Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
30
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 30 R 1151/13
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
I. Der Bescheid vom 22.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2013 wird aufgehoben.
II. Es wird festgestellt, dass die Klägerin aus dem weiterhin gültigen Bescheid vom 09.02.2012 einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach hat.
III. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Entziehung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Die Klägerin ist geboren am XX.XX.1965. Sie hat den Beruf einer Arzthelferin erlernt und ausgeübt. Beeinträchtigt ist sie seit ihrem 25. Lebensjahr durch eine Multiple Sklerose. Nach einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme von 27.09. bis 25.10.2011 im Reha-Zentrum Nittenau deutete die Beklagte mit Bescheid vom 08.12.2011 ihren Rehabilitationsantrag in einen Rentenantrag um, weil die Maßnahme nicht den er-wünschten Erfolg gebracht habe. Die Klägerin sei von 14.03.2011 bis 31.12.2013 voll erwerbsgemindert. Mangels versicherungsrechtlicher Voraussetzungen stehe ihr jedoch die entsprechende Rente nicht zu. Die Klägerin ist als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 und dem in den Ausweis einzutragenden Merkzeichen G an-erkannt. Am 03.11.2011 beantragte die Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Mit Bescheid vom 04.01.2012 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin könne durch die Maßnahme nicht wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Am 09.01.2012 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Umdeutung des Rehabilitationsantrages. Die Beklagte ließ in einem internen Vermerk offen, ob der Widerspruch nur entsprechend der Formulierung der Klägerin gegen die Umdeutung gerichtet war oder auch gegen die Ablehnung vom 04.01.2012. Jedenfalls wurde als Ziel des Widerspruches erkannt, dass "die Versicherte offensichtlich Reha-Leistungen begehrt". Mit Bescheid vom 09.02.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach. Der Bescheid vom 04.01.2012 sei damit gegenstandslos. Zu einem nach Aktenlage nicht rekonstruierbaren Zeitpunkt erhielt die Beklagte einen vor-läufigen Arztbrief der A.-B.-Klinik vom 08.03.2012 über eine dort durchgeführte teilstationäre Behandlung der Klägerin an 11 Behandlungstagen zwischen 06.02. und 08.03.2012. Unter der Zwischenüberschrift "Therapieberichte" wurden ausgeführt: "In der aktuellen neuropsychologischen Untersuchung zeigten sich bei Frau A. im Vergleich zum Vorbefund 2/2011 eine Verschlechterung in den Bereichen Konzentration und Gedächtnis sowie dem exekutiven Bereich (Planen und Problemlösen). Diese war beson-ders bei der Störung der Aufmerksamkeitsteilung deutlich sowie beim kurz- wie auch längerfristigen Erinnern und der kognitiven Flexibilität. Konsequenzen durch die ms-bedingten kognitiven Veränderungen werden im Alltag dort auftreten, wo Frau A. mit Unerwartetem konfrontiert wird (ein Termin wird vorverlegt), in Situationen mit mehreren Reizen (Telefonieren und etwas notieren, Gespräch und Hintergrundgeräusche) sowie in Gesprächen, in denen Frau A. sich das Gehörte länger merken soll.
Wie schon 2/2011 formuliert, ist daher auch aktuell bei Frau A. nicht davon auszugehen, dass sie an einem neuen Arbeitsplatz sich einer fremden Anforderung kontinuierlich zu-wenden kann und diese zuverlässig bewältigen kann. Vorstellbar ist einen Tätigkeit in einem ehrenamtlichen Bereich, beispielsweise Besuche in einem Altenheim, bei der Frau A. ihrem Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit nachkommen kann. Momentan war Frau A. jedoch von ihrem Alltag mit Familie und Haushalt schon grenzwertig ge- bzw. überfordert. Im Einzelnen waren bei einfachen Reaktionsaufgaben, die eine längerfristige gleichmäßige Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit erfordern, die Reaktionsgeschwindigkeit sowohl in der reizarmen Bedingung (tonische Alertness) als auch in der Bedingung mit externen Hinweisreiz (phasische Alertness) gegenüber dem Vorjahr in den unteren Durchschnittsbereich bzw. mittlerer Durchschnittsbereich verbessert."
Hieraus zog die Beklagte die Konsequenz eines Bescheides vom 22.05.2012, mit der sie die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 09.02.2012 "zurücknahm". Sie begründete dies in medizinischer Hinsicht mit einer nochmaligen Überprüfung ihrer Abteilung für Sozialmedizin, wonach diese Leistungen als nicht erfolgversprechend erachtet wurden. Rechtlich wurde ausgeführt, der Verwaltungsakt sei nach § 48 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt. Hiergegen erhob die Klägerin am 02.07.2012 neuerlich Widerspruch. Dieser wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausge-führt, nach dem im Rehabilitationsverfahren beigezogenen neuesten "Gutachten" der A.-B.-Klinik nach dortiger Aufnahme am 06.02.2012 sei für die Klägerin nur noch eine Tätigkeit im ehrenamtlichen Bereich vorstellbar und das Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgehoben. Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin teilte in der mündlichen Verhandlung mit, dass sie eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hat und bei gesundheitlicher Bewährung deren Intensivierung über die Geringfügigkeit hinaus anstrebt.
Die Klägerin beantragt die Aufhebung des Bescheides vom 22.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2013.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist in der Sache auch begründet. Für Leistungen zur Teilhabe sowohl im Sinne medizinischer Rehabilitation als auch berufsfördernder Maßnahmen fordert § 10 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) als persönliche Voraussetzung die erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähig-keit wegen Krankheit oder Behinderung. Nr. 2 der Vorschrift fordert zugleich die begründete Aussicht, dass dieser Zustand durch die begehrten Maßnahmen behoben werden kann. Die bereits langjährige Erkrankung der Klägerin an Multipler Sklerose begründet erhebliche Zweifel an ihrer dauerhaften Wiedereingliederung in ein schon seit Jahren nicht mehr sehr regelmäßiges Berufsleben. Die Beklagte sah sich jedoch veranlasst, der Klägerin im Sinne der Abhilfe gegenüber zwei parallel anhängigen Widersprüchen sowohl gegen die Umdeutung des ersten Reha-Antrages als auch gegen die Ablehnung des zweiten Reha-Antrages am 09.02.2012 Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach zuzusprechen. Im Hinblick auf eine gewisse zeitliche Dimension solcher Maßnahmen ein-schließlich der Zusatzleistung Übergangsgeld ist es gut vertretbar, diesem Verwaltungsakt eine Dauerwirkung zuzusprechen mit der Folge, dass er aufgrund einer Änderung der tat-sächlichen Verhältnisse nach seiner Bekanntgabe nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ohne Prüfung irgendwelcher Vertrauensschutztatbestände oder Fristen für die Zukunft aufgehoben werden könnte. Lediglich in die Zukunft gerichtet war der Bescheid vom 09.02.2012 noch am 22.02.2012, weil irgendwelche Konkretisierungen noch nicht getroffen waren. Es handelt sich jedoch auch bei Unterstellung einer medizinisch vollkommen zutreffenden Einschätzung durch die Beklagte nicht um einen Fall der Aufhebungsmöglichkeit nach § 48 SGB X. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt der Bescheid vom 09.02.2012 als zugegangen am 12.02.2012. Die zur Anwendbarkeit des § 48 SGB X zwingende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach der Bekanntgabe des aufzuhebenden Bescheides wäre vorliegend nur anzunehmen, wenn sich die am 09.02.2012 vermutete relative Gesundheit der Klägerin nach dem 12.02.2012 verschlechtert hätte. Der Bericht aus der A.-B.-Klinik bekundet jedoch eine Verschlechterung nicht nach dem dortigen ersten Behandlungstag 06.02.2012 und erst recht nicht nach dem 12.02.2012, sondern "im Vergleich zum Vorbefund Februar 2011".
Wenn sich nun also der Gesundheitszustand der Klägerin zwischen Februar 2011 und Februar 2012 verschlechtert hat, dann ging der Bescheid vom 09.02.2012 am Tage seiner erstmaligen Wirksamkeit 12.02.2012 bereits von zu optimistischen Voraussetzungen aus und war bei Bekanntgabe am 12.02.2012 begünstigend rechtswidrig, weil er (unterstellt, die medizinische Sachverhaltsinterpretation der Beklagten trifft zu) von einer unhaltbaren Prognose ausging. In diesem Fall durfte er nur nach Maßgabe des § 45 SGB X zurückgenommen werden. Das Gericht musste der Beklagten nicht Gelegenheit geben, eine solche Rücknahme mit der zwingend notwendigen Ermessensausübung an die Stelle der verfehlten Aufhebung nach § 48 SGB X zu setzen, sondern konnte sogleich erkennen, dass eine solche Rücknahme weder 2012 zulässig war noch jetzt im Sinne der Nachholung zulässig wäre. Die Klägerin hat auf die Zusprache von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vertraut. Ihr Vertrauen ist auch schutzwürdig, weil sie mit erkennbarer Motivation an den in ihrer Situation schwierigen Voraussetzungen für einen beruflichen Wiedereinstieg arbeitet. Die Teilnahme am Heilverfahren 2011 und der doppelte Widerspruch einmal gegen die Umdeutung und einmal gegen die Verweigerung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lassen erkennen, dass sich die Klägerin nicht etwa nur von der Enttäuschung darüber leiten lässt, trotz festgestellter Erwerbsminderung aus versicherungsrechtlichen Gründen keine Rente erlangen zu können. Dieser Tatbestand des Vertrauens auf institutionelle Hilfe bei der beruflichen Wiedereingliederung ist genauso schutzwürdig wie die Regelbeispiele des Verbrauchs von Leistungen oder der Vermögensdisposition nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X. Diese Schutzwürdigkeit des Vertrauens wäre nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X nur erschüttert, wenn die Klägerin