S 30 R 683/14

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 683/14
Datum
-
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 1 R 69/15
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Die Klage gegen den Bescheid vom 25.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2014 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig zwischen den Beteiligten sind die teilweise Rücknahme eines Rentenbescheides und die Rückforderung einer Überzahlung wegen der doppelten Berücksichtigung der von der Klägerin zwischen Januar und August 2000 zurückgelegten Beitragszeit. Die Klägerin ist geboren am 24.06.1948. Sie beantragte am 18.12.2000 bei der Beklagten eine Rente wegen Berufsunfähigkeit bzw. Erwerbsunfähigkeit nach damaligem Recht. In den folgenden Monaten wurde einerseits das Versicherungskonto der Klägerin abschließend geklärt und andererseits mit umfangreichen Ermittlungen zum Gesundheitszustand der Klägerin begonnen. Vom 14.09. bis 19.10.2000 wurde eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme für die Klägerin durchgeführt. Ein am 23.08.2001 erstellter Versicherungsverlauf dokumentierte eine nahezu ununterbrochene Pflichtversicherung der Klägerin von Dezember 1963 bis 13.02.2001. Der Zeitraum 01.01.2000 bis 31.12.2000 war kommentarlos doppelt ausgewiesen, einmal mit einem Entgelt von 43.863 DM und einmal mit einem solchen von 43.862 DM. Mit Bescheid vom 27.08.2001 wurde der Klägerin eine Rente wegen befristeter Erwerbsminderung nach deren Eintritt am 30.08.2000 für die Zeit von 01.03.2001 bis 31.08.2002 entsprechend der Rechtslage ab 01.01.2001 zugesprochen. Auf Weitergewährungsantrag hin erkannte die Beklagte der Klägerin die Rente mit Bescheid vom 25.07.2002 über dieses Befristungsdatum hinaus auf Dauer zu. Anlässlich der Feststellung der Regelaltersrente für die Klägerin wurde in einem am 06.09.2013 erstellten Versicherungsverlauf zu einem unbekannten Zeitpunkt vermutlich wenig später die Doppelung der Beitragszeit farbig markiert und mit dem handschriftlichen Vermerk "gleicher AG (gemeint Arbeitgeber), löschen!" versehen. Am 22.10.2013 hörte die Beklagte die Klägerin zu ihrer Absicht an, den Rentenbescheid vom 27.08.2001 mit Wirkung ab 01.03.2001 zurückzunehmen, die Rente ab 01.12.2013 in der richtig berechneten Höhe von EUR 817,85 laufend zu zahlen und die Überzahlung für die Zeit von 01.03.2001 bis 30.11.2013 in Höhe von EUR 2362,47 zurückzufordern. Die Beklagte führte zur Begründung an, die Klägerin habe die Fehlerhaftigkeit des Bescheides im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) gekannt bzw. kennen müssen. Die Klägerin wurde aufgefordert, über eventuelle Dispositionen aufgrund der bisherigen Rentenzahlung oder über Sozialleistungen von anderen Stellen, die wegen der bisherigen Rentenzahlung nicht in Anspruch genommen worden sind und jetzt nicht mehr erlangt werden können, zu berichten. Gegenvorstellungen hierzu erreichten die Beklagte am 19.11.2013. Die Klägerin habe den Rentenbescheid 2001 angeschaut, jedoch die Rentenberechnung nicht verstanden. Auch sei sie zum Zeitpunkt des Zugangs des Rentenbescheides und danach durch ihre schwere Krebserkrankung sehr geschwächt gewesen und habe keine Kraft gehabt, sich mit dem Rentenbescheid auseinanderzusetzen. Sie bat von der Rückforderung der Überzahlung abzusehen. Mit Bescheid vom 25.11.2013 stellte die Beklagte die Rente der Klägerin wegen voller Erwerbsminderung neu fest. Die