L 2 P 22/97

Land
Saarland
Sozialgericht
LSG für das Saarland
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG für das Saarland (SAA)
Aktenzeichen
-
Datum
2. Instanz
LSG für das Saarland
Aktenzeichen
L 2 P 22/97
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Maßnahmen der Behandlungspflege, die von ungeschulten Angehörigen durchgeführt werden können sind bei der Bemessung des Hilfebedarfs zu berücksichtigen, wenn sie die Durchführung der in § 14 SGB XI aufgezählten Katalogverrichtungen erst ermöglichen. (vgl. 4 in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu den Vorschriften der §§ 53 bis 57 SGB V a.F.)
1. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 14. Februar 1997 wird zurückgewiesen.
2. Auf die Anschlußberufung des Klägers wird die Beklagte verurteilt, Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) zu gewähren.
3. Die Beklagte hat dem Kläger auch die im Berufungsverfahren entstandenen Kosten zu erstatten.
4. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger von der Beklagten Pflegegeld nach der Pflegestufe III im Sinne der Vorschriften des Sozialgesetzbuchs, Soziale Pflegeversicherung (SGB XI) verlangen kann.

Der Vater des Klägers ist Mitglied der Versicherung der. Der am xxxx geborene Kläger ist dort familienversichert. Er ist pflegeversichert bei der Beklagten.

Mit einem am 3. August 1995 vom Vater des Klägers unterzeichneten Formular wurde Pflegegeld für die Zeit ab 1. April 1995 nach den Bestimmungen des SGB XI geltend gemacht. Dem Begehren liegt zugrunde, daß der Kläger wegen eines Geburtsfehlers an einer Luftröhrenverengung leidet. Nachdem der Kläger als frühgeborener Zwilling in der 32. Schwangerschaftswoche zur Welt kam, mußte zunächst eine Langzeitbeatmung in der Neonatalperiode durchgeführt werden. Im Februar/März 1995 mußte nach einem Bericht der Klinik S. vom 1. August 1995 erneut eine aggressive Beatmungstherapie aufgrund einer schweren obliterierenden Bronchiolytis durchgeführt werden, wobei sich als Folge dieser Erkrankung eine zunehmende Larynxstenose mit einer nicht mehr zu beherrschenden Atemproblematik entwickelt hatte, die zuletzt die notfallmäßige Tracheotomie notwendig machte. Seither atmet der Kläger durch ein Luftröhrchen, das nicht fest eingepflanzt, sondern nur durch den Luftröhrenschnitt eingeführt und lediglich durch ein Halsband fixiert ist. Der sich im Luftröhrchen ansammelnde Schleim ist mehrmals täglich abzusaugen, um ein Verstopfen der Kanüle zu verhindern. Der Kläger kann die Notwendigkeit der Kanüle, die aus seinem Hals heraushängt, nicht begreifen. Er muß überwacht werden, damit er sich die Trachealkanüle nicht aus dem Hals zieht. Er muß ebenfalls deshalb überwacht werden, weil auch sein Zwillingsbruder an dieser Kanüle zieht, ebenso ein zwei Jahre älterer Bruder. Der Kläger braucht eine regelmäßige intensive Krankengymnastik, um durch die Bewegung besser abhusten zu können und um seine statomotorische Retardierung im Sinne einer normalen Entwicklung zu fördern. In einem von Dr. W. für den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung im S. (MDK) am 8. November 1995 erstellten Gutachten wird ausgeführt, daß der Kläger rund um die Uhr pflegerisch versorgt werden muß. Bezüglich der Verrichtungen auf dem Gebiet der Körperpflege und der Ernährung wurde ein Hilfebedarf verneint. Dagegen wurde auf dem Gebiet der Mobilität beim An- und Auskleiden ein Hilfebedarf von 2 x täglich zusätzlich zur Vojta-Gymnastik (20 Minuten) bejaht sowie beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung 1 x wöchentlich zur ambulanten Behandlung im Krankenhaus (auf den Tag bezogen: 10 Minuten). Pflegebedürftigkeit wurde im Ergebnis verneint. Gleichwohl wurde in der zusammenfassenden Beurteilung hervorgehoben, daß 10 bis 12 x täglich das Absaugen einer Trachealkanüle erforderlich sei, zeitweise auch nachts; zusätzlich müsse 1 x täglich für ca. 10 Minuten eine Inhalation verabreicht werden; die Trachealkanüle werde 2 x wöchentlich, die Metaline 1 x täglich gesäubert; dieses Wechseln müsse von zwei Pflegepersonen vorgenommen werden, weil der Kläger sehr unruhig dabei sei; ein erhöhter Pflegeaufwand sei auch durch das Säubern der Geräte (Absauggerät, Inhalierer) notwendig; den Kläger dürfe man praktisch Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen, da es sonst wiederholt zu lebensbedrohlichen Situationen kommen könne; nachts werde der Kläger an einen Heimmonitor zur Überwachung angeschlossen; der Kläger brauche regelmäßige intensive Krankengymnastik (2 x täglich nach Vojta), um durch die Bewegung besser abhusten zu können und seine statomotorische Retardierung im Sinne einer normalen Entwicklung zu fördern; der durch die Überwachung und Pflege des Luftröhrchens anfallende Pflegebedarf sei der Behandlungspflege zuzuordnen, während der zusätzliche tägliche Hilfebedarf auf dem Gebiet der Grundpflege im Vergleich zu einem gesunden Kind 30 Minuten betrage. Die Beklagte lehnte daraufhin das Begehren des Klägers mit Bescheid vom 13. November 1995 ab.

Im anschließenden Widerspruchsverfahren verwertete die Beklagte eine von dem Arzt S. erstellte gutachtliche Stellungnahme des MDK vom 17. Januar 1996, in der pauschal das Erstgutachten gestützt wird. Zusätzlich wird dort betont, daß die im Widerspruchsverfahren vorgebrachten Einwände des Kläger überwiegend behandlungspflegerische und therapieunterstützende Maßnahmen sowie eine allgemeine Beaufsichtigung und Überwachung beträfen, welche nach den Vorschriften des SGB XI nicht anrechenbar seien; auch unter Berücksichtigung eines vom Kläger vorgebrachten häufigeren Erbrechens, das zu einem zusätzlichen Waschen oder Baden führe und einer etwas feineren Zubereitung der Nahrung, könne allenfalls ein zusätzlicher Hilfebedarf der Grundpflege von 15 Minuten berücksichtigt werden, so daß insgesamt jedenfalls kein Zeitaufwand erreicht werde, der eine Einstufung nach dem SGB XI erlauben würde. Gestützt hierauf hat die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 9. April 1996 zurückgewiesen.

Im anschließenden Klageverfahren hat der Kläger im wesentlichen auf sein Vorbringen im Verwaltungsverfahren verwiesen und im übrigen Bezug genommen auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 17. April 1996 in der Sache 3 RK 28/95, das sich mit dem Anspruch eines an Mukoviscidose erkranken Versicherten nach den früher geltenden Vorschriften über Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach dem Sozialgesetzbuch, Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V a.F.) befaßte. Der Kläger meint, daß die das Urteil tragende Grundentscheidung auch auf die Vorschriften des SGB XI übertragbar sei; die Grundpflege, die durch die Vorschriften des SGB XI gesichert sei, umfasse auch solche im zeitlichen Zusammenhang mit den (im Sinne der §§ 53 bis 57 SGB V a.F.) Katalogtätigkeiten erforderlichen Hilfeleistungen, die die Verrichtungen ermöglichen und die nicht die Fachkunde eines Gesundheitsberufs erfordern, also regelmäßig von Familienmitgliedern erbracht werden.

Das Sozialgericht für das Saarland (SG) hat der Klage ohne Beweiserhebung durch Gerichtsbescheid vom 14. Februar 1997 stattgegeben, wobei es in der Hauptsache tenoriert hat:

"Unter Aufhebung des Bescheides vom 13.11.1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 09.04.1996 wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger ab dem 07.08.1995 ein Pflegegeld mindestens nach der Pflegestufe I zu zahlen."

Zur Begründung hat es ausgeführt, daß der Kläger mindestens der Pflegestufe I zuzuordnen sei; danach werde gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 1 SGB XI in Verbindung mit Abs. 3 Nr. 1 SGB XI ein Hilfebedarf von täglich mindestens 90 Minuten verlangt, wovon mehr als 45 Minuten auf die Grundpflege entfallen müssten; bei Kindern sei für die Zuordnung allein der zusätzliche Hilfebedarf gegenüber einem gesunden gleichaltrigen Kind maßgebend; die in § 14 Abs. 4 SGB XI aufgeführten Verrichtungen im Bereich der Grundpflege eigneten sich zur Beurteilung der Pflegebedürftigkeit von Kindern allerdings nur sehr eingeschränkt; vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern werde der Ablauf des täglichen Lebens von wenigen Verrichtungen aus den Bereichen Ernährung und Körperpflege geprägt; ein zusätzlicher Zeitaufwand könne aber auch dadurch entstehen, daß die Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen ständig überwacht werden müsse (Udsching, Kommentar zum SGB XI, § 15 Rz. 9); denn eine krankheitsbedingte Unfähigkeit zur eigenständigen Durchführung von Verrichtungen sei auch dann gegeben, wenn die Grunderkrankung Störungen von Vitalfunktionen, wie hier des Atmens, verursache und die Hilfeleistung primär der Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen diene; zwar sei das Atmen selbst nicht im Katalog der Verrichtungen enthalten; entscheidungserheblich sei hier jedoch, daß der Kläger bestimmte Katalogverrichtungen nur durchführen könne, wenn er Hilfeleistungen erhalte; so erfordere die Pflege des lebensnotwendigen Tracheostomas bereits nach den Feststellungen im Verwaltungsgutachten vom 5. September 1995 viel Zeit und Sorgfalt und es sei in dem Verwaltungsgutachten zu Recht ausgeführt, daß man den Kläger praktisch Tag und Nacht nicht aus den Augen lassen dürfe, weil es sonst zu lebensbedrohlichen Situationen kommen könne; bei diesem Befund müsse aber von einer Rund-um-die-Uhr-Betreuung ausgegangen werden, was eine exakte zeitliche Ermittlung des Hilfebedarfs entbehrlich mache. Hierbei hat sich das SG ausdrücklich auch auf das vom Kläger zitierte BSG-Urteil vom 17. April 1996 gestützt, das - entgegen der Auffassung der Beklagten - sehr wohl auch auf die Vorschriften des SGB XI anzuwenden sei; das BSG habe bei seiner Entscheidung wiederholt auf die Neuregelung des SGB XI verwiesen und bei der Auslegung der §§ 53 ff. SGB V a.F. die Zielsetzung des Pflegeversicherungsgesetzes herausgestellt.

Gegen diesen ihr am 24. Februar 1997 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte mit einem am 6. März 1997 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt.

Zur Begründung vertritt sie die bereits im Klageverfahren geäußerte Auffassung, daß die Rechtsprechung des BSG zu den §§ 53 ff. SGB V a.F. nicht übertragbar sei auf die Vorschriften des SGB XI; der Gesetzgeber habe Maßnahmen der Behandlungspflege bewußt nicht in § 14 SGB XI aufgenommen; dementsprechend seien sie auch in den Pflegebedürftigkeits-Richtlinien und der (damals geltenden) "Begutachtungsanleitung Pflegeversicherung gemäß SGB XI" des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen nicht berücksichtigt worden, wobei diese als Richtlinien nach § 282 Satz 3 SGB V vom Beschlussgremium nach § 213 SGB V auf Empfehlung des Vorstandes des Medizinischen Dienstes beschlossen worden sei; es entspreche auch der Auffassung des BMA, daß Verrichtungen im Bereich der Behandlungspflege von § 14 SGB XI nicht erfaßt werden, da andernfalls eine vom Gesetzgeber ausdrücklich nicht gewollte Öffnung des Pflegebegriffs im Rahmen der Pflegeversicherung herbeigeführt würde.

Sie beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts für das Saarland vom 14. Februar 1997 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie die Anschlußberufung zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

1.) die Berufung zurückzuweisen und

2.) im Wege der Anschlußberufung, die Beklagte zu verurteilen,

ihm, dem Kläger, Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit (Pflegestufe III) zu gewähren.

Er verteidigt das angefochtene Urteil, soweit es seinem Begehren stattgibt, und meint, daß die Hilfe, die ihm seine Eltern angedeihen lassen müssen, damit er atmen kann, wie das Abklopfen bei Mukoviscidose-Kindern als pflegeunterstützende Maßnahme im Rahmen einer aktivierenden Pflege den Hilfebedarf mitbestimme; diese pflegeunterstützenden Maßnahmen kompensierten die Defizite, die er im Bereich der Grundfunktionen habe und die ohne Unterstützung der pflegenden Eltern zum Exitus führen würden; ohne diese Maßnahmen seien ihm die Verrichtungen des täglichen Lebens nicht möglich. Schließlich meint er, daß er - über die Entscheidung des SG hinaus - Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit verlangen könne.

