L 6 RI 2/02

Land
Rheinland-Pfalz
Sozialgericht
LSG Rheinland-Pfalz
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
6
1. Instanz
SG Speyer (RPF)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG Rheinland-Pfalz
Aktenzeichen
L 6 RI 2/02
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 12.9.2001 sowie der Bescheid der Beklagten vom 23.10.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2001 werden teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, über den Antrag des Klägers auf Gewährung von Altersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres für den Zeitraum vom 1.8.1988 bis zum 31.12.1994 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats erneut zu entscheiden.
2. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist allein streitig die Frage, ob die Beklagte dem Kläger ab Vollendung seines 65. Lebensjahres Altersrente zu gewähren hat oder ob sich die Beklagte auf Verjährung berufen durfte.

Der Kläger wurde am 1923 in L /P geboren. Er ist als Jude wegen der erlittenen nationalsozialistischen Verfolgung als Verfolgter iS des § 1 BEG anerkannt.

Nach dem Besuch des Gymnasiums absolvierte der Kläger von März 1939 bis Dezember 1939 im Betrieb seines Vaters eine Ausbildung im Sattlerberuf. Von Februar 1940 bis März 1944 arbeitete er in der Straßen- bzw. Toilettenreinigung und anschließend in einer Schneiderwerkstatt im Getto L. Danach musste er Zwangsarbeit in einem Lager in C leisten. Im Herbst 1944 kam er in das Konzentrationslager (KZ) B , später in das KZ S und zuletzt in das KZ P. Nach seiner Befreiung am 8.5.1945 wurde der Kläger zunächst in einem Krankenhaus behandelt. Im Juni 1945 ging der Kläger zurück nach L , um nach seiner Familie zu suchen. Von Juli 1945 bis Juni 1946 lebte der Kläger in DP-Lagern in L und F. Am 1946 ging der Kläger nach Frankreich. Er besitzt die französische Staatsangehörigkeit. Im April 1983 beantragte der Kläger in Frankreich Altersrente, die ihm vom französischen Sozialversicherungsträger ab August 1983 gewährt wurde.

Auf seinen Antrag vom 23.2.1999 bewilligte die Beklagte dem Kläger Altersrente ab 1.1.1995 (Bescheid vom 23.10.2000). Im Widerspruchsverfahren teilte der Kläger der Beklagten auf Anfrage mit, dass er ohne deutsche Rentenleistungen eine monatliche Rente in Höhe von 1.100,- DM und seine Ehefrau eine Rente in Höhe von 1.500,- DM erhalte. Er bewohne eine Eigentumswohnung. Hierfür seien entsprechende Aufwendungen zu erbringen. Mit Widerspruchsbescheid vom 23.3.2001 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers hinsichtlich des Rentenbeginns und der Anerkennung von Ersatzzeiten nach Auswanderung des Klägers aus Deutschland zurück.

Durch Urteil vom 12.9.2001 hat das Sozialgericht (SG) Speyer die Beklagte verurteilt, den Bescheid vom 23.10.2000 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2001 zu ändern und bei dem Kläger eine zusätzliche Ersatzzeit vom 12.6.1946 bis zum 31.12.1947 anzuerkennen. Die Klage hinsichtlich des Rentenbeginns hat das SG abgewiesen. Die Beklagte habe sich ermessensfehlerfrei auf die Verjährungsvorschrift des § 45 SGB I berufen. Eine Unterbrechung der Verjährung sei durch die Antragstellung des Klägers in Frankreich im Jahr 1983 nicht eingetreten.

Gegen das am 5.12.2001 zugestellte Urteil hat der Kläger am 2.1.2002 Berufung eingelegt.

Der Kläger ist der Auffassung, dass er bereits mit dem Antrag auf Altersrente in Frankreich nach den EG-Vorschriften einen Rentenantrag bei dem deutschen Sozialversicherungsträger gestellt habe. Die Beklagte habe ihr Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Sie habe nicht berücksichtigt, dass ihm erst durch die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Jahre 1997 eine erfolgreiche Antragstellung ermöglicht worden sei.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 12.9.2001 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23.10.2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.3.2001 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm Altersrente ab 1.8.1988 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die getroffenen Entscheidungen für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist insoweit begründet, als das Urteil des SG und die Bescheide der Beklagten hinsichtlich der Entscheidung der Beklagten über die Verjährung aufzuheben sind. Die Bescheide sind in diesem Umfang rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Sie leiden an einem im Verfahren nicht behebbaren Ermessensfehler.

Gemäß § 45 Abs. 1 SGB I verjähren Ansprüche auf Sozialleistungen in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie entstanden sind. Dabei verjährt nicht das Stammrecht, sondern der einzelne auf eine zurückliegende Zeit entfallende Leistungsanspruch, der mit der Erfüllung aller Voraussetzungen des Rentenanspruches entsteht (BSG, Urteil vom 22.10.1996 – 13 RJ 17/96).

Der Kläger vollendete am 1988 sein 65. Lebensjahr. Der Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld nach § 1248 Abs. 5 RVO hatte lediglich die Vollendung des 65. Lebensjahres und die Erfüllung der Wartezeit zur Voraussetzung. Nicht zu den Voraussetzungen gehörte nach den Bestimmungen der RVO ein Rentenantrag. Dass die Vorschriften der RVO hier anzuwenden sind, ergibt sich aus § 300 Abs. 4 SGB VI. Danach entfällt ein Anspruch auf eine Leistung, der am 31.12.1991 bestand, nicht allein deshalb, weil die Vorschriften, auf denen er beruht, durch Vorschriften des SGB VI ersetzt worden sind.