Überzahlung wurde nunmehr mit EUR 1189,11 beziffert und zurückgefordert. In einer Anlage 10 zum Rentenbescheid wurde die rechtliche Begründung der Rücknahme geliefert. Die Klägerin könne sich auf ihr Vertrauen in den Bestand des Rentenbescheides nicht berufen, weil sie die Fehlerhaftigkeit des Bescheides gekannt habe bzw. hätte erkennen müssen. Aus der Anlage 2 des Rentenbescheides sei ersichtlich, dass die Beitragszeit von 01.01.2000 bis 31.08.2000 doppelt berücksichtigt wurde. Allerdings habe man die von der Klägerin dargelegten Gegengründe im Wege des Ermessens insoweit berücksichtigt, als der Bescheid nur teilweise zurückgenommen werde. In der Ermessensentscheidung sei ein Mitverschulden der Beklagten anzuerkennen, wegen dessen die Überzahlung auf die Hälfte reduziert werde. Über diesen Betrag hinaus könne von einer Bescheidsrücknahme im Interesse der Versichertengemeinschaft nicht abgesehen werden. Hiergegen erhob die Klägerin am 13.12.2013 Widerspruch mit dem Argument, die Überzahlung sei reines Verschulden der Beklagten. Mit der Halbierung der Überzahlung sei sie einverstanden, allerdings nur unter der Voraussetzung, dass eine Verjährungsfrist von 4 Jahren berücksichtigt werde. Der Widerspruchsbescheid vom 20.03.2014 wies den Widerspruch zurück. Zunächst wurde ausführlich dargelegt, dass die von § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X eingeräumte Jahresfrist für die Rücknahme für die Vergangenheit eingehalten sei, nachdem die Kenntnis von der doppelten Anrechnung der Beitragszeit im Jahre 2000 erstmals im Oktober 2013 eingetreten sei. Hinsichtlich der nach § 45 Abs. 3 Satz 3 einzuhaltenden Frist von 10 Jahren nach der Bekanntgabe des zurückzunehmenden Bescheides wurde auf Satz 4 der Vorschrift verwiesen, wonach die Rücknahme auch nach Ablauf der Zehnjahresfrist zulässig ist, wenn es um eine bei Beginn des Rücknahmeverfahrens noch laufend gezahlte Geldleistung geht. Sodann wurde die Auffassung aus dem Ausgangsbescheid wiederholt, die Klägerin habe erkannt bzw. erkennen müssen, dass die Beitragszeit 2000 doppelt berücksichtigt wurde. Die Ermessensentscheidung wurde bestätigt.

Hiergegen richtet sich die Klage, mit der eine grobe Fahrlässigkeit der Klägerin im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2, 2. Halbsatz, SGB X bestritten wird. Eine solche grobe Fahrlässigkeit sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dem Empfänger eines Bescheides nur vorzuwerfen, wenn ihm der Fehler im Rahmen seiner subjektiven Erkenntnismöglichkeiten geradezu "in die Augen springt". Es müsse ihm möglich gewesen sein, aufgrund einfachster und ganz nahe liegender Überlegungen die Rechtswidrigkeit zu kennen. Davon könne im Hinblick auf die komplizierte Berechnung eines Rentenanspruchs und die Komplexität eines Rentenbescheides nicht ausgegangen werden. Es werde auch zu berücksichtigen sein, dass es der Fachbehörde erst nach mehr als 12 Jahren aufgefallen ist, dass im Bescheid unzutreffende Beitragszeiten angesetzt worden waren. Letztlich sei auch ins Kalkül zu ziehen, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Zugangs des Rentenbe-scheides und auch lange danach durch eine schwere Krebserkrankung stark beeinträchtigt gewesen ist.

Die Klägerin beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 25.11.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.03.2014 insoweit zu verurteilen, dass die Rückforderung in Höhe von EUR 1189,11 nicht erhoben wird.

