L 16 R 504/12

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 21 R 6608/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 504/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2012 geändert. Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 11. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2010 verurteilt, der Klägerin für die Zeit ab 1. November 2014 bis 30. April 2016 Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die 1964 geborene türkische Klägerin lebt seit 1981 in Deutschland. Sie war von 15. Januar 1986 bis 30. Juli 2001 mit diversen Unterbrechungen (Schwangerschaft/Mutterschutz/Kindererziehung) als Reinigungskraft versicherungspflichtig beschäftigt. Ab 6. September 2001 war sie arbeitslos und bezog ab 1. Januar 2005 mit Unterbrechungen Arbeitslosengeld II (Alg II). Vom 1. Juni 2005 bis 28. Februar 2006 sowie vom 1. September 2009 bis 31. Juli 2010 war sie als Küchenhilfe beschäftigt. Seit 19. April 2010 war sie arbeitsunfähig erkrankt und bezog vom 21. April 2010 bis 23. Juni 2010 Krankengeld. Seit August 2010 bezieht sie erneut AIg II. Bei ihr besteht ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 (Abhilfebescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales - Versorgungsamt - vom 30. April 2010).

Am 17. August 2009 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung (EM). Die Beklagte beauftragte zunächst die Ärztin für Psychiatrie/Verhaltenstherapie Dr. S mit der Erstellung eines Gutachtens. Diese Ärztin kam in ihrem Gutachten vom 7. Juni 2010 (Untersuchungsdatum: 4. Juni 2010) zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in ihrer letzten Tätigkeit als Reinigungskraft noch 3 bis unter 6 Stunden täglich tätig sein könne. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten im Wechsel der Haltung ohne Überkopfarbeiten und ohne Nachtschicht sowie ohne Zeitdruck.

Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin mit Bescheid vom 11. Juni 2010 ab. Es läge nach den getroffenen medizinischen Feststellungen weder volle noch teilweise EM und auch keine Berufsunfähigkeit (BU) vor. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte die Klägerin durch den Facharzt für Orthopädie Dr. R begutachten. Dieser diagnostizierte in seinem Gutachten vom 10. September 2010 (Untersuchungstag: 9. September 2010) auf seinem Fachgebiet ein chronisches Lumbalsyndrom mit Pseudoradikulärsymptomatik bei Osteoporose, einer Arthralgie linker Ellenbogen ohne Bewegungseinschränkungen und eine angegebene Migräne. Auch dieser Arzt hielt die Klägerin für in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig auszuüben. Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 23. November 2010 unter Hinweis auf die eingeholten Gutachten zurück.

Im Klageverfahren sind dem Sozialgericht (SG) Berichte der Radiologen Prof. Dr. F vom 20. Juni 2006, Dr. B vom 31. August 2009, Dr. V vom 23. November 2007 und vom 23. November 2009 und des Radiologen Dr. K vom 11. Januar 2010 sowie des Chirurgen Dr. M vom 6. Oktober 2010 vorgelegt worden. Das SG hat Befundberichte der Psychotherapeutin Dipl.-Psych. A vom 1. Juni 2011, des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. K vom 24. Juni 2011, des Arztes für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S vom 8. August 2011 und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie E vom 10. August 2011 eingeholt. Es hat ferner die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. S zum Sachverständigen bestellt. Diese Ärztin hat in ihrem Gutachten vom 29. Dezember 2011 (Untersuchungsdatum: 2. Dezember 2011) folgende Diagnosen gestellt: Angst und depressive Störung, gemischt, auf dem Boden einer akzentuierten Persönlichkeit, Anpassungsstörung mit gemischter Symptomatik, Lumbalsyndrom ohne Zeichen einer Wurzelkompressionssymptomatik bei Bandscheibenprotrusion und geringer degenerativer Veränderung, Verspannungen im Schulter-/Nackenbereich, Spannungskopfschmerz sowie Überlagerung durch psychologische Faktoren oder Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten. Unter Berücksichtigung gewisser qualitativer Leistungseinschränkungen könne die Klägerin noch vollschichtig leichte und mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten.

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage mit Urteil vom 31. Mai 2012 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die zulässige Klage sei unbegründet. Die Klägerin habe keinen Rentenanspruch nach § 43 Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI). Die Klägerin sei nicht erwerbsgemindert. Ihr Restleistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sei noch für eine Arbeitszeit von mindestens sechs Stunden täglich ausreichend. Bei der Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin sei den detaillierten umfangreichen Ausführungen der Gerichtsgutachterin Dr. S zu folgen. Dieses Gutachten dokumentiere eine sorgfältige Meinungsbildung nach umfassender Befunderhebung und Untersuchung. Die Leistungsbeurteilung decke sich darüber hinaus im Wesentlichen mit den im Verwaltungsverfahren getroffenen ärztlichen Einschätzungen durch Dr. S sowie Dr. R. Unter Berücksichtigung der festgestellten Gesundheitsstörungen sei die Klägerin nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme im Wesentlichen noch in der Lage, ohne auf Kosten der Gesundheit zu arbeiten, täglich regelmäßig körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten zu verrichten. Zu vermeiden seien Tätigkeiten unter Zeitdruck, Arbeiten in Nachtschicht und auf Leitern und Gerüsten sowie mit einseitiger körperlicher Belastung. Arbeiten in einem festgelegten Arbeitsrhythmus und im Wechsel von Früh- und Spätschicht seien der Klägerin möglich. Die Fingergeschicklichkeit sei nicht eingeschränkt, die Belastbarkeit der Wirbelsäule sei leicht beeinträchtigt, die der Arme und Beine sei gegeben. Die Klägerin könne grundsätzlich auch am Computer tätig sein. Sie sei in der Ausübung geistiger Arbeiten entsprechend ihrem Ausbildungsstand nicht eingeschränkt. Bestätigt werde die Einschätzung, dass das Leistungsvermögen der Klägerin im rentenrechtlich erheblichen Sinne quantitativ nicht eingeschränkt sei, durch die Tatsache, dass die Klägerin durchaus in der Lage sei, ihren Tagesablauf aktiv zu gestalten. Gravierende Einschränkungen im Alltag habe die erfahrene Gerichtsgutachterin nicht feststellen können. Der Schwerpunkt der Erkrankung der Klägerin liege auf nervenärztlichem Gebiet. Insoweit seien die Behandlungsmethoden nicht ausgeschöpft, zumal die Klägerin die von ihrem behandelnden Arzt verschriebenen Medikamente (Antidepressiva) nicht regelmäßig eingenommen habe. Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung liege angesichts der von der Gutachterin geschilderten qualitativen Leistungseinschränkungen nicht vor. Auch eine schwere spezifische Leistungsbehinderung, die die Klägerin in Form einer besonderen Schwierigkeit hinsichtlich der Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz für sich in Anspruch nehmen könnte, liege nach dem vorliegenden Gutachten nicht vor. Die Klägerin sei auch ausreichend wegefähig. Sie könne Arbeitsplätze mit öffentlichen Verkehrsmitteln von ihrer Wohnung aus aufsuchen.

Im Berufungsverfahren trägt die Klägerin vor: Sie sei nach Einschätzung von Dr. S wegen Krankheit nicht mehr fähig, mindestens drei Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten. Ihre Lese- und Schreibgewandtheit in Deutsch sei vor dem Hintergrund der unzureichenden Deutschkenntnisse eingeschränkt. Ihre Arbeitsunfähigkeitszeiten hätten ein Ausmaß erreicht, dass von einer im Erwerbsleben erforderlichen Regelmäßigkeit der Arbeitsverrichtung nicht mehr ausgegangen werden könne. Ihr sei der Zugang zum Arbeitsmarkt verschlossen, weil sie nicht mehr unter betriebsüblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes tätig sein könne.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 31. Mai 2012 und des Bescheides der Beklagten vom 11. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2010 zu verurteilen, ihr ab 1. August 2009 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angegriffene Urteil.

Der Senat hat einen Befundbericht des Allgemeinmediziners Dr. K vom 22. November 2012 eingeholt sowie einen Bericht der Nuklearmedizinerin Dr. R (Untersuchungstag: 23. September 2010) beigezogen. Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat der Senat sodann die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie Dr. S zur Gutachterin bestellt. Diese Ärztin hat in ihrem psychiatrischen Gutachten vom 26. Mai 2014 (Untersuchungstage: 21. März 2014 und 3. April 2014) folgende Gesundheitsstörungen bei der Klägerin festgestellt: Angst und Depression gemischt mit Panikattacken und klaustrophober Störung, somatoforme Schmerzstörung, chronisches HWS, BWS, LWS-Syndrom, Schulter-Arm-Bereich links, Hypotonie, bekannte Migräne mit Aura (klassische Migräne), unklare neurologische Symptomatik: lebhaft, gesteigertes Reflexniveau, cloniforme PSR beidseits und Intentionstremor beidseits. Die Klägerin sei nur noch in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten abwechselnd im Sitzen, Gehen oder in stehender Arbeitshaltung bis zu 3 Stunden täglich regelmäßig durchzuführen. Mit ihrer mittel- bis schwergradigen depressiven Störung und der somatoformen Schmerzstörung sei sie nicht in der Lage, mehr zu leisten. Allerdings sei davon auszugehen, dass sie, wenn die depressive Störung behandelt sei, durchaus auch bis zu 6 Stunden täglich leichte körperliche Tätigkeiten ausführen könne. Die Klägerin könne Wegstrecken von mehr als 500 Meter zurücklegen und 500 Meter auch in 20 Minuten bewältigen. Die festgestellten Leistungseinschränkungen bestünden "spätestens zum Untersuchungszeitpunkt". Die diagnostische Zuordnung von Frau Dr. S vom 7. Juni 2010 mit Depression und Angst sei zwar die gleiche, jedoch sei der Schweregrad unterschiedlich zu bemessen. Diese Gutachterin habe bei der Untersuchung den Schweregrad der Erkrankung mithilfe der eingesetzten Instrumente BWI und Hamilton sowie dem psychischen Befund bewertet. Dr. S habe ebenfalls Angst und depressive Störung gemischt, allerdings auf dem Boden einer akzentuierten Persönlichkeit, diagnostiziert. Sie habe mitgeteilt, dass die affektive Schwingungsfähigkeit bei der Klägerin mäßig gemindert sei, der Antrieb nicht eingeschränkt. Hingegen sei die Klägerin bei der Untersuchung durch sie (Dr: S) deutlich depressiv und antriebsgemindert gewesen und habe ständig geweint. Die Beklagte hat durch ihren sozialmedizinischen Dienst (Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. N) unter dem 25. Juni 2014 darauf hingewiesen, die Begutachtung von psychisch erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund habe nach den Grundsätzen der Neutralität und Objektivität zu erfolgen. Soweit die "Landsmännin" Dr. S den Einsatz eines Dolmetschers als problematisch ansehe, könne man sich dem nicht anschließen. Die Gutachterin weise darauf hin, dass bisher eine fachspezifische Behandlung nicht erfolgt sei und von Seiten der Klägerin eine Berentung gewünscht werde, damit sie wieder in die alte Heimat pendeln könne, auch mit dem Wunsch einer räumlichen Trennung vom Ehemann. Hier werde die Gewährung einer Leistung falsch verstanden. Möglicherweise werde der Migrationshintergrund auch überinterpretiert. Die Gutachterin habe ihre abweichende Meinung zum Vorgutachten von Dr. S damit begründet, dass die Versicherte während der Begutachtung viel geweint habe. Weinen sei jedoch Ausdruck einer affektiven Erregung und sei nicht automatisch mit einer mittel- bis schwergradigen depressiven Störung gleichzusetzen. Daher könne die Leistungsbeurteilung von Dr. S nicht geteilt werden. Mit Schreiben vom 22. September 2014 hat Dr. S zur Stellungnahme von Dipl.- Med. N wie folgt Stellung genommen: Soweit der von Dipl.-Med. N verwendete Begriff der Landsmännin eine Parteilichkeit und damit fehlende Neutralität und Objektivität implizieren solle, löse das Befremden aus. Sie sehe lediglich den Nichteinsatz eines professionellen Dolmetschers als ein Problem an, wenn die interkulturelle Kommunikation nicht gewährleistet sei. Dass sie selber bei den Untersuchungen auf einen Sprachmittler verzichtet habe, beruhe auf der Tatsache, dass sie mit der Klägerin muttersprachlich habe kommunizieren können. Hinsichtlich der Schwere der von ihr diagnostizierten Depression sei zu ergänzen, dass die Diagnose nicht allein darauf beruhe, dass die Klägerin geweint habe. Sie habe im Gutachten unmissverständlich beschrieben, dass die Klägerin u. a. psychomotorisch deutlich verlangsamt, erschöpft, ausgelaugt, müde und energielos sowie antriebsgemindert gewirkt habe. Ihre Stimmung sei depressiv gewesen und sie habe sich im affektiven Bereich nur eingeschränkt schwingungsfähig gezeigt. Zum Untersuchungszeitpunkt hätten bei der Klägerin die drei Hauptkriterien für eine depressive Episode, nämlich betrübte Stimmung, Interessen- und Freudlosigkeit und Antriebsminderung ebenso wie die Nebenkriterien Schlafstörungen, sozialer Rückzug, Libidominderung und Vergesslichkeit vorgelegen. Da diese drei Hauptkriterien und die vier Nebenkriterien über mindestens zwei Wochen angehalten hätten, sei von einer schweren depressiven Episode auszugehen. Die Tatsache, dass die Klägerin eine Lebensvorstellung dahingehend habe, dass sie zwischen Deutschland und der Türkei pendeln wolle, spreche nicht gegen die gestellte Diagnose und ihre Schwere. Sie bleibe bei ihrer Einschätzung. Dipl.-Med. N hat daraufhin unter Hinweis auf ihre Stellungnahme vom 25. Juni 2014 mitgeteilt, die Ergänzungen von Dr. S überzeugten sie nicht (Schriftsatz der Beklagten vom 15. Oktober 2014).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen, wegen der medizinischen Feststellungen auf die eingeholten Sachverständigengutachten Befundberichte und sonstigen medizinischen Unterlagen verwiesen.

Die Gerichtsakten (2 Bände) sowie die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Klägerin ist im tenorierten Umfang begründet. Im Übrigen ist sie nicht begründet und war zurückzuweisen.

Die Klägerin hat Anspruch auf Rente wegen voller EM für die Zeit vom 1. November 2014 bis 30. April 2016. Soweit die Beklagte die Rentengewährung für den angegebenen Zeitraum abgelehnt hat, ist der Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. November 2010 rechtswidrig (geworden) und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit entrichtet und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Voll erwerbsgemindert sind zunächst Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI. Voll erwerbsgemindert ist außerdem, wer (nur) teilweise erwerbsgemindert ist, wenn ihm ein Teilzeitarbeitsplatz nicht zu Verfügung steht und auch vom Rentenversicherungsträger nicht angeboten werden kann. Das Bundessozialgericht (BSG) hat nämlich die gesetzlichen Vorgaben durch Richterrecht zum Teil ergänzt (BSGE 43,75 = SozR 2200 § 1246 Nr. 13). Diese Rechtsprechung betrifft Versicherte, die gesundheitsbedingt in einem zumutbaren Beruf nicht mehr mindestens sechs Stunden einsetzbar, also nur zu Teilzeitarbeit von drei bis unter sechs Stunden täglich fähig sind. Für diesen Personenkreis hat das BSG den Versicherungsschutz der gesetzlichen Rentenversicherung erweitert und neben das gesetzlich versicherte Gut der Berufsfähigkeit (Erwerbsfähigkeit) dasjenige der Berufsmöglichkeit (Erwerbsmöglichkeit) gestellt und damit die gesetzlich versicherten Risiken der Krankheit und Behinderung um dasjenige der Unvermittelbarkeit auf dem (Teilzeit-)Arbeitsmarkt im jeweiligen Antragszeitraum (sog jeweilige Arbeitsmarktlage) ergänzt; außerdem hat es die Anspruchsschwelle dadurch gesenkt, dass diese auch schon dann überschritten sein kann, wenn der Versicherte einen zumutbaren Beruf in zeitlicher Hinsicht nur unter sechs Stunden arbeitstäglich verrichten kann; diese Anspruchsschwelle ist überschritten, falls dem Versicherten binnen eines Jahres kein geeigneter und freier (Teilzeit-)Arbeitsplatz in einem zumutbaren Beruf angeboten wird; dann ist eine Arbeitsmarktrente in der Form und (im Übrigen) nach den Regeln einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu bewilligen (BSGE 78, 207 ff = SozR 3-2600 § 43 Nr. 13; BSG SozR 3-2200 § 1276 Nr. 3). Teilweise erwerbsgemindert ist, wer aus den zur vollen Erwerbsminderung angeführten Gründen außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein, § 43 Abs. 1 S 2 SGB VI. Nicht (einmal teilweise) erwerbsgemindert ist dagegen, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann, § 43 Abs. 3 1. Halbsatz SGB VI.