Eine weitere materielle Voraussetzung für den Anspruch auf Regelaltersrente nach neuem Recht (§ 35 SGB VI) ist nach § 99 Abs. 1 SGB VI die Antragstellung.

Da der Kläger erst am 18.2.1999 seinen Rentenantrag gestellt hat, sind die Ansprüche des Klägers, die vor dem 1.1.1995 entstanden waren, verjährt. Eine Unterbrechung der Verjährung nach § 45 Abs. 3 SGB I ist durch den Antrag des Klägers beim französischen Sozialversicherungsträger nicht eingetreten. Nach Art. 36 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21.3.1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familie, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, hat ein bei dem Träger eines Mitgliedstaates gestellter Leistungsantrag zwar zur Folge, dass die Leistungen gleichzeitig nach den Rechtsvorschriften aller beteiligten Mitgliedstaaten, deren Voraussetzungen der Antragsteller erfüllt, festgestellt werden. Der Kläger hat seinen Antrag in Frankreich im April 1983 gestellt. Jedoch erst mehr als fünf Jahre später am 25.7.1988 erfüllte der Kläger die Voraussetzungen für die Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres. Ein zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen dieser Antragstellung und dem Erreichen der Altersgrenze von 65 Jahren als einer der Voraussetzungen zur Gewährung von Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres bestand somit nicht.

Die Beklagte hat sich, was nach der Regelung des § 45 Abs. 1 SGB I erforderlich ist, auf die Einrede der Verjährung berufen. Diese liegt im Ermessen des Sozialleistungsträgers.

Der § 45 SGB I enthält kein sogen. intendiertes Ermessen. Dieser Vorschrift ist kein allgemeiner Rechtsgrundsatz zu entnehmen, dass Leistungen für die Vergangenheit im Sinne einer Ausschlussfrist generell auf die nicht von der Verjährung erfassten vier Jahre vor dem Jahr der Geltendmachung beschränkt sind (BSG, Urteil vom 22.10.1996 – 13 RJ 17/96). Ermessen ist auch nicht nur dann auszuüben, sofern eine grobe Unbilligkeit vorläge oder die Einrede zu besonderen Härten führen würde. Zwar ist der Versicherungsträger im Rahmen seines Ermessen regelmäßig – d.h. wenn keine besonderen Umstände vorliegen – gehalten, die Verjährungseinrede zu erheben. Er hat jedoch zuvor eine umfassende Prüfung der gesamten Umstände vorzunehmen, die ggf. zugunsten des Versicherten zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen. Die Entscheidung der Beklagten erweist sich als ermessensfehlerhaft.

Die Beklagte ist unzutreffenderweise davon ausgegangen, dass nur ausnahmsweise, nämlich in dem Fall, dass grobe Unbilligkeit oder eine besondere Härte vorliegt, zugunsten des Versicherten auf die Einrede der Verjährung verzichtet werden kann. Die Beklagte legte dabei lediglich wirtschaftliche Gründe und Behördenfehler zugrunde. Hierbei verkennt die Beklagte die Grenzen der Ermessensentscheidung. Die Beklagte kann schon bei Vorliegen besonderer Umstände davon absehen, die Verjährungseinrede zu erheben. Insbesondere hat die Beklagte nicht erkannt, dass abhängig von den vorliegenden Umständen die Verjährungseinrede nur für einen Teil des Zeitraumes geltend gemacht werden kann.

Die Beklagte hat nicht alle relevanten Tatsachen und Umstände in ihre Ermessensentscheidung einbezogen. Der Sozialversicherungsträger kann von der Geltendmachung der Verjährungseinrede absehen, wenn der Leistungsberechtigte glaubhaft macht, dass er die Voraussetzungen des Anspruches nicht kannte (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 22.10.1996 a.a.O. mit Nachweisen aus der Gesetzesbegründung). Bei dem Kläger ist es aufgrund seiner Biographie und seines Wohnortes glaubhaft, dass er bis Februar 1999 keine Kenntnis von seiner Anspruchsberechtigung erlangt hatte, die sich schließlich erst aus der Rechtsprechung des BSG aus dem Jahr 1997 herleiten ließ. Diesem Umstand hat die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung nicht Rechnung getragen.

Die fehlende Ermessensausübung kann nicht geheilt werden. Nach § 41 Abs. 1 Nr. 2 SGB X ist eine Verletzung von Verfahrens- und Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach § 40 SGB X nichtig machen, unbeachtlich, wenn die erforderliche Begründung nachträglich gegeben wird. Die Begründung kann bis zur letzten Tatsacheninstanz des sozialgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden (§ 41 Abs. 2 SGB X). Diese Regelung gilt seit dem 1.1.2001 und ist vorliegend, da die Bescheide der Beklagten noch nicht bestandskräftig geworden sind, anzuwenden. Die genannte Vorschrift bezieht sich jedoch nur auf verfahrensrechtliche Fehler. Liegen neben (heilbaren) Verfahrensfehlern auch materiell-rechtliche Fehler vor, die das Gericht zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes verpflichten, ist eine Aussetzung nach § 114 Abs. 2 Satz 2 SGG oder die Nachholung der Begründung ausgeschlossen. Vorliegend fehlt es nicht nur an der Begründung, sondern es liegt ein materiell-rechtlicher Fehler vor. Die Beklagte hat ihren Ermessensspielraum nicht in vollem Umfang ausgeschöpft, da sie die Grenzen ihrer Ermessensentscheidung verkannt und nicht alle relevanten Umstände berücksichtigt hat. Da es sich nicht nur um einen Formfehler handelt, findet § 114 Abs. 2 SGG keine Anwendung (Urteil des Senats vom 30.4.2002 - L 6 RA 82/00 – und zur unterbliebenen Anhörung LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 22.2.2001 – L 1 Ar 247/98).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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