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Abweichend von der Antragstellung ist sie als reine Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu behandeln. Sie ist in der Sache jedoch nicht begründet. Unstrittig zwischen den Beteiligten ist, dass der Rentenbescheid vom 27.08.2001 materiell rechtswidrig ist, weil er bereits bei seiner Bekanntgabe von einem Sachverhalt ausging, der so nicht gegeben war, nämlich einem beitragspflichtigen Entgelt der Klägerin in den ersten acht Monaten des Jahres 2000 in genau der doppelten Höhe des tatsächlichen Entgelts. Deshalb war die teilweise Beseitigung dieses Rentenbescheides nach § 45 SGB X durchzuführen. Höchstwahrscheinlich hat die Klägerin im Sinne von Abs. 2 Satz 1 der Vorschrift auf den Bestand des Rentenbescheides vertraut. Empfänger von Verwaltungsakten vertrauen aufgrund ihrer Lebenserfahrung in aller Regel auf deren Bestand. Dieses Vertrauen auf den rein tatsächlichen Bestand entsteht auch ohne sorgfältige Prüfung der Rechtmäßigkeit. Für die vorliegend kurz vor dem Übergang auf die Regelaltersrente fast ausschließlich relevante Rücknahme für die Vergangenheit ist des weiteren wesentlich, ob dieses Vertrauen durch den Verbrauch empfangener Leistungen im Sinne von § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X schutzwürdig ist. Ein solcher Verbrauch ist nach regelmäßigem Empfang einer zur Sicherung des Lebensunterhalts bestimmten Geldleistung zu unterstellen. Auf ein durch Leistungsverbrauch relevant gewordenes Vertrauen kann sich jedoch nicht berufen, wer sich Vertrauensausschlussgründe nach Abs. 2 Satz 3 der Vorschrift entgegenhalten lassen muss. Die Varianten eines aktiven Beitrages des Bescheidsempfängers zum Zustandekommen des rechtswidrigen Verwaltungsakts nach den Varianten Nr. 1 und 2 scheiden vorliegend aus. Unstrittig hat die Klägerin weder vorsätzlich noch grob oder leicht fahrlässig im Verfahren zur Erlangung der Rente wegen Erwerbsminderung irgendwelche falschen Angaben gemacht. Der Vertrauensausschlussgrund Nr. 3 ist jedoch schon dann erfüllt, wenn sich eine Erkennbarkeit der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes bei pflichtgemäß sorgfältiger Durchsicht des Bescheides aufgedrängt hätte. Im Hinblick auf die bekannte Struktur eines Rentenbescheides muss insoweit sorgfältig differenziert werden, welche darin widergespiegelten Informationen und dargelegten Schritte von Rechtsanwendung und Berechnung dem Empfängerhorizont fachlich nicht vorgebildeter Rentnerinnen und Rentner zugänglich sind.

Zweifellos ist die eigentliche Rentenberechnung nach Maßgabe der §§ 70-88 a und 254 b - 265 a für den Laien nicht nachvollziehbar. Auch hinsichtlich der Zuweisung fiktiver Entgelte für Beitragszeiten nach dem Fremdrentengesetz und hinsichtlich der Beurteilung solcher Zeiten als nachgewiesen oder nur glaubhaft gemacht kann nur ein geringer Überblick bei den Bescheidsadressaten vorausgesetzt werden. Anderes gilt jedoch für den im vorliegenden Fall relevanten schlichten Versicherungsverlauf. Die reine Chronologie von Phasen der Berufstätigkeit, der Ausbildung, der Krankheit, der Arbeitslosigkeit und der Kindererziehung ist vor dem Hintergrund eigener biografischer Erinnerung nachvollziehbar. Der eigenen Kontrolle zugänglich ist auch die Dokumentation der versicherungspflichtigen Entgelte, in der sich mühelos erinnerbare Entwicklungen des Aufstiegs, des Stillstandes, der Krise oder der Unterbrechung im Berufsleben abbilden. Nachdem die Klägerin im Jahre 2000 nur einen Arbeitgeber hatte, im Rentenbescheid also keinesfalls die Bewertung einer Mehrfachbeschäftigung erwarten konnte, musste ihr schon bei einer einfachen Durchsicht des Versicherungsverlaufs auffallen, dass derselbe Zeitraum mit praktisch demselben Entgelt zweimal gespeichert