Die Klägerin hat die allgemeine Wartezeit erfüllt, weil sie fünf Jahre mit Beitragszeiten hat (§§ 50 Abs. 1 Satz 1, 51 Abs. 1 SGB VI). Die nach § 42 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI erforderliche Dreifünftelbelegung liegt ebenfalls vor. In den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EM, den der Senat auf den 4. April 2014 (letzter Untersuchungstag bei Dr. S) datiert, hat die Klägerin zwar lediglich die Zeit bis zum 31. Dezember 2010 mit Pflichtbeiträgen belegt. Da die Klägerin ausweislich des Versicherungsverlaufs vom 9. Dezember 2014 aber auch weiterhin durchgehend Alg II bezogen hat, verlängert sich der Zeitraum von fünf Jahren um diese seit dem 1. Januar 2011 (nur noch) als Anrechnungszeit wegen Arbeitslosigkeit (§§ 43 Abs. 4 Nr. 1, 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VI) zu bewertende Zeit des Alg II-Bezugs, sodass die Klägerin die geforderte Belegung von drei Jahren mit Pflichtbeitragszeiten im hier relevanten Belegungszeitraum erreicht hat.

Die Klägerin ist auch jedenfalls seit 4. April 2014 voll erwerbsgemindert. Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist die Klägerin nämlich seit 4. April 2014 wegen Krankheit oder Behinderung außerstande, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sie ist lediglich in der Lage, leichte körperliche Tätigkeiten bis zu drei Stunden täglich zu verrichten und ist damit teilweise erwerbsgemindert iS des § 43 Abs. Abs. 1 Satz 1. Nr. 2 und Satz 2 SGB VI. Unter Berücksichtigung der dargestellten Grundsätze zur Arbeitsmarktrente hat Klägerin jedoch einen Anspruch auf eine befristete Rente wegen voller EM. Hinsichtlich der Beurteilung des Restleistungsvermögens der Klägerin für die Zeit ab 4. April 2014 (letzter Untersuchungstag) folgt der Senat dem Sachverständigengutachten von Dr. S vom 26. Mai 2014 sowie der von dieser Ärztin erstellten gutachterlichen Stellungnahme vom 22. September 2014, wonach bei der Klägerin spätestens ab dem (letzten) Untersuchungstag für einen Zeitraum von ca. zwei Jahren eine Leistungseinschränkung im Sinne einer Begrenzung der täglichen Arbeitszeit auf maximal drei Stunden festzustellen sei. Dieses Gutachten dokumentiert eine sorgfältige Meinungsbildung nach umfassender Befunderhebung und Untersuchung sowie eingehender Würdigung der in den Verwaltungs- und Gerichtsakten dokumentierten Vorbefunde und Vorgutachten. Die Begründung der teilweise von den Feststellungen in den Vorgutachten abweichenden Ergebnisse in diesem Sachverständigengutachten ist jeweils schlüssig und nachvollziehbar aus den getroffenen medizinischen Feststellungen hergeleitet worden.

Durchgreifende Einwendungen gegen das Gutachten von Dr. S, die geeignet wären, dessen Überzeugungskraft zu erschüttern, sind von der Beklagten nicht vorgebracht worden. Insbesondere ergeben sich derartige stichhaltige Einwendungen weder aus der Stellungnahme des sozialmedizinischen Dienstes der Beklagten vom 25. Juni 2014 noch aus dem sich letztlich in einer Bezugnahme auf diese Stellungnahme erschöpfenden Schriftsatz der Beklagten vom 15. Oktober 2014. Abgesehen davon, dass Stellungnahmen nach Aktenlage im Gegensatz zu einer Beurteilung aufgrund persönlicher Untersuchung grundsätzlich auf eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten beruhen und dass der Hinweis der Beklagten auf eine positiveres Stimmungsbild der Klägerin bei der Begutachtung durch Dr. S im Jahre 2011 angesichts des Zeitablaufs und der ausführlichen Auseinandersetzung von Dr. S mit den Vorbefunden nicht verfangen kann, bekundet die Beklagte mit dem Hinweis auf eine "landsmannschaftliche" Verbundenheit letztlich lediglich Zweifel an der Neutralität und Objektivität der Sachverständigen Dr. S und vermutet eine Überinterpretation des Migrationshintergrunds der Klägerin. Der bloße Hinweis auf die identische Herkunft von Sachverständiger und Klägerin erscheint jedoch von vorneherein nicht geeignet, Zweifel an der Neutralität und Objektivität eines Sachverständigen zu begründen. Konkrete Anhaltspunkte für eine Voreingenommenheit der Gutachterin ergeben sich weder aus dem von ihr erstellten Gutachten und ihrer gutachterlichen Stellungnahme noch ist sonst irgendetwas dafür ersichtlich. Insbesondere lassen sich solche Anhaltspunkte auch nicht aus der ausführlichen Darlegung der interkulturellen Aspekte der Begutachtung durch die Sachverständige ableiten, denn es ist in den entsprechenden Ausführungen der Sachverständigen regelmäßig der konkrete Bezug zur Begutachtung der Leiden der Klägerin deutlich geworden.

