Krankenhaus-Aufenthalts der Klägerin vom 15. bis 26. Oktober 1997 seien diverse ältere Spritzen-Abszesse sowie diverse offene Stellen an Armen und Beinen dokumentiert worden. Dies mache deutlich, dass die Klägerin aufgrund ihrer Suchterkrankung nicht in der Lage gewesen sei, "Drogen unter Berücksichtigung ihrer gesundheitlichen Belange zu konsumieren". Auch das in den Akten dokumentierten Sexualleben der Klägerin vor der Gewalttat biete Hinweise auf dabei eingegangene Infektionsrisiken. Diese vielfältigen zuvor bestehenden Risiken hätten sich auch bereits vor der Tat in Hepatitis A, B und C-Infektionen manifestiert, wobei die medizinische Sachverständige im Termin zur mündlichen Verhandlung schlüssig dargelegt habe, dass die am 12. Dezember 1997 festgestellte chronische Hepatitis C-Infektion schon längere Zeit vor der Tat erfolgt sein müssen. Auch im Hinblick auf die psychische Erkrankung der Klägerin sei der Sachverständigen darin zu folgen, dass diese nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die Gewalttat von 16. November 1997 zurückzuführen sei.

Die Klägerin hat gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 8. Februar 2013 zugestellte Urteil am 6. März 2013 Berufung eingelegt. Sie macht geltend, sie sei am Morgen des Untersuchungstermins deshalb zwei Stunden zu spät erschienen, weil sie aus Panik am Morgen sämtliche verfügbaren Drogen eingenommen habe, Kokain gespritzt, Crack geraucht, Cannabis geraucht, Tabletten eingenommen und Wodka getrunken habe. Hiervon habe die Gutachterin offenbar nichts bemerkt. Sie beantrage deshalb ein neues Gutachten.

Die Klägerin beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 4. September 2012 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. September 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr wegen der Folgen der Gewalttat vom 16. November 1997 Versorgungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend. Es sei auch nicht ersichtlich, welche Ergebnisse des Gutachtens aus Sicht der Klägerin unzutreffend sein könnten.

Der Senat hat durch Beschluss vom 16. August 2013 die beantragte Prozesskostenhilfe wegen fehlender Erfolgsaussicht abgelehnt. Die medizinische Sachverständige habe anlässlich ihrer Anhörung im Termin am 4. September 2012 auf ausdrückliche Nachfrage angegeben, dass die von der Klägerin anlässlich der Untersuchung gemachten Angaben keine Auswirkungen auf die gutachterliche Beurteilung gehabt hätten und es deshalb für die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts nicht wichtig sei, ob diese Angaben zutreffend seien oder nicht.

Hinsichtlich des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird Bezug genommen auf den Inhalt der in der Sitzungsniederschrift vom 21. Oktober 2014 aufgeführten Akten und Unterlagen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 SGG) erhoben.

Sie ist jedoch nicht begründet. Rechtsgrundlage für den von der Klägerin in zulässiger Weise mit einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG) geltend gemachten Anspruch ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i.V.m. § 31 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, u.a. auch Beschädigtenrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Der Anspruch setzt damit – wie das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat - voraus, dass sowohl die gesundheitliche Schädigung als auch die Schädigungsfolgen ursächlich auf die Gewalttat zurückzuführen sind. Dabei gilt auch im OEG die Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung. Während der vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff ebenso wie das Vorliegen der gesundheitlichen Schädigung und der Schädigungsfolgen grundsätzlich des vollen Beweises bedürfen, genügt gemäß § 1 Abs. 12 S. 1 OEG in Verbindung mit § 1 Abs. 3 S. 1 BVG für den Nachweis der Kausalität die Wahrscheinlichkeit. Der Maßstab der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den haftungsbegründende Kausalität genannten Zusammenhang von Gewalttat und Primärschaden als auch für den als haftungsausfüllende Kausalität bezeichneten Zusammenhang zwischen Primärschaden und Schädigungsfolge. Der Vollbeweis eines Kausalzusammenhangs ist ebenso wenig erforderlich, wie die Möglichkeit eines Zusammenhanges ausreichend ist.

Vorliegend kann, wovon auch schon das SG ausgegangen ist, der rechtswidrige tätliche Angriff ebenso wie die geltend gemachten gesundheitlichen Störungen der Klägerin - eine HIV-Infektion und eine psychiatrische Erkrankung, bestehend aus einer schweren Abhängigkeitserkrankung, einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung - als mit dem Vollbeweis nachgewiesen erachtet werden. Jedoch sind diese Gesundheitsstörungen nicht mit dem notwendigen Maß der Wahrscheinlichkeit auf den Angriff zurückzuführen. Nach dem auch im Versorgungsrecht geltenden Prinzip der wesentlichen Mitverursachung ist nur diejenige Bedingung als ursächlich für den Gesundheitsschaden anzusehen, die im Verhältnis zu anderen Umständen wegen der besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen tätlichen Angriff und einem Körper- und Gesundheitsschaden ist gegeben, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände die auf dem Angriff beruhenden Faktoren so stark überwiegen, dass darauf die Entscheidung gestützt werden kann und wenn die gegen den ursächlichen Zusammenhang sprechenden Faktoren außer Betracht bleiben können, das heißt wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden. Hiernach lassen sich weder die HIV-Infektion noch die psychische Störung der Klägerin ursächlich auf den stattgehabten rechtswidrigen tätlichen Angriff des R.Ö. zurückführen.

Der Senat folgt insoweit nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage nach § 153 Abs. 2 SGG den in dem Urteil des Sozialgerichts dargelegten Gründen und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Lediglich ergänzend ist auf Folgendes hinzuweisen: Hinsichtlich der HIV-Infektion hat das Sozialgericht zu Recht darauf hingewiesen, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass der Täter überhaupt HIV-infiziert war bzw. ist und dass im Zusammenhang mit dem Lebenswandel der Klägerin – persistierender Konsum harter Drogen unter Verwendung von Injektionsnadeln und wechselnder Geschlechtsverkehr mit wenigstens gelegentlicher Beschaffungsprostitution – entschieden mehr gegen als für einen Ursachenzusammenhang zwischen dem rechtswidrigen tätlichen Angriff und einem Körper- und Gesundheitsschaden spricht.

Aber auch hinsichtlich der psychischen Störung der Klägerin, die unter Ziff. 3.7 der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) "Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen" einzuordnen ist, ist die Gewalttat vom 16. November 1997 nicht als wesentlich (mit-)ursächlich anzusehen. Zwar dürfte nach allgemeinem medizinischen Erfahrungswissen eine posttraumatische Belastungsstörung nach einer Vergewaltigung durchaus gehäuft auftreten (vgl. BSG, Urteil v. 26.1.1994 – 3 RVg 3/93- juris), auch geht das Bestehen von Zweifeln, ob schon vorher Krankheitssymptome vorhanden waren oder ob andere Ursachen die Krankheit herbeigeführt haben, grundsätzlich nicht zu Lasten des Opfers (BSG, Urteil v. 18.10.1995 – 9/9a RVg 4/92 – juris). Vorliegend ist aber zu berücksichtigen, dass das vorherige Vorhandensein von Krankheitssymptomen der festgestellten psychiatrischen Erkrankung nicht bloß zweifelhaft ist, sondern vielmehr feststeht. Bereits vor der angeschuldigten Gewalttat anlässlich des Krankenhausaufenthalts im Oktober 1997 ist die außerordentlich belastende Vorgeschichte der Klägerin mit einer Vielzahl von Gewalttaten, darunter auch einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen umfangreich dokumentiert. Im psychischen Befund der Klägerin vor und nach der Tat hat sich dabei nach den Aufzeichnungen des H2-Krankenhauses kein Bruch und keine Veränderung gezeigt, noch sind nach der Tat Störungen oder Beeinträchtigungen geklagt worden, die sich im Sinne diagnostischer Kriterien einer posttraumatische Belastungsstörung (B, C, D-Kriterium) deuten ließen. Auch aus diesem Grund ist die Folgerung der medizinischen Sachverständigen P., es sei nicht hinreichend wahrscheinlich, dass das Ereignis vom 16. November 1997 auch nur zu einer mehr als kurzzeitigen (d.h. mehr als Tage bis wenige Wochen andauernden) Verschlechterung der psychiatrischen Symptomatik geführt habe, nachvollziehbar und schlüssig.

Wegen der Auffassung der Klägerin, es sei eine erneute Begutachtung geboten, wird vollumfänglich auf die Gründe des die Gewährung von Prozesskostenhilfe ablehnenden Beschlusses des Senats vom 16. August 2013 Bezug genommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechts-streits in der Hauptsache.

Die Revision gegen dieses Urteil war nicht zuzulassen, weil die gesetzlichen Vorausset-zungen des § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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