war. Auch wer mit der Methodik der Rentenberechnung nicht vertraut ist, kann nicht in seiner Vermutung geschützt werden, dass es mit einer solchen kommentarlosen Verdoppelung seine Richtigkeit habe könnte. Der relativ strenge Verschuldensmaßstab bei der Beurteilung einer Kenntnis oder grob fahrlässigen Unkenntnis der Rechtswidrigkeit kann nicht mit dem Argument ausgehebelt werden, dass Bescheidsempfänger in aller Regel nicht die hier vorausgesetzte Sorgfalt anwenden. Erinnert sei vergleichsweise an das Recht der Ordnungswidrigkeiten und Straftaten im Straßenverkehr, gegenüber dem ebenfalls nicht mit Erfolg eingewendet werden kann, dass gewisse Geschwindigkeitsüberschreitungen, Parkverstöße usw. massenhaft und gewohnheitsmäßig begangen werden. Dass Versicherungsverläufe in Rentenbescheiden durchaus der sehr sorgfältigen laienhaften Kontrolle zugänglich sind, erweist sich im übrigen an vielen sozialgerichtlichen Verfahren, in denen oftmals Differenzen bis hinunter zu wochen- oder tageweiser Dimesion thematisiert werden. Nach der von der Beklagten zutreffend erkannten Erfüllung des Vertrauensausschluss-grundes der grob fahrlässigen Unkenntnis von der Rechtswidrigkeit des Bescheides vom 27.08.2001 ist nach § 45 Abs. 3 Sätze 3 und 4 SGB X die Zehnjahresfrist ab Bekanntgabe für die Rücknahme eröffnet, die sich bei einem Verwaltungsakt über eine wie vorliegend noch laufende Geldleistung auch über die zehn Jahre hinaus verlängert. Das klägerseitige Argument, die Beklagte habe 12 Jahre zur Erkennung des Fehlers gebraucht, kann keine zusätzliche Beachtung finden, weil der Faktor des Zeitablaufs ab Bekanntgabe des zurückzunehmenden Bescheides im § 45 Abs. 3 SGB X abschließend gewürdigt ist. Nicht im Gesetz repräsentiert ist die von der Klägerin eingewendete vierjährige Verjährungsfrist. Der Vertrauensausschlussgrund aus § 45 Abs. 2 Satz 3 Nummer 3 eröffnet nach Abs. 4 Satz 1 der Vorschrift auch die Befugnis zur hier fast ausschließlich maßgeblichen Rücknahme für die Vergangenheit. Die Beklagte hat auch die ihr nach Abs. 4 Satz 2 eingeräumte Handlungsfrist von einem Jahr ab Kenntnis von den die Rücknahme recht-fertigenden Tatsachen gewahrt. Sie beginnt nicht mit einer theoretischen Möglichkeit der Kenntnisnahme von der materiellen Rechtswidrigkeit des Ausgangsbescheides, sondern erst mit der tatsächlichen Wahrnehmung des Fehlers durch eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter mit der Befugnis zur rechtlichen Reaktion auf die Fehlerhaftigkeit des Bescheides, vorliegend im September 2013. Nach Bejahung der grundsätzlichen Befugnis zur Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes hat die Behörde stets das Ermessen auszuüben, dass ihr mit dem Begriff "darf" in den einführenden Worten des § 45 SGB X eingeräumt ist. Hierbei sind spezielle soziale Härten zu berücksichtigen, die über diejenigen Belastungen hinausgehen, die bei vierstelligen Rückforderungen aus einem Rentnerhaushalt ganz selbstverständlich anzuerkennen sind. Solche speziellen Härtesituationen hat die Klägerin nicht vorgetragen. Ihre Erkrankung 2001 konnte für die Prüfung einer Rücknahme und Rückforderung 2013 keine Rolle mehr spielen. Des weiteren muss in der Ermessensausübung ein Verschulden der Behörde am Zustandekommen des rechtswidrigen Bescheides gewürdigt werden. Ein solches Verschulden liegt vorliegend ohne Zweifel vor, allerdings nicht wie von der Klägerin vorgetragen ein ausschließliches Verschulden der Beklagten. Mit der Halbierung der Rückforderung hat die Beklagte dieses Ermessen in einer Weise ausgeübt, die unter dem Aspekt der beschränkten gerichtlichen Kontrolle von Ermessensentscheidungen keine Beanstandungen weckt. Nach alledem haben die angegriffenen Bescheide Bestand.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved