L 2 P 20/96

Land
Saarland
Sozialgericht
LSG für das Saarland
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG für das Saarland (SAA)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG für das Saarland
Aktenzeichen
L 2 P 20/96
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
3 RP 13/97
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Eine Beaufsichtigung ist dem Hilfebedarf auf dem Gebiet der Grundpflege zuzurechnen, wenn sie erforderlich ist bei einem Pflegebedürftigen, der sich aggresiv und/oder autoaggresiv verhält. Obwohl die Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen nicht zu den im Gesetz aufgeführten Katalogverrichtungen gehört, ist sie dennoch notwendig, daß die Katalogverrichtungen überhaupt sinnvoll und ungestört vorgenommen werden können.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 10. Juni 1996 wird zurückgewiesen. Die Beklagte hat auch die dem Kläger im Berufungsverfahren entstandenen Kosten zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger Ansprüche nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs, Soziale Pflegeversicherung (SGB X) wegen erheblicher Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I) zustehen.

Der Vater des Klägers ist seit 7. Dezember 1966 als Mitglied bei der Krankenkasse der Beklagten krankenversichert. Der am xxxx geborene Kläger ist im Rahmen der Familienversicherung über seinen Vater bei der Beklagten kranken- und pflegeversichert. Er leidet an einem globalen Entwicklungsrückstand, vornehmlich im Sprachbereich, an Strabismus convergens, einem cerebralen Anfallsleiden und erheblicher motorischer Unruhe bei Verdacht auf frühkindliche Hirnschädigung. Nach den Vorschriften des Schwerbehindertengesetzes ist bei ihm ein Grad der Behinderung von 70 festgestellt.

Ein Antrag auf Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach den bis 31. März 1995 geltenden §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V a.F.) wurde durch Bescheid vom 12. Dezember 1990 abgelehnt. Ein hiergegen gerichteter Widerspruch wurde nicht beschieden, nachdem das Widerspruchsverfahren von der Mutter des Klägers nach Belehrung durch die Krankenkasse der Beklagten mit Schreiben vom 28. Januar 1991 nicht mehr weitergeführt wurde.

Mit einem am 3. Dezember 1994 von der Mutter des Klägers unterzeichneten Formular wurden Leistungen nach den Vorschriften der sozialen Pflegeversicherung beantragt. Alsdann erfolgte eine Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung im Saarland (MDK) am 20. Januar 1995 im häuslichen Bereich. Im hierüber erstellten Gutachten vom 27. Februar 1995 wurde ausgeführt, daß Hilfebedarf lediglich vier- bis fünfmal täglich beim Waschen bestehe, einmal wöchentlich beim Duschen bzw. Baden, womit teilweise selbständig begonnen werde, zweimal täglich bei der Zahnpflege und zweimal täglich beim Kämmen, wobei jeweils eine Aufforderung notwendig sei; auch beim Waschen sei lediglich eine Aufforderung notwendig, die Verrichtung werde selbständig durchgeführt; der Hilfebedarf bei der Körperpflege betrage ca. 15 bis 20 Minuten täglich; darüber hinaus bestehe ein Hilfebedarf beim An- und Auskleiden dergestalt, daß eine gelegentliche Kontrolle des konkreten Sitzens notwendig sei. Im übrigen wurde Hilfebedarf, insbesondere bei der Ernährung, verneint, wobei ein etwaiger Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung außer acht gelassen worden ist, da ein solcher Hilfebedarf bei Kindern unter 16 Jahren nicht zu berücksichtigen sei. Weiterhin wurde ausgeführt, der Kläger sei mit 7 Jahren in die Schule für körperlich und geistig Behinderte in S. eingeschult worden. Diese Schule besucht der Kläger täglich von 9.00 Uhr bis 15.15 Uhr. Außerdem erfolgt einmal wöchentlich eine logopädische Schulung.

Im Hinblick darauf, daß nach den Feststellungen des MDK der tägliche, über das bei gesunden Kindern dieses Alters übliche Maß hinausgehende Hilfebedarf 90 Minuten nicht erreiche, lehnte die Beklagte das Begehren des Klägers mit Bescheid vom 15. März 1995 ab. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Kläger geltend, er bedürfe fast ständiger Aufsicht und könne wegen seiner motorischen Unruhe, auch wegen aggressiver und autoaggressiver Ausbrüche, die in verschiedenen, der Beklagten vorliegenden Arztberichten beschrieben seien, nicht allein gelassen werden; er sei örtlich nur grob, zeitlich nicht orientiert; seine Feinmotorik sei mäßig, seine Grobmotorik deutlich retardiert; bei in der Universitätsnervenklinik H. durchgeführten Tests habe er durchweg nicht das Niveau eines gesunden vierjährigen Kindes erreicht; aus diesen Behinderungen ergebe sich ein Zeitaufwand von mehr als 90 Minuten für die täglich anfallenden Hilfeleistungen; so bedürfe er der Hilfe im Bereich der Ernährung, weil er kaum in der Lage sei, sich auch nur ein einfaches belegtes Brot oder ähnliches zuzubereiten; gesunde Kinder im gleichen Alter seien dagegen sehr wohl in der Lage, sich auch einfache Speisen selbst zuzubereiten; er bedürfe zumindest der Aufsicht beim An- und Auskleiden; zwar sei er grundsätzlich in der Lage, die einzelnen Kleidungsstücke selbständig an- und auszuziehen, benötige aber dennoch hin und wieder der Hilfe, so z.B. beim Zuknöpfen und ähnlichem; darüber hinaus sei er auch nicht in der Lage, sich selbständig passende Kleidungsstücke herauszusuchen; er sei auch nicht imstande, die Wohnung alleine zu verlassen und selbständig wiederzufinden; er bedürfe außerhalb der Wohnung der ständigen Begleitung; das bedeute, daß ihn seine Mutter auch stets morgens zur Bushaltestelle begleiten und dort wieder abholen müssen; wenn er seine "bockigen Phasen" habe, die regelmäßig aufträten, müsse er von der Mutter persönlich zur Schule gebracht werden, da er sich zu solchen Zeiten strikt weigere, in den Schulbus einzusteigen. Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme des MDK, erstellt am 4. August 1995 durch die bereits im Ausgangsverfahren tätige Pflegefachkraft Hoffmann, mit der die oben aufgeführten Einwände des Klägers als bereits berücksichtigt oder unerheblich gewürdigt wurden, wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 1995 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht für das Saarland (SG) die Erstellung eines sozialmedizinischen Gutachtens vom 15. März 1996 durch Dr. R., Ü., veranlaßt. Der Sachverständige hat - im wesentlichen den Angaben der Mutter des Klägers folgend - einen Hilfebedarf festgestellt, wie er sich aus der nachfolgenden Darstellung ergibt.

Waschen:

Durch korrigierendes Eingreifen der Mutter beim morgendlichen und abendlichen Waschen fallen zweimal täglich 7,5 Minuten an, insgesamt also 15 Minuten.

Duschen/Baden:

Über die Angaben der Mutter hinaus hat der Sachverständige insoweit 20 Minuten eingesetzt für den wöchentlichen Badevorgang, pro Tag also 3 Minuten.

Zahnpflege:

Hier hat der Sachverständige dreimal 2 Minuten täglich angesetzt, da die Mutter des Klägers diese Verrichtung überwachen müsse, insgesamt also 6 Minuten.

Kämmen:

Da der Kläger kurze Haare habe, die rasch durchgekämmt seien, und ein wesentlicher Zeitaufwand nicht anfalle, hat der Sachverständige den Hilfebedarf mit täglich 1 Minute angesetzt.

Darm-/Blasenentleerung:

Nach den Feststellungen des Sachverständigen ist bei der Blasenentleerung keine Hilfe erforderlich; bei der Darmentleerung rufe der Kläger am Ende des Vorgangs seine Mutter, die bei Bedarf das Gesäß nachreinige; insoweit fällt eine Hilfebedarf von täglich 3 Minuten an.

Mundgerechte Zubereitung der Nahrung/Nahrungsaufnahme:

Insoweit hat der Sachverständige einen Hilfebedarf verneint, da der Kläger die Nahrung selbständig aufnehmen könne und bei der Zubereitung nur im Einzelfall beim Kleinschneiden etwas geholfen werden müsse, etwa wenn Fleischstücke äußerst unhandlich seien oder Fleisch sehr zäh sei.

Auf dem Gebiet der Mobilität hat der Sachverständige lediglich beim An- und Auskleiden einen Hilfebedarf von 3 Minuten festgestellt, da die Mutter des Klägers den Vorgang am Ende kontrolliere und eventuell beim Schnüren von Schuhen helfen müsse. Im übrigen hat der Sachverständige auf diesem Gebiet keinen Hilfebedarf gesehen.

Zu einem etwaigen Pflegebedarf in der Nacht hat er ausgeführt, der Kläger schlafe nachts in der Regel durch; gelegentlich gebe es schon mal Schwierigkeiten.

Offengelassen hat er die Rechtsfrage, ob Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung anerkannt werden könne; der Kläger müsse an Schultagen von seiner Mutter von der Wohnung zum Behindertenbus begleitet werden; dazu benötige die Mutter hin und zurück 10 Minuten zweimal täglich, insgesamt täglich also 20 Minuten.

Diese Zeitspanne hat der Sachverständige bei dem insgesamt von ihm festgestellten Pflegebedarf von 31 Minuten nicht berücksichtigt, da insoweit kein Grundbedarf vorliege.

Weiterhin hat er festgestellt, daß die hauswirtschaftliche Versorgung uneingeschränkt durch die Mutter des Klägers erfolge.

Nach Anhörung der Mutter des Klägers hat das SG durch Urteil vom 10. Juni 1996 der Klage stattgegeben. In der Begründung ist es auf einen etwaigen Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung und dessen Anrechnung nicht eingegangen, sondern hat entscheidend darauf abgestellt, daß im Bereich der Grundpflege ein Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten erreicht werde. Hierbei ist es zunächst von den Feststellungen des Sachverständigen Dr. R. ausgegangen, wonach ein Hilfebedarf von 31 Minuten vorliege. Zu diesem Zeitwert hat das SG pro Tag 15 Minuten hinzugerechnet, da nach den Gesetzesmaterialien (Bundesratsdrucksache 505/93, Seiten 94 bis 97) im Bereich der Mobilität solche Verrichtungen außerhalb der Wohnung in die Begutachtung einzubeziehen seien, die für die Aufrechterhaltung der Lebensführung unumgänglich seien und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig machten; in diesem Zusammenhang werde das Aufsuchen von Ärzten, Krankengymnasten, Apotheken oder Behörden genannt; hiervon würden Spaziergänge und der Besuch kultureller Veranstaltungen abgegrenzt; wenn aber der Gang zur Behörde zu berücksichtigen sei, müsse dies erst Recht für den Schulbesuch gelten; da dieser Zeitaufwand nur an Schultagen anfalle, müsse der gesamte Zeitaufwand von fünfmal 20 Minuten durch 7 geteilt werden, so daß sich ein Hilfebedarf von rund 15 Minuten ergebe. Weiterhin hat das SG einen täglichen Hilfebedarf von 6 Minuten festgestellt, da die Mutter des Klägers 40 Minuten wöchentlich zu seiner Begleitung zur Logopädie benötige.

Die weiteren Ausführungen der Mutter des Klägers bei ihrer Anhörung, wonach sie den Kläger beim Aufsuchen der Toilette beaufsichtigen müsse, weil er ansonsten neben die Toilette uriniere oder Wasserhähne aufdrehe oder sonstigen Unfug mache, hat das SG ebensowenig berücksichtigt wie ihren Vortrag, wonach sie den Kläger ständig beaufsichtigen müsse, weil er sich der Gefahren seines Tuns nicht bewußt sei; so habe sie ihm vor kurzer Zeit eine Kerze wegnehmen müssen, die er unter den Gasboiler gehalten habe; wenn sie nicht aufpasse, hantiere er mit Streichhölzern herum; außerdem hebe er alles vom Boden auf und stecke es in den Mund, so etwa Medikamente, Tiernahrung usw. Desgleichen blieb die Behauptung des Klägers unberücksichtigt, daß auch nachts Pflegebedarf anfalle, wenn der Kläger Harndrang verspüre, weil er andernfalls neben das Klosett urinieren oder sich zu spät melden und das Bett einnässen würde; es komme etwa einmal pro Woche vor, daß die Mutter des Klägers nachts das ganze Bett frisch beziehen und den Kläger ein weiteres Mal säubern müsse.

Gegen dieses ihr am 17. Juni 1996 zugegangene Urteil hat die Beklagte mit einem am 4. Juli 1996 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, der Schulbesuch könne nicht als eine solche Verrichtung angesehen werden, wie etwa ein Arztbesuch, der für die Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Haus unumgänglich sei und das persönliche Erscheinen des Pflegebedürftigen notwendig mache; deshalb sei ein etwaiger Hilfebedarf auf Wegen zum Schulbesuch nicht anrechenbar, so daß sich der vom SG angenommene Hilfebedarf von insgesamt 52 Minuten auf 37 Minuten reduziere, also der Mindestbedarf von mehr als 45 Minuten im Bereich der Grundpflege nicht erreicht werde. Schließlich hat sie im Termin zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, daß Dr. R. einen ständigen Aufsichtsbedarf zur Vermeidung von Selbst- oder Fremdschäden nicht festgestellt habe.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 10. Juni 1996 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt das angefochtene Urteil.

Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens und des sonstigen Verfahrensganges wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

Es wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten; diese lagen dem Senat auszugsweise in Ablichtung vor; insoweit war sie Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung, bezüglich deren Zulässigkeit sich keine Bedenken ergeben, ist unbegründet. Das SG hat im Ergebnis zu Recht festgestellt, daß dem Kläger Leistungen gem. den Vorschriften der Sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I wegen erheblicher Pflegebedürftigkeit zu gewähren sind.

Beim Kläger liegt ein Hilfebedarf von insgesamt 90 Minuten vor, den § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI als Voraussetzung für die Gewährung der beantragten Leistungen nennt.

Dieser Hilfebedarf wird alleine schon erreicht durch notwendige Hilfe auf dem Bereich der Grundpflege. Tatsächlich ist ein solcher Hilfebedarf auch im wesentlichen auf dem Gebiet der Grundpflege erforderlich, da der beim Kläger auf hauswirtschaftlichem Gebiet unstreitig vorliegende Hilfebedarf im vorliegenden Fall nicht ins Gewicht fällt. Hauswirtschaftlicher Hilfebedarf ist nur anzuerkennen, wenn er den Hilfebedarf übersteigt, den auch ein gesundes Kind gleichen Alters auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung hat. Zwar ist bei Kindern von unter 16 Jahren nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), ergangen zu den §§ 53 ff. SGB V a.F., davon auszugehen, daß sie wirtschaftlich meßbar hauswirtschaftliche Versorgungen noch nicht ausführen. Demnach wäre die Tatsache, daß auch der Kläger hauswirtschaftliche Versorgungen nicht ausführen kann, an sich unbeachtlich. Ob dieser Rechtsprechung unter der Geltung des SGB XI uneingeschränkt beigetreten werden kann, ist zweifelhaft. Würde man Hilfebedarf bei kranken oder behinderten Kindern von unter 16 Jahren auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung schlechthin verneinen, da auch gesunde Kinder wirtschaftlich meßbar solche Verrichtungen nicht ausführen, so könnten Kinder unter 16 Jahren bei wörtlicher Anwendung der maßgeblichen Vorschriften des SGB XI schlechthin keine Leistungen erwarten. Denn § 15 Abs. 1 SGB XI setzt für alle Stufen der Pflegebedürftigkeit Hilfebedarf auch auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung voraus, der in keinem Fall vorliegen würde, wenn unter Beachtung von § 15 Abs. 2 SGB XI, wonach bei Kindern für die Zuordnung in die einzelnen Pflegestufen der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend ist, zusätzlicher Hilfebedarf auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung von vornherein zu verneinen wäre. Ein solches Ergebnis - keinerlei Ansprüche von Kindern unter 16 Jahren aus der Sozialen Pflegeversicherung - ist offensichtlich vom Gesetzgeber nicht gewollt. Das hieraus resultierende Dilemma wird von den Pflegekassen, soweit dies dem Senat ersichtlich ist, so zu lösen versucht, daß der (fehlende) Hilfebedarf auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung kompensiert werden soll durch (erhöhten) Hilfebedarf auf dem Gebiet der Grundpflege, so daß zumindest die für die einzelnen Pflegestufen in § 15 Abs. 3 SGB XI vorgesehenen Mindestzeiten insgesamt erreicht werden. Ob diese Praxis, die über das Erfordernis zusätzlichen Hilfebedarfs auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung hinweggeht und im Ergebnis bei Kindern einen erheblich höheren Hilfebedarf auf dem Gebiet der Grundpflege verlangt als bei Erwachsenen, Rechtens ist, muß ebenfalls bezweifelt werden. Jedenfalls wird der Hilfebedarf bei Kindern, was im angefochtenen Urteil übersehen worden ist und worauf der Senat die Parteien ausdrücklich hingewiesen hat, im wesentlichen im Bereich der Grundpflege festzustellen sein.

In vorliegender Sache können die oben beschriebenen Zweifel zurückgestellt werden, da beim Kläger nach Auffassung des Senats einerseits durchaus ein zusätzlicher Hilfebedarf auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung (im Vergleich zu einem gesunden gleichaltrigen Kind) vorliegt und andererseits allein auf dem Gebiet der Grundpflege ein Hilfebedarf feststellbar ist, der, da nur um die Einordnung in die Pflegestufe I gestritten wird, die in § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI verlangte Mindestzeit von 90 Minuten erreicht.

Der Kläger, der zur Zeit des möglichen Leistungsbeginns (1. April 1995) fast 13 und zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung fast 15 Jahre alt war, kann, worüber nicht gestritten wird, keine Verrichtungen auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung vornehmen. Insoweit unterscheidet er sich von gesunden gleichaltrigen Kindern. Abgesehen davon, daß gesunde Kinder dieses Alters im Haushalt durchaus schon zur Hand gehen können (etwa beim Reinigen der Wohnung, beim Spülen und beim Wechseln der Kleidung), können sie jedenfalls schon selbständig Einkäufe tätigen. Dies entspricht einerseits allgemeiner Lebenserfahrung, die aus der Beobachtung des Konsumverhaltens dieser Altersgruppe geschöpft werden kann, und aus der Wahrnehmung gezielt auf diese Altersgruppe gerichteter Werbekampagnen. Andererseits kommt auch in den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) über die beschränkte Geschäftsfähigkeit Minderjähriger zum Ausdruck, daß Kinder, die das 7. Lebensjahr vollendet haben, sehr wohl schon Kaufverträge wirksam abschließen können im Rahmen der §§ 107 bis 113 BGB, wobei bei Dreizehnjährigen insbesondere an § 110 BGB ("Taschengeldparagraph") zu denken ist, bei Fünfzehnjährigen schon an § 113 BGB (unbeschränkte Geschäftsfähigkeit im Rahmen eines mit Ermächtigung des gesetzlichen Vertreters begonnenen Dienst- oder Arbeitsverhältnisses). Daß somit der Gesetzgeber Kindern im Alter des Klägers zutraut und ermöglicht, in gewissem Rahmen wirksam Rechtsgeschäfte abzuschließen, trägt der Lebenswirklichkeit und dem Bedarf Rechnung, daß eben solche Geschäfte auch abgeschlossen werden.

Vor diesem Hintergrund ist zumindest beim Einkaufen von wirtschaftlich beachtlichem Handeln eines gesunden Kindes im Alter des Klägers auszugehen. Im übrigen ergibt sich beispielhaft für den Bereich der Ernährung (im Sinne von Beschaffung und Vorbereitung von Mahlzeiten etwa beim Obst- und Gemüseanbau) aus der Datensammlung für die Kalkulation der Kosten und des Arbeitszeitbedarfs im Haushalt (4. Auflage 1991), daß auch beim Kindern bis zu 10 Jahren und bei Jugendlichen ein statistisch bemerkenswerter Arbeitszeitbedarf festzustellen ist (a.a.O. Seite 29 und 46). Dieses Zahlenwerk liegt auch der "Begutachtungsanleitung Pflegeversicherung gem. SGB XI" zugrunde (vgl. dort S. 40), so daß bei Kindern im Alter des Klägers eine nennenswerte Mithilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung sehr wohl erwartet werden kann und - wenn sie fehlt - bei der Berechnung des Hilfebedarfs einkalkuliert werden muß. Da der Kläger zur Mithilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung nicht in der Lage ist, liegt zusätzlicher Hilfebedarf auch auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Versorgung vor.

Stellt man nur auf den Hilfebedarf bei der Grundpflege ab, so werden aber auch allein insoweit mindestens schon die in § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI geforderten 90 Minuten erreicht, so daß erhebliche Pflegebedürftigkeit in jedem Fall zu bejahen ist.

Auszugehen ist zunächst von einem Hilfebedarf von 31 Minuten, wie ihn der Sachverständige Dr. R. festgestellt hat, ohne daß die Beklagte dies angreift oder sich sonstwie Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, daß diese Schätzung zu hoch ausgefallen wäre. Hinzu treten 6 Minuten, die nach den von der Beklagten ebenfalls nicht angegriffenen Feststellungen des SG anzurechnen sind wegen der pro Woche 40 Minuten dauernden Begleitung zur Logopädie.

Ein weiterer Hilfebedarf ergibt sich aus den Zeiten, die bei der Begleitung des Klägers von und zum Schulbus anfallen. Insoweit kann dahinstehen, ob ein Schulbesuch schlechthin eine solche Verrichtung außerhalb der häuslichen Umgebung ist, die - wie ein Arztbesuch - zur Aufrechterhaltung der Lebensführung zu Hause unumgänglich ist. Jedenfalls muß dies für den Besuch einer Schule für körperlich- und geistig Behinderte gelten. In diesen Schulen wird, was sich im S. aus den einschlägigen Lehrplänen und Richtlinien ergibt (GMBl. Saar 1980, S. 457 und 1985, S. 314), u. a. zumindest auch die Grob- und Feinmotorik geschult, da ausdrücklich die Bewegungserziehung in den genannen Lehrplänen enthalten ist. Ebenso ist als Erziehungsziel ausdrücklich die Fähigkeit genannt, sich selbst zu versorgen und zur Sicherung der eigenen Existenz beizutragen. Maßnahmen, die aber dazu geeignet sind und darauf abzielen, die Fähigkeit zur Ausübung der Katalogtätigkeiten zu verbessern, müssen nach Auffassung des Senats ohne weiteres in derselben Weise behandelt werden wie etwa die Inanspruchnahme ärztlich veranlaßter Therapien. Dementsprechend ist der insoweit vorliegende Hilfebedarf von täglich 15 Minuten zu Recht vom SG anerkannt worden.

