L 5 SF 105/13 KO

Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Sonstige Angelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 SF 105/13 KO
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Als Nebenpflicht aus einer vertraglichen Vergütungsvereinbarung des Gerichts mit einem häufig und langjährig beauftragten Sachverständigen können sich Fürsorge- und Hinweispflichten ergeben.

2. Eine Verletzung dieser Pflichten durch das Gericht kann einen Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand des Sachverständigen auch dann begründen, wenn dieser eine Frist schuldhaft versäumt hat.
Dem Erinnerungsführer wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Gründe:

I.

Der Erinnerungsführer begehrt eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

In dem Verfahren L 1 R 161/11 vor dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht erstattete der Erinnerungsführer für die beabsichtigte mündliche Verhandlung vom 27. Mai 2013 ein arbeitsmarkt- und berufskundiges Gutachten. Hierfür erhielt er die von ihm in Rechnung gestellte Vergütung nach dem JVEG i. H. v. 103,50 EUR. Umsatzsteuer auf den Rechnungsbetrag hatte der Erinnerungsführer nicht geltend gemacht.

Mit am 27. August 2013 bei dem Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangenen Schreiben teilte der Erinnerungsführer mit, dass das Finanzamt Eckern¬förde-Schleswig mit Bescheiden vom 20. August 2013 hinsichtlich seiner Sachverständigentätigkeit ab dem Jahre 2006 Umsatzsteuer nacherhoben habe. Er bitte um "Einsetzung in den vorherigen Stand und beantrage die Nachberechnung der Umsatzsteuer". Mit weiterem am 2. September 2013 eingegangenem Schreiben bezifferte er die von ihm nachzuentrichtende Umsatzsteuer auch für Gutachten in anderen Verfahren im Einzelnen. Zur Begründung seines Antrags führte der Erinnerungsführer aus, dass ihm seine Umsatzsteuerpflicht nicht bekannt gewesen sei. Obwohl es mit wechselnden Mitarbeitern des Finanzamts Gespräche über seine Sachverständigentätigkeit gegeben habe, sei er von dort zu keinem Zeitpunkt auf eine mögliche Umsatzsteuerpflicht hingewiesen worden.

Mit Schreiben vom 19. März 2013 teilte der Kostenbeamte des Schleswig-Holsteini-schen Landessozialgerichts dem Erinnerungsführer mit, dass er den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ablehne. Zur Begründung führte er aus:

"Nach § 12 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Justizvergütungs- und –entschädigungsgesetz (JVEG) kann der Sachverständige die auf seine Vergütung entfallende Umsatzsteuer als Aufwendung geltend machen. Für die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit des Landes Schleswig-Holstein gilt, dass die Umsatzsteuer nicht mit der zwischen dem Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts und der Bundesagentur für Arbeit vereinbarten pauschalen Vergütung abgegolten ist. Dies ermöglicht einen gesonderten Ersatz. Die Vergütung wie auch die Nachvergütung der Umsatzsteuer richten sich dabei nach den Vorschriften des JVEG.

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 JVEG erlischt der Anspruch auf Vergütung oder Entschädigung, wenn er nicht binnen drei Monaten bei der Stelle, die den Berechtigten herangezogen oder beauftragt hat, geltend gemacht wird. Innerhalb der dreimonatigen Frist muss der Sachverständige seinen Vergütungsanspruch nach Grund und Höhe vollständig beziffern und insbesondere auch die auf den Rechnungsbetrag entfallende Umsatzsteuer geltend machen. Mit der Kostenrechnung nicht geltend gemachte Umsatzsteuer kann er danach nur noch unter der Voraussetzung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 2 Abs. 2 Satz 1 JVEG erhalten. Das Gericht gewährt dem Berechtigten, der ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist gehindert war, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, wenn er innerhalb von zwei Wochen nach Beseitigung des Hindernisses den Anspruch beziffert und die Tatsachen glaubhaft macht, welche die Wiedereinsetzung begründen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 29. April 2013, 9 W 34/13, Thüringer Oberlandesgericht, Beschluss vom 7. November 2011, 1 Ws 398/11, Bayerisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21. Dezember 2011, L 15 SF 208/10 B E).

