L 6 SF 830/14 ER

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
6
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 6 AS 2920/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 6 SF 830/14 ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Den Antragsgegnern wird für das Verfahren L 6 SF 830/14 ER Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt K, H, beigeordnet. Der Antrag des Antragstellers, die Vollstreckung aus dem Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 06.11.2014 einstweilen auszusetzen, wird abgelehnt. Der Antragsteller trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsgegner.

Gründe:

Nach § 199 Abs. 2 SGG kann der Vorsitzende des Gerichts, das über das Rechtsmittel zu entscheiden hat, die Vollstreckung durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat.

Der Aussetzungsantrag ist zulässig.

Der vom Antragsteller mit der Beschwerde angefochtene Beschluss des Sozialgerichts vom 06.11.2014 ist ein vollstreckbarer Titel (§ 199 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Mit ihm wurde der Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragsgegnern für die Zeit vom 24.10.2014 bis zum 31.03.2015 den Regelbedarf nach § 20 SGB II bei fortdauernder Hilfebedürftigkeit unter Beachtung des zufließenden Einkommens vorläufig zu bewilligen und auszuzahlen. Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung (s § 175 Satz 1 und 2 SGG).

Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Die Entscheidung nach § 199 Abs. 2 SGG ist eine Ermessensentscheidung (s BSG SozR 4-1500 § 154 Nr. 1; LSG BW Beschluss vom 26.01.2006 - L 8 AS 403/06 ER; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG 10. Aufl. § 199 Rdnr 8 mwN; aA BSG SozR 3-1500 § 199 Nr. 1). Sie erfordert regelmäßig die Abwägung des Interesses des Gläubigers an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung des Instanzenzuges zu leisten (s Leitherer aaO mwN). Bei der Bewertung der Umstände des Einzelfalls können auch die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels von Bedeutung sein (s BSG SozR 4 aaO). Für die einstweilige Aussetzung der Vollstreckung bedarf es aber regelmäßig besonderer rechtfertigender Umstände, die über die Nachteile hinausgehen, die für den Antragsteller mit der Zwangsvollstreckung aus einem noch nicht rechtskräftigen Titel als solcher regelmäßig verbunden sind. Dies folgt aus der Entscheidung des Gesetzgebers, dass die Rechtsmittel Berufung und Beschwerde schon grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben (§ 154 Abs. 1 iVm § 86 a; § 154 Abs. 2 SGG (Berufung); § 175 Satz 1 und 2 SGG (Beschwerde)) (vgl. hierzu auch BSG Beschluss vom 05.09.2001 - B 3 KR 47/01 R) und - bezogen auf die hier eingelegte Beschwerde - keiner der in § 175 Satz 1 und 2 SGG aufgeführten Tatbestände gegeben ist, der ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung nach sich zieht.

In einem Verfahren auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass der Antragsteller mit dem Aussetzungsantrag ebenfalls eine nur vorläufige Regelung über die Aussetzung der Vollstreckung bis zur Beendigung des Instanzenzuges erstrebt. Ist aber schon das in der Hauptsache geführte Eilverfahren im Sinne eines nach Maßgabe des Art. 19 Abs. 4 SGG effizienten Rechtsschutzes darauf gerichtet, durch den Erlass einer einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Beeinträchtigungen abzuwenden, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden können (s etwa BVerfG Beschluss vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03; BVerfG aaO), so bedarf es für eine vorläufige Aussetzung der Vollstreckung nach § 199 Abs. 2 SGG im Eilverfahren der Glaubhaftmachung weiterer schwerwiegender Nachteile, die nicht anders abwendbar sind als in dem schmalen Zeitfenster bis zur Entscheidung über die Beschwerde (zur Glaubhaftmachung s Bay LSG Beschluss vom 08.02.2006 - L 10 AS 17/06 ER; LSG BW Beschluss vom 24.06.2008 - L 7 AS 2955/08 ER). Damit ist der Anwendungsbereich des § 199 Abs. 2 SGG auch und gerade in Eilverfahren von vorneherein auf nur wenige Fallgestaltungen beschränkt.

In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Antrag keinen Erfolg. In dem eher kurz bemessenen Zeitraum bis zur endgültigen Entscheidung im Eilverfahren sind keine zusätzlichen Nachteile erkennbar, die über die Gefahr des Ausfalls der Rückforderung hinausgehen und durch die Aussetzung nach § 199 Abs. 2 SGG abgewendet werden könnten. Die Abwägung des Interesses des Gläubigers an der Vollziehung mit dem Interesse des Schuldners, nicht vor der Beendigung des Instanzenzuges zu leisten, ergibt hier einen offenkundigen Vorrang der Interessen der Antragsgegner.

Als Nachteil auf Seiten des Antragstellers ist lediglich zu berücksichtigen, dass er - würde die Zwangsvollstreckung nicht einstweilen ausgesetzt - eine etwaige Rückforderung ggfs. nicht realisieren kann, wenn auf die Beschwerde hin der angefochtene Beschluss ganz oder teilweise geändert wird. Das Interesse der Antragsgegner hingegen ist auf die Zahlung vorläufig zuerkannter Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II gerichtet. Dabei handelt es sich um existenzsichernde Leistungen. Ihre Gewährung entspricht einer verfassungsrechtlichen, dem Schutz der Menschenwürde dienenden Pflicht des Staates (vgl. BVerfG Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). In dieser Konstellation sind Interessen des Antragstellers kaum denkbar und auch hier nicht ersichtlich, die gegenüber der existenzsichernden Funktion der zuerkannten Leistungen überhaupt und zudem deutlich überwiegen.