Weiterhin führen die von Dr. R. eher beiläufig behandelten "Schwierigkeiten", die gelegentlich nachts auftreten könnten, dazu, daß auch insoweit Hilfebedarf festzustellen ist. Die schriftsätzlich wiedergegebenen Angaben der Mutter des Klägers, es komme vor, daß der Kläger nachts Harndrang verspüre und, wenn sie nicht helfend eingreife, neben die Toilette oder ins Bett uriniere, sind ohne weiteres nachvollziehbar. Angesichts der Tatsache, daß ein solcher Vorgang einerseits ohne weiteres 10 Minuten dauern kann, wenn der Kläger desorientiert ist, aus dem Schlafzimmer zur Toilette gebracht, dort überwacht und zurückbegleitet werden muß, aber auch angesichts des Umstandes, daß derartige Vorgänge, wie jedenfalls dem von Dr. R. erstatteten Gutachten zu entnehmen ist, nicht regelmäßig anfallen, kann ein Hilfebedarf von 5 Minuten angenommen werden, so daß sich allein auf dem Gebiet der Grundpflege ein Hilfebedarf von 57 Minuten ergibt.

Die Differenz von 33 Minuten zu den insgesamt geforderten 90 Minuten fällt an Hilfebedarf schon deshalb an, weil der Kläger beaufsichtigt werden muß, um Schaden abzuwenden, den er sich oder anderen antun könnte. Die vom Kläger behaupteten aggressiven und autoaggressiven Ausbrüche sind in einer Reihe von Arztberichten dokumentiert. Von der Mutter des Klägers geschilderte Verhaltensauffälligkeiten im Sinne einer Jactatio capitis würden schon - wenn auch während eines stationären Aufenthalts nur ganz vereinzelt beobachtet - in einem Bericht der Kinderklinik W. der Stadt S. vom 21. Dezember 1984 bestätigt. In einem weiteren Bericht dieser Klinik vom 14. November 1985 wird auto-aggressives Verhalten (Schlagen von Spielsachen gegen den Kopf, Schlagen des Kopfes gegen die Wand) beschrieben, ebenso in einem Bericht der Kinderklinik K. vom 28. Januar 1986.

In einer ärztlichen Beurteilung des Kinderarztes Dr. W., S., vom 22. November 1990 wird berichtet, der Kläger sei umtriebig, hyperkinetisch und müsse ständig überwacht werden. In einem von der Ärztin F. erstatteten MDK-Gutachten vom 10. Dezember 1990 wird eine ausgeprägte motorische Unruhe beschrieben, die ständige Aufsicht erforderlich mache. Zuletzt wird noch in einem Bericht der Universitätsnervenklinik H. vom 16. Februar 1995 wiedergegeben, daß es gelegentlich zu Hause zu aggressiven Ausbrüchen komme. Vor dem SG hat die Mutter des Klägers u.a. angegeben, sie müsse den Kläger ständig beaufsichtigen, weil er sich der Gefahren seines Tuns nicht bewußt sei; so habe sie ihm vor kurzer Zeit eine Kerze wegnehmen müssen, die er unter den Gasboiler gehalten habe; wenn sie nicht aufpasse, hantiere der Kläger mit Streichhölzern herum; außerdem nehme er alles in den Mund wie z.B. Medikamente und Tiernahrung. Danach ist hinreichend belegt, daß der Kläger wegen aggressiver und auto-aggressiver Verhaltensweisen der ständigen Aufsicht bedarf. Daß Dr. R. bei seiner Untersuchung hierzu keine Feststellungen getroffen hat, ist nicht ausschlaggebend, da der einmalige Eindruck bei einer Untersuchung nicht die Erkenntnisse entkräften kann, die über Jahre gewonnen worden sind. Aus demselben Grund konnte es auch nicht entscheidend darauf ankommen, daß die Mutter des Klägers bei dieser Untersuchung über aggressive oder auto-aggressive Verhaltensweisen nicht berichtet hatte, zumal sie davon ausgehen konnte, daß Dr. R. aufgrund der bei den Akten befindlichen Belege hinreichend informiert war. Einer erneuten Anhörung von Dr. R. bedurfte es angesichts der oben wiedergegebenen Feststellungen nicht mehr.