Der Senat folgt dem Gutachten von Dr. S auch insoweit, als die Sachverständige ausführt, dass die Klägerin bei Behandlung ihrer depressiven Störung voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren wieder ein Leistungsvermögen von bis zu sechs Stunden täglich zurückgewinnen wird und mithin nicht unwahrscheinlich ist, dass die EM behoben werden kann. Dementsprechend war die Verpflichtung der Beklagten zur Rentengewährung gemäß §§ 101 Abs. 1, 102 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 6 SGB VI wie tenoriert zeitlich zu beschränken und die Berufung der Klägerin, soweit sie darüber hinausgehend eine Dauerrente begehrt, zurückzuweisen.

Die Berufung war ferner auch insoweit zurückzuweisen, als die Klägerin für die Zeit vom 1. August 2009 bis 31. Oktober 2014 Rente wegen EM begehrt. Die Klägerin hat für diesen Zeitraum keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Gewährung von Rente wegen voller EM oder auch nur wegen teilweiser EM. Der Senat konnte nicht im erforderlichen Vollbeweis feststellen, dass ein früherer Leistungsfall als der 4. April 2014 vorliegt. Dr. S hielt es zwar für möglich, dass die von ihr festgestellten Leistungseinschränkungen nach der Begutachtung durch Dr. S im November 2011 "zugenommen" hatten. Zu einer rückwirkenden Feststellung der quantitativen Leistungsminderung auf einen Zeitpunkt vor dem Abschluss ihrer Untersuchungen sah sie sich hingegen nicht in der Lage. Andere medizinische Erkenntnisse, aus denen sich Tatsachen für einen früheren Leistungsfall als dem 4. April 2014 im erforderlichen Vollbeweis ergeben könnten, sind nicht ersichtlich. Dr. S hat in ihrem nach umfassender Befunderhebung und Untersuchung sowie eingehender Würdigung der in den Verwaltungs- und Gerichtsakten dokumentierten Vorbefunde und Vorgutachten sorgfältig erstellten Gutachten vom 29. November 2011, dem der Senat folgt, der Klägerin ein Leistungsvermögen von acht Stunden täglich für leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten bescheinigt. Einschränkungen beschränken sich lediglich auf Tätigkeiten unter Zeitdruck, mit Nachtschicht und mit einseitiger körperlicher Belastung. Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sollten nicht durchgeführt werden. Die Belastbarkeit der Wirbelsäule war nur leicht beeinträchtigt. Das mindestens sechsstündige Restleistungsvermögen der Klägerin war nach den von den Sachverständigen Dr. S festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen auch nicht derart reduziert, dass es einem Arbeitseinsatz der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter betriebsüblichen Bedingungen entgegen gestanden hätte (vgl. § 43 Abs. 3 SGB VI). Es bestand weder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung noch lag eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 - B 5 /4 RA 58/97 R - juris). Insgesamt betrafen die von Dr. S festgestellten Leistungseinschränkungen lediglich einen kleineren Teilbereich des allgemeinen Arbeitsmarktes, ließen aber ein weites Feld von Beschäftigungsmöglichkeiten unberührt. So konnte die Klägerin mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen z.B. noch im Rahmen von Sortier- und Verpackungstätigkeiten eingesetzt werden. Rente wegen teilweiser EM bei Berufsunfähigkeit scheidet schon aufgrund des Geburtsdatums der Klägerin aus (vgl § 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 1 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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