L 3 AL 180/14 B

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Arbeitslosenversicherung
Abteilung
3
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 1 AL 316/13
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 3 AL 180/14 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Die Beschwer des Beklagten ist immer gegeben, wenn das Gericht dem Antrag auf Klageabweisung nicht entsprochen hat (Anschluss an BSG, Urteil vom 26. Juni 1973 – 8/2 RU 112/70BSGE 36, 62 [63] = JURIS-Dokument Rdnr. 17).
2. Eine richterliche Frist wird mit der Formulierung "umgehend" nicht ordnungsgemäß gesetzt, weil ausgehend von dieser weder ein Fristende bestimmt noch bestimmbar ist.
I. Auf die Beschwerde der Beklagten wird der Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 14. November 2014 aufgehoben und der Antrag auf Androhung und nachfolgende Festsetzung eines Zwangsgeldes zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.

II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts Chemnitz vorbehalten.

Gründe:

I.

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Beschwerde vom 26. November 2014 gegen den Beschluss des Sozialgerichts Chemnitz vom 14. November 2014, in dem ihr als Vollstreckungsschuldnerin ein Zwangsgeld angedroht worden ist.

Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil vom 23. September 2014 verurteilt, die Weiterbildungsmaßnahme der Klägerin zur Altenpflegerin vom 1. September 2014 bis zum 31. August 2015 durch Bildungsgutschein zu fördern.

Am 7. November 2014 hat die Klägerbevollmächtigte beantragt, gegen die Beklagten zur Erfüllung der sich aus dem Urteil vom 23. September 2014 ergebenden Verpflichtung zur Erteilung eines Bildungsgutscheines ein Zwangsgeld bis zur Höhe von 1.000,00 EUR anzudrohen und für den Fall der Nichterfüllung bis zum 20. November 2014 festzusetzen.

Das Sozialgericht hat den Antragsschriftsatz am 12. November 2014 um 11.01 Uhr an die Beklagte per Telefax übersandt mit der Gelegenheit zur "umgehenden" Stellungnahme. Auf dem Telefaxvorblatt ist die Angabe "Eilt!!!" angebracht gewesen. Am 14. November 2014 hat das Sozialgericht einen Beschluss erlassen, in dem der Beklagten aufgegeben worden ist, ihrer im Urteil vom 23. September 2014 auferlegten Verpflichtung bis zum 28. November 2014 nachzukommen (Nummer 1). Zugleich hat es angedroht, nach vergeblichem Fristablauf ein Zwangsgeld in Höhe von 1.000,00 EUR festzusetzen. Dieser Beschluss ist der Beklagten am 14. November 2014 um 12.55 Uhr per Telefax übermittelt worden.

Die Beklagte, die am 16. Oktober 2014 Berufung (Az. L 3 AL 155/14) eingelegt hatte, hat mit zwei Schriftsätzen vom 14. November 2014, beim Landessozialgericht eingegangen am 18. November 2014, zum einen die Berufung begründet und zum anderen einen Antrag auf Aussetzung der Vollstreckung gestellt.

Die Beklagte hat ferner am 26. November 2014 Beschwerde gegen den Beschluss vom 14. November 2014 eingelegt. Sie macht geltend, dass sie nicht davon ausgegangen sei, dass die Stellungnahme sofort, sondern lediglich relativ zeitnah erfolgen solle.

Die Beklagte beantragt,

den Beschluss vom 14. November 2014 aufzuheben und den Antrag abzulehnen, hilfsweise die aufschiebende Wirkung der Beschwerde nach § 175 SGG anzuordnen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Klägerbevollmächtigte vertritt die Auffassung, dass es der Beklagten an einem Rechtsschutzbedürfnis mangle. Auch sei sie nicht beschwert. Die Klägerin habe ein besonderes Interesse an der Vollziehung des Urteils.

II.

1. Die Beschwerde der Beklagten ist entgegen der Auffassung der Klägerbevollmächtigten zulässig. Die Beklagte ist durch den Beschluss vom 14. November 2014 beschwert und besitzt für das Beschwerdeverfahren auch das Rechtsschutzbedürfnis.

Mit dem Begriff der Beschwer wird der Anspruch auf Überprüfung des Sachverhalts durch das Rechtsmittelgericht verstanden (vgl. BSG, Beschluss vom 19. September 2013 – B 3 KR 3/13 B – JURIS-Dokument Rdnr. 10). Die Beschwer ist die Ausprägung des Rechtsschutzbedürfnisses in den Rechtsmittelinstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 13. Oktober 1955 – 5 RKn 10/55 – BSGE 1, 246 [252] = JURIS-Dokument Rdnr. 46; BSG, Urteil vom 16. Februar 1982 – 8/8a RK 9/80 – JURIS-Dokument Rdnr. 12; vgl. auch Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz [11. Aufl., 2014], Vor § 143 Rdnr.5, m. w. N.). Die Beschwer des Beklagten ist immer gegeben, wenn das Gericht dem Antrag auf Klageabweisung nicht entsprochen hat (vgl. BSG, Urteil vom 26. Juni 1973 – 8/2 RU 112/70BSGE 36, 62 [63] = JURIS-Dokument Rdnr. 17, m. w. N.; Leitherer, a. a. O., Rdnr.7, m. w. N.).