Hinsichtlich des weiteren Parteivorbringens und des sonstigen Verfahrensganges wird auf den Inhalt der Gerichtsakte verwiesen.

Es wird Bezug genommen auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Beklagten; die Beiakte war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Bezüglich der Zulässigkeit der Berufung und der Anschlußberufung haben sich keine Bedenken ergeben, wobei im bezug auf die Anschlußberufung zu beachten ist, daß der Kläger durch das angefochtene Urteil beschwert ist, da er im Klageverfahren einen (alle Pflegestufen) umfassenden Leistungsantrag gestellt hat, den das SG - über die Pflegestufe I hinausgehend - weder zugesprochen noch abgewiesen hat. Die Berufung ist jedoch unbegründet, die Anschlußberufung hingegen begründet mit der Folge, daß Leistungen nach der Pflegestufe III zu gewähren sind.

Dem Kläger stehen Leistungen wegen Schwerstpflegebedürftigkeit zu, da er gemäß § 15 Abs. 1 Nr. 3 Abs. 3, Nr. 3 SGB XI der Pflegestufe III zuzuordnen ist. Nach diesen Bestimmungen sind Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung und der Mobilität täglich Rund-um-die-Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen. Dabei muß der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 5 Stunden betragen; hierbei müssen auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen.

Daß beim Kläger - verglichen mit gesunden Kleinkindern seines Alters - vermehrte Hilfe bei der hauswirtschaftlichen Versorgung anfällt, ergibt sich aus den Angaben seines Vaters im Widerspruchsverfahren (Schreiben vom 8. Dezember 1995), die angesichts des Krankheitsbildes des Klägers ohneweiteres plausibel sind und denen die Beklagte auch nicht entgegengetreten ist. Danach treten bedingt durch die Trachealkanüle vermehrt Infektionskrankheiten auf, und es ist insbesondere ein ständiger Hustenreiz (entweder durch die Kanüle selbst oder durch die Infektionen) vorhanden. Das führt zu einem regelmäßigen Erbrechen ein- bis zweimal pro Tag. Hierdurch wird nach Auffassung des Senats ein zusätzlicher Hilfebedarf im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung hervorgerufen, da die Bekleidung - eventuell auch das Bett - des Klägers öfters zu reinigen ist.

Im übrigen ergibt sich ein Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege, der rund um die Uhr reicht, so daß die oben genannten Zeitvorgaben ohne weiteres erfüllt werden.

Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, daß der Kläger einer Betreuung rund um die Uhr bedarf. Diese Betreuungsmaßnahmen, die zum Teil aus pflegeunterstützenden Maßnahmen bestehen, zum Teil aus einer Beaufsichtigung, um den Kläger vor Eigengefährdung und vor Gefährdungen durch Dritte zu schützen, sind bei dem in § 15 SGB XI normierten Hilfebedarf zu berücksichtigen. Da sie rund um die Uhr erbracht werden müssen, kann ohne weitere Differenzierung eine Zuordnung zur Pflegestufe III erfolgen.

Der Senat schließt sich uneingeschränkt den Ausführungen des SG an, wonach - ausgehend von der Rechtsprechung des BSG zu den Vorschriften der §§ 53 bis 57 SGB V a ...F. - Maßnahmen der Behandlungspflege, die von ungeschulten Angehörigen durchgeführt werden können und die die Durchführung der in § 14 SGB XI aufgezählten Katalogverrichtungen erst ermöglichen, bei Bemessung des Hilfebedarfs zu berücksichtigen sind. Angesichts der Materialien zum SGB XI, auf die weiter unten eingegangen wird, hält der Senat auch die von der Beklagten zitierte Auffassung des BMA nicht für maßgebend, wonach aus der Erwägung, daß die Leistungen der Pflegeversicherung nicht ausufern sollen und die Pflegeversicherung finanzierbar bleiben soll, behandlungspflegerische Maßnahmen bei der Bemessung des Hilfebedarfs außer acht bleiben sollen. Abgesehen davon, daß diese Auffassung schon vor dem Hintergrund unvertretbar erscheint, daß derzeit eine Ausweitung des Leistungsspektrums der Pflegeversicherung diskutiert wird angesichts der sehr guten finanziellen Ausstattung der Pflegekassen, würde es nach Auffassung des Senats auch zu sinnwidrigen, das Gebot der Gleichbehandlung mißachtenden Ergebnissen führen, wenn vergleichsweise geringfügige Verrichtungen (Kämmen, Rasieren, Zähneputzen) unter dem Schutz der Pflegeversicherung stehen würden, die ihnen zugrunde liegenden existentiellen Verrichtungen (Atmen) aber nicht.