Der Sachverständige ist, auch wenn seine Tätigkeit als Sachverständiger nicht die hauptsächlich ausgeübte berufliche Tätigkeit darstellt, gehalten, sich mit den einschlägigen rechtlichen Bestimmungen des JVEG, einschließlich der für ihn relevanten steuerlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Rückfragen bei Steuerbehörden oder Steuerberatern, ob die Tätigkeit der Umsatzsteuer unterliegt, sind zumutbar. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts den Sachverständigen hierauf hinzuweisen. Unerheblich ist auch, ob Formulare des Gerichts eine Rubrik für die Geltendmachung der Umsatzsteuer enthalten. Denn es ist allein Aufgabe des Sachverständigen sich über die gesetzlichen Grundlagen seiner Rechnungstellung zu informieren (vgl. Oberlandesgericht München, 4. Senat, Beschluss vom 29. November 2012, 4 Ws 187/12).

Durch die Nichteinholung der entsprechenden Informationen vor Aufnahme Ihrer Sachverständigentätigkeit haben Sie gegen diese Sorgfaltspflichten verstoßen und waren demnach nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Frist zur Geltendmachung des Vergütungsanspruchs verhindert."

Hiergegen richtet sich die vom Erinnerungsführer am 23. September 2013 eingelegte Erinnerung, zu deren Begründung er ausführt, dass er seine Gutachtertätigkeit in der Sozialgerichtsbarkeit auf der Grundlage einer Rahmenvereinbarung vom 9. Septem¬ber 2004 zwischen dem Landessozialgericht und der Regionaldirektion Nord, einer Pauschalvereinbarung zwischen dem Landessozialgericht und ihm vom 20. Juni 2005 und der daraus resultierenden "Nebentätigkeit auf Verlangen" seines Dienstherrn vom 16. August 2005 ausübe. In keiner dieser Unterlagen finde sich ein Hinweis auf die Umsatzsteuer und auch in den seinerzeit geführten Gesprächen zur Vorbereitung der Zusammenarbeit sei die Umsatzsteuer nicht angesprochen worden. Auch bei Gesprächen im Zusammenhang mit seinen Steuererklärungen im Finanzamt habe es keine Hinweise auf eine eventuell in Betracht kommende Umsatzsteuer gegeben. Tatsächlich sei ihm nicht bekannt gewesen, dass eine Umsatzsteuerpflicht vorliegen könnte. Im Nachhinein stelle sich die Nichtregelung der Umsatzsteuer in den Vereinbarungen seines Erachtens als "Konstruktionsfehler" dar, der nicht zu seinen Lasten gegen könne.

Der Kostenprüfungsbeamte des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts schließt sich den Ausführungen des Kostenbeamten an und beantragt, den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unbegründet zurückzuweisen.

Der Senat hat vom Erinnerungsführer die Bescheide des Finanzamts Eckernförde-Schleswig über die Umsatzsteuer für die Jahre 2006 bis 2011 angefordert. Danach betrug die Bemessungsgrundlage in diesen Jahren zwischen 65.871,00 EUR und 42.587,00 EUR. Außerdem teilte der Erinnerungsführer auf Anfrage des Senats mit, dass er auch in anderen Bundesländern – wenngleich in wesentlich geringerem Ausmaß – als Sachverständiger tätig (gewesen) sei. Er legt weiterhin ein Schreiben des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 21. März 2014 vor, woraus sich ergibt, dass die Umsatzsteuer für Gutachten ab dem 14. Juni 2012 nachträglich auf den auch dort gestellten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erstattet wurde.

Der zuständige Einzelrichter hat das Verfahren nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss vom 4. September 2014 nach § 4 Abs. 7 JVEG dem Senat übertragen, da das Verfahren wegen seiner Auswirkung auf die Vielzahl weiterer anhängiger Verfahren zu derselben streitentscheidenden Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung hat.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakte und die Akten L 1 R 161/11 verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben.

II.

Der Senat entscheidet gemäß § 4 Abs. 7 Satz 2 und 3 JVEG durch seine Berufsrichter.

Dem Erinnerungsführer ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Ein Sachverständiger muss seinen Vergütungsanspruch nach Grund und Höhe innerhalb der 3 Monats-Frist des § 2 Abs. 1 JVEG vollständig beziffern. Dass das hier nicht geschehen ist, steht fest und wird auch vom Erinnerungsführer nicht behauptet. Dann kann er eine mit der Kostenrechnung nicht geltend gemachte Umsatzsteuer nachträglich nur unter den Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 2 Abs. 2 Satz 1 JVEG verlangen, wobei nach Abflauf eines Jahres, von dem Ende der versäumten Frist an gerechnet, die Wiedereinsetzung gemäß § 2 Abs. 2 Satz 2 JVEG nicht mehr beantragt werden kann. Diese gesetzlichen Voraussetzungen hat der Kostenbeamte in seinem Schreiben an den Erinnerungsführer vom 19. September 2013 zutreffend wiedergegeben. Der Senat stimmt dem Kostenbeamten auch insoweit zu, dass dem Erinnerungsführer ein schuldhaftes Verhalten vorzuwerfen ist. Es gilt ein subjektiver Sorgfaltsbegriff, wonach es darauf ankommt, dass der Betroffene nicht die ihm nach seinen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt beachtet hat, die unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls nach allgemeiner Verkehrsanschauung vernünftigerweise erforderlich ist. Der Erinnerungsführer bekleidete eine Führungsposition bei der Bundesagentur für Arbeit neben seiner Sachverständigentätigkeit. Dementsprechend hoch sind die Anforderungen, die insoweit an ihn zu stellen sind. Wie aus den Steuerbescheiden ersichtlich, stellte die Sachverständigentätigkeit eine ganz wesentliche Einkommensquelle für den Erinnerungsführer dar. Da liegt es nahe, sich auch über die steuerrechtliche Seite der Sachverständigentätigkeit Klarheit zu verschaffen. Dass der Erinnerungsführer dieses unterlassen hat, ist ihm vorzuwerfen.

Allerdings ist bei einem Pflichtverstoß nicht in jedem Fall eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen. Dieser genügt allein nicht. Denn die Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand fordern nicht, dass jemand bei der Fristversäumung "ohne Verschulden" gewesen sein muss, sondern bestimmen, dass Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist, wenn jemand ohne Verschulden "verhindert" war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist also nur dann nicht zu gewähren, wenn zwischen dem Verstoß gegen eine Sorgfaltspflicht und dem Eintritt der Firstversäumnis ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Dies ist immer dann besonders genau zu prüfen, wenn ein zumindest irgendwie geartetes Verhalten des Gerichts zur Fristversäumnis beigetragen hat. Dann kann es unbillig und mit dem Grundsatz eines fairen Verfahrens nicht vereinbar sein, eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abzulehnen (vgl. Kummer, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Rdn. 598 ff. m.w.N.). Diesbezüglich sind auch bestimmte Fürsorgepflichten des Gerichts zu beachten (Jansen-Dühring, SGG, § 67 Rdn. 14).

Im vorliegenden Fall ist für den Senat unter Beachtung dieser Grundsätze maßgeblich, dass der Erinnerungsführer seit vielen Jahren in großem Umfang von den vier Sozialgerichten des Landes und dem Landessozialgericht mit der Erstellung von arbeitsmarkt- und berufskundigen Gutachten beauftragt wird. Dies ist gerichtsbekannt. Insbesondere den Kostenbeamten der Gerichte hätte daher auffallen müssen, dass ausgerechnet derjenige Sachverständige, der zu den am meisten beauftragten gehört, im Unterschied zu anderen weit weniger für die Sozialgerichtsbarkeit tätigen Sachverständigen keine Umsatzsteuer in seinen Rechnungen ausgewiesen hat. Nun ist es sicher nicht Aufgabe der Kostenbeamten, grundsätzlich nachzuprüfen, ob Umsatzsteuerpflicht bei Sachverständigen besteht und dann darauf hinzuweisen. Dies liegt eindeutig in der Eigenverantwortung der Sachverständigen. Hier bestanden aber besondere vertragliche Vereinbarungen seit 2005 zwischen der Sozialgerichtsbarkeit und dem Erinnerungsführer über die Vergütung der von ihm erstellten Sachverständigengutachten. Aus der Langjährigkeit der Beauftragung und aus Nebenpflichten aus diesen besonderen vertraglichen Beziehungen leitet der Senat eine Fürsorgepflicht des Gerichts dahingehend ab, eine mögliche Umsatzsteuerpflicht gegenüber dem Sachverständigen anzusprechen, um ihn vor weiteren möglichen negativen Folgen eines bereits begangenen Fehlers zu bewahren (vgl. Meyer-Ladewig/Keller, SGG, § 67 Rdn. 4a m.w.N.). Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass der Erinnerungsführer einen solchen Hinweis aufgegriffen, eine Überprüfung eingeleitet und entsprechend gehandelt hätte. Deshalb gebietet hier der Grundsatz des fairen Verfahrens, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wobei auch zu beachten war, dass im Rahmen der zu treffenden Abwägungsentscheidung keine überspitzten Anforderungen an die Antragsvoraussetzungen zu stellen sind (vgl. Meyer-Ladewig/Keller, a.a.O., Rdn. 3b).

Das Verfahren ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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