In diesem Sinne sind für die Beschwerde der Beklagten gegen den Beschluss vom 14. November 2014 die erforderliche Beschwer und das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis gegeben. Es liegt nicht nur, wie die Klägerbevollmächtigte offenbar meint, eine bloß pekuniäre oder ideelle Beschwer vor.

Soweit die Klägerbevollmächtigte in diesem Zusammenhang vorträgt, die Klägerin sei von der Beklagten darauf hingewiesen worden, dass im Falle des Unterliegens in der Berufungsinstanz die Urteilsleistungen in voller Höhe zurückgefordert würden, und die Klägerin auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) oder dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) verwiesen worden sei, sie aber keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes habe, erschließt sich nicht, inwiefern dies für die Frage nach einer Beschwer der Beklagten von Bedeutung sein könnte.

Soweit die Klägerbevollmächtigte ferner eine rechtliche Beschwer der Beklagten mit dem Argument verneint, das Urteil vom 23. September 2014 sei nicht zu beanstanden, werden die Prüfungsstufen verkannt. Die Beschwer und das Rechtsschutzbedürfnis sind Sachurteilsvoraussetzungen und damit auf der Stufe der Zulässigkeit eines Rechtsmittels oder Rechtsbehelfes zu prüfen. Hingegen betrifft die Frage nach der Rechtmäßigkeit einer Entscheidung die Prüfungsstufe der Begründetheit.

2. Die Beschwerde ist auch im Sinne einer Zurückverweisung an das Sozialgericht in analoger Anwendung von § 159 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) begründet.

a) Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann die angefochtene Entscheidung aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht zurückverwiesen werden, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Diese im Berufungsverfahren angesiedelte Regelung ist im Beschwerdeverfahren analog anwendbar (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 23. Februar 2009 – L 3 B 740/08 AS-PKH – JURIS-Dokument Rdnr. 2, m. w. N.; Sächs. LSG, Beschluss vom 30. Juli 2014 – L 3 AS 796/14 B ER – JURIS-Dokument Rdnr. 2, m. w. N.; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, [11. Aufl., 2014], § 159 Rdnr. 1a).

b) Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Denn der Beklagten wurde vor dem Erlass des Beschluss vom 14. November 2014 nicht ordnungsgemäß rechtliches Gehör gewährt.

Gemäß § 62 SGG ist den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren; die Anhörung kann schriftlich oder elektronisch geschehen. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, der in Artikel 103 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verankert ist, garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie hinreichende Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern und dadurch die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003 – 2 BvR 153/02NVwZ 2003, 859 = JURIS-Dokument Rdnr. 28, m. w. N.). Der Anspruch besteht aus drei Elementen: dem Recht auf Information, dem Recht auf Äußerung und dem Recht auf Berücksichtigung (vgl. Sächs. LSG, Beschluss vom 30. Juli 2014, a. a. O., Rdnr. 4; Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, [11. Aufl., 20142], § 62 Rdnr. 6, m. w. N.). Das Recht auf Äußerung gebietet, dass der Beteiligte ausreichend Zeit erhalten muss, um sich zu den Punkten, zu denen rechtliches Gehör zu gewähren ist, äußern zu können. Eine vom Gericht gesetzte Frist muss ausreichend sein. Welche Maßstäbe hierbei zu beachten sind, hat das Bundesverfassungsgericht unter anderem im Beschluss vom 5. Februar 2003 ausgeführt. Danach wird der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn die vor Erlass der Entscheidung vom Gericht gesetzte Frist zur Äußerung objektiv nicht ausreicht, um innerhalb der Frist eine sachlich fundierte Äußerung zu erbringen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, a. a. O., m. w. N.). Richterlich gesetzte Fristen müssen so bemessen sein, dass das rechtliche Gehör nicht in unzumutbarer Weise erschwert wird (vgl. BVerfG, a. a. O., m. w. N.). Ob die Dauer einer richterlich gesetzten Frist objektiv ausreichend ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, a. a. O., Rdnr. 29, m. w. N.). Bei eilbedürftigen Verfahren oder einfach gelagerten Sachverhalten ist eine kürzere Frist ausreichend (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, a. a. O., Rdnr. 30). Stets müssen aber richterliche Fristen im Gegensatz zu gesetzlichen Fristbestimmungen, die typisieren dürfen, den genannten Maßstäben in stärkerem Maße individualisierend gerecht werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 5. Februar 2003, a. a. O., m. w. N.).