Bei ständiger Beaufsichtigung ist aber ein Zeitaufwand hierfür von mindestens 33 Minuten, also rund einer halben Stunde pro Tag, ohne weiteres zu bejahen. Zwar gehört die Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen nicht zu den im Gesetz aufgezählten Katalogverrichtungen. Sie ist aber - ebenso wie bestimmte lebensnotwendige Verrichtungen auf dem Gebiet der Behandlungspflege - notwendige Grundlage dafür, daß die Katalogverrichtungen überhaupt sinnvoll und ungestört vorgenommen werden können. Dementsprechend wird in der Literatur (Udsching, Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs, VSSR 1996, S. 271 ff.) ausdrücklich gefordert, daß der Zeitaufwand als Pflegebedarf anzurechnen ist, der erforderlich ist, um einen Pflegebedürftigen, der sich aggressiv und/oder auto-aggressiv verhält, zu beaufsichtigen. Dort wird einerseits hervorgehoben, daß die Materialien zum SGB XI, bezogen auf § 12 Abs. 3 des Entwurfs einerseits und § 13 des Entwurfs andererseits widersprüchlich sind, da einerseits der Aufsichtsbedarf, der bei einer fortgeschrittenen Abbauerkrankung des Gehirns besteht, als Beispiel für einen umfassenden Pflegebedarf rund um die Uhr genannt, andererseits die Einschränkung gegeben wird, bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu einer Pflegestufe komme es nur auf die erforderliche Anleitung und Beaufsichtigung an, die für die Katalogverrichtungen benötigt werde. Zu Recht wird aber darauf abgehoben, daß die durch das 1. SGB XI- Änderungsgesetz vom 14. Juni 1996 gegebene Neufassung des § 43 Abs. 3 SGB XI deutlich macht, daß ein umfassender Aufsichtsbedarf unabhängig von einer Zuordnung zu einzelnen Verrichtungen zu berücksichtigen ist; denn dort wird beispielhaft die schwere Demenz für die Erforderlichkeit eines außergewöhnlich hohen und intensiven Pflegeaufwandes genannt, der die Einstufung als Härtefall begründen kann, zumal gerade bei schwerer Demenz der häufig ununterbrochen bestehende Hilfebedarf nur zum Teil einzelnen Verrichtungen zugeordnet werden kann. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an, so daß schon alleine deshalb ein Hilfebedarf von insgesamt mindestens 90 Minuten festzustellen ist.

Selbst wenn der Hilfebedarf von 15 Minuten für die Begleitung auf dem Schulweg und 5 Minuten für die nächtliche Hilfestellung beim Wasserlassen zu verneinen wäre, müßte die dann noch verbleibende Differenz zu den erforderlichen 90 Minuten, nämlich 53 Minuten, ohne weiteres als eine für die Beaufsichtigung erforderliche Zeit angesehen werden, so daß in jedem Fall insgesamt ein Pflegebedarf von 90 Minuten allein auf dem Gebiet der Grundpflege erreicht wird. Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, da die Frage, ob Hilfebedarf bei der Beaufsichtigung eines aggressiven und auto-aggressiven Pflegebedürftigen bei der Berechnung des Pflegebedarfs nach § 15 Abs. 3 Nr. 1 SGB XI anzurechnen ist, von grundsätzlicher Bedeutung ist.
Rechtskraft
Aus
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