Es liegt auch kein Fall vor, der ausnahmsweise eine andere Gewichtung gebieten könnte. Insbesondere handelt es sich bei dem angefochtenen Beschluss nicht um eine aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen offensichtlich gesetzeswidrige Entscheidung, an der der Antragsteller nicht zumutbar festgehalten werden dürfte (zur Berücksichtigung der Erfolgsaussichten des Rechtsmittels bei Entscheidungen nach § 199 Abs. 2 SGG vgl. BSG Beschluss vom 09.05.2001 - B 3 KR 47/01 R; Leitherer in Meyer-Ladewig/Leitherer/Keller aaO). Nach der im Verfahren nach § 199 Abs. 2 SGG gebotenen summarischen Überprüfung sieht das Gericht jedenfalls keine Anhaltspunkte für eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung.

Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs (§ 7 Abs. 1 SGB II) glaubhaft gemacht wurden; dem widerspricht auch der Antragsteller nicht.

Soweit er für das Beschwerdeverfahren daran festhält, dass die Antragsteller gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen seien, da sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergebe, begründet dieser Vortrag angesichts der in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Meinungsvielfalt zur Europarechtskonformität/-widrigkeit dieser Vorschrift schon keine offensichtliche Rechtswidrigkeit der angefochtenen Entscheidung. Nach der Rechtsprechung des Senats greift § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht. Europarecht steht einem Leistungsausschluss zwar nicht grundsätzlich entgegen. Den Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in dieser Form hält er aber nicht für europarechtskonform mit der Folge, dass ein Leistungsanspruch unmittelbar aus Art. 4 VO 883/2004 besteht (LSG NRW Urteil vom 28.11.2013 - L 6 AS 103/13). Einer Folgenabwägung, die das Sozialgericht von seiner Rechtsauffassung ausgehend zutreffend vorgenommen hat, bedarf es dann nicht.

Jenseits dieser europarechtlichen Problemstellungen zum Leistungsausschluss dürfte der Antragsteller (auch) nach Maßgabe des § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II i.V.m. § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III verpflichtet sein, Arbeitslosengeld II zu zahlen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind erfüllt. Es kann offen bleiben, ob und ggfs inwieweit der Leistungsträger berechtigt ist, eine Prüfung der "Erfolgs"aussichten vorzunehmen und in welchem Umfang eine solche Einschätzung bei der zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigt werden kann. Der Ansatz des Antragstellers, die Vorlagefragen des BSG in seinem Beschluss vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R in dem Sinne selbst zu beantworten, dass der Leistungsausschluss europarechtskonform sei, begegnet jedenfalls durchgreifenden Bedenken. Selbst wenn die Rechtsauffassung des Antragstellers durch den EuGH bestätigt bzw. gestützt werden würde, hat hier doch immerhin das höchste deutsche Fachgericht die aus seiner Sicht maßgeblichen Rechtsfragen zur europarechtlichen Beurteilung des Leistungsausschlusses dem EuGH vorgelegt und nicht selbst höchstrichterlich beantwortet. Bei dieser Sachlage dürfte die für § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II jedenfalls ausreichende Ergebnisoffenheit allgemein bejaht werden können. Die Vorlagefragen bleiben auch nach dem Urteil des EuGH vom 11.11.2014 - C 333/13 (in Sa. Dano) weiterhin von entscheidungserheblicher Bedeutung. Die Entscheidung betraf mit einer Antragstellerin, die nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts und des EuGH keine Arbeit suchte, eine andere Fallgestaltung; sie enthält Ausführungen zur Anwendbarkeit der VO 883/2004 und der URL (s auch Senatsurteil vom 28.11.2013 - L 6 AS 103/13), nicht aber zur Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Angesichts der existenzsichernden Funktion des Arbeitslosengeldes II dürfte es pflichtwidrig sein, überhaupt keine Leistungen zu erbringen (vgl etwa Düe in Brand SGB III 6. Aufl. 2012 § 328 Rdnr 18 mwN), jedenfalls bezogen auf die Zuerkennung der Regelleistung dürfte eine Ermessensreduzierung auf Null anzunehmen sein. (vgl. Eicher aaO; s auch LSG Thüringen Beschluss vom 25.04.2014 - L 4 AS 306/14 B ER - juris Rn. 24 ff., 34; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 27.05.2014 - L 34 AS 1150/14 B ER - www.sozialgerichtsbarkeit.de; SG Halle/Saale Beschluss vom 30.05.2014 - S 17 AS. 2325/14 ER - juris Rn. 31, 33 mwN jeweils zur Ermessensreduzierung auf Null bei existenzsichernden SGB II-Leistungen). Damit ist der Antragsteller außerhalb des Eilverfahrens jedenfalls bis zur Entscheidung des EuGH verpflichtet, eine vorläufige Leistung zu erbringen, die der im einstweiligen Rechtsschutz zuerkannten vorläufigen Leistung entspricht.

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung von § 193 Abs. 1 SGG.

Da die Rechtsverteidigung der Antragsgegner aus den dargelegten Gründen Erfolgsaussichten hatte und nicht mutwillig erschien, war ihnen, die die Kosten dieser Rechtsverteidigung nicht, auch nicht anteilig tragen können, Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt K beizuordnen (§ 73 SGG i.V.m. §§ 114, 115 ZPO).
Rechtskraft
Aus
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