Das Sozialgericht hat mit der Formulierung "umgehend" nicht ordnungsgemäß eine Frist gesetzt. Das Bundessozialgericht hat im Urteil vom 27. Juni 1961 zum Begriff der Frist ausgeführt, dass es zum einen Fristen im engeren Sinn gebe, das heißt bestimmt begrenzte Zeiträume, innerhalb deren eine bestimmte Rechtshandlung vorzunehmen ist. Zum anderen gebe es Fristen im weiteren Sinn, das heißt alle abgegrenzten, also bestimmt angegebenen oder wenigstens bestimmbaren Zeiträume schlechthin, auch wenn sie nicht zusammenhängend zu verlaufen brauchen. Diese umfassende Begriffsbestimmung gelte nicht nur im bürgerlichen Recht, sondern auch im Sozialversicherungsrecht, das sich bei seiner Fristenregelung eng an das Bürgerliche Gesetzbuch angelehnt habe (vgl. BSG, Urteil vom 27. Juni 1961 – 3 RK 64/58 – BSGE 14, 273 [274] = JURIS-Dokument Rdnr. 15, m. w. N.; vgl. auch Mutschler, in: Kasseler Kommentar – Sozialversicherungsrecht – [Stand: 83. Erg.-Lfg., 2014], § 26 Rdnr. 3; Siefert, in: von Wulffen/Schütze, SGB X [8. Aufl., 2014], § 26 Rdnr. 3).

Eine Frist wird regelmäßig nach Tagen, Wochen oder Monaten bestimmt (vgl. z. B. § 64 Abs. 1 und 2 SGG, § 188 Abs. 1 und 2 BGB). In diesen Fällen endet die Frist grundsätzlich mit dem Ablauf des letzten Tages der Frist (vgl. z. B. § 64 Abs. 2 SGG, § 188 Abs. 1 und 2 BGB). Eine Frist kann aber auch nach anderen Zeiteinheiten bestimmt werden, zum Beispiel nach Stunden. So kann das Fristende abweichend von den allgemeinen Regeln nicht auf den Ablauf eines Tages, sondern auf eine bestimmte Uhrzeit an diesem Tag gelegt werden.

Eine solche Fristbestimmung ist vorliegend nicht erfolgt. Ausgehend von der Formulierung "umgehend" ist ein Fristende nicht bestimmt; es ist auch nicht bestimmbar. Denn diese Zeitbeschreibung ist ebenso wie der unbestimmte Rechtsbegriff "unverzüglich" in § 121 Abs. 1 Satz 1 BGB (vgl. hierzu: BGH, Urteil vom 22. Juni 2004 – X ZR 171/03BGHZ 159, 350 = NJW 2004, 3178 = JURIS-Dokument Rdnr. 25) unbestimmt und damit auslegungsbedürftig. Demjenigen, der die Zeitvorgabe "unverzüglich" erhält, ist es nicht möglich, das Ende der Äußerungsfrist zu bestimmen. Damit ist für ihn weder zu erkennen, welche Zeitspanne ihm zur Verfügung steht, um von seinem Äußerungsrecht Gebrauch zu machen, noch bis wann er einen Antrag auf Fristverlängerung (vgl. z. B. § 65 SGG) stellen muss, wenn ihm die gesetzte Frist als nicht ausreichend erscheint.

Vorliegend ändert auch die Angabe "Eilt!!!" auf dem Telefaxvorblatt nichts daran, dass das Sozialgericht keine ordnungsgemäße Frist gesetzt hat. Damit wird lediglich die Kurzfristigkeit der Möglichkeit zur Stellungnahme verdeutlicht, ohne dass dadurch das Fristende nunmehr bestimmt oder bestimmbar wäre.

Es kann dahingestellt bleiben, ob vorliegend die Zeitspanne von knapp 49 Stunden, die zwischen der Übermittlung des vollstreckungsrechtlichen Antrages an die Beklagte und der Entscheidung des Sozialgerichtes über die diesen Antrag lag, der Angelegenheit angemessen und für eine hinreichende Prüfung und Stellungnahme durch die Beklagte ausreichend gewesen wäre. Denn der Beklagten war nach ihren schriftlichen Ausführungen nicht die Kürze der Stellungnahmefrist bekannt, sodass eine wie immer geartete Reaktion auf das Anhörungsschreiben des Sozialgerichtes nicht erfolgte.

c) Die Zurückverweisung ist ermessensgerecht, weil nicht auszuschließen ist, dass eine etwaige Stellungnahme der Beklagten Auswirkungen auf die Entscheidung des Sozialgerichts haben könnten.

3. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung des Sozialgerichts vorbehalten (vgl. Leitherer, a. a. O., § 193 Rdnr 2a).

4. Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.

Dr. Scheer Höhl Krewer
Rechtskraft
Aus
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