Desgleichen hat der Senat bereits durch - wegen ausdrücklich durch den Senat zugelassener Revision bisher nicht rechtskräftiges - Urteil vom 27. Mai 1997 (L 2 P 20/96) entschieden, daß Maßnahmen der Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen den Zeitaufwand des Hilfebedarfs im Sinne des § 14 SGB XI mitbestimmen, sofern sie die notwendige Grundlage dafür bieten, daß die Katalogverrichtungen überhaupt sinnvoll und ungestört vorgenommen werden können. Insbesondere gilt dies für den Zeitaufwand, der erforderlich ist, um einen Pflegebedürftigen, der sich aggressiv und/oder auto-aggressiv verhält, zu beaufsichtigen. Da der Kläger unstreitig Tag und Nacht im Auge behalten werden muß, damit er sich die Luftröhrenkanüle nicht selbst herauszieht oder damit ihm die Luftröhrenkanüle nicht von seinem älteren oder seinem Zwillingsbruder herausgezogen wird, ist alleine schon die Überwachung des Klägers als Hilfebedarf anzurechnen.

Zwar gehört die Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen nicht zu den im Gesetz aufgezählten Katalogverrichtungen. Sie ist aber - ebenso wie bestimmte lebensnotwendige Verrichtungen auf dem Gebiet der Behandlungspflege - notwendige Grundlage dafür, daß die Katalogverrichtungen überhaupt sinnvoll und ungestört vorgenommen werden können. Dementsprechend wird in der Literatur (Udsching, Rechtsfragen bei der Bemessung des Pflegebedarfs, VSSR 1996, S. 271 ff.) ausdrücklich gefordert, daß der Zeitaufwand als Pflegebedarf anzurechnen ist, der erforderlich ist, um einen Pflegebedürftigen, der sich aggressiv und/oder auto-aggressiv verhält, zu beaufsichtigen. Dort wird einerseits hervorgehoben, daß die Materialien zum SGB XI, bezogen auf § 12 Abs. 3 des Entwurfs einerseits und § 13 des Entwurfs andererseits widersprüchlich sind, da einerseits der Aufsichtsbedarf, der bei einer fortgeschrittenen Abbauerkrankung des Gehirns besteht, als Beispiel für einen umfassenen Pflegebedarf rund um die Uhr genannt, andererseits die Einschränkung gegeben wird, bei der Feststellung der Pflegebedürftigkeit und der Zuordnung zu einer Pflegestufe komme es nur auf die erforderliche Anleitung und Beaufsichtigung an, die für die Katalogverrichtungen benötigt werde. Zu Recht wird aber darauf abgehoben, daß die durch das 1. SGB XI-Änderungsgesetz vom 14. Juni 1996 gegebene Neufassung des § 43 Abs. 3 SGB XI deutlich macht, daß ein umfassender Aufsichtsbedarf unabhängig von einer Zuordnung zu einzelnen Verrichtungen zu berücksichtigen ist; denn dort wird beispielhaft die schwere Demenz für die Erforderlichkeit eines außergewöhnlich hohen und intensiven Pflegeaufwandes genannt, der die Einstufung als Härtefall begründen kann, zumal gerade bei schwerer Demenz der häufig ununterbrochen bestehende Hilfebedarf nur zum Teil einzelnen Verrichtungen zugeordnet werden kann. Dieser Auffassung schließt sich der Senat an.

Bei einem somit festzustellenden Hilfebedarf "Rund-um-die-Uhr" war zu entscheiden wie erkannt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).

Die Revision war zuzulassen, da der Sache grundsätzliche Bedeutung zukommt angesichts der höchstrichterlich ungeklärten Fragen, ob Behandlungspflege, soweit sie in Zusammenhang mit den Katalogverrichtungen steht und diese erst ermöglicht, und die Beaufsichtigung eines auto-aggressiven Pflegebedürftigen den Hilfebedarf nach § 14 SGB XI mitbestimmen.
Rechtskraft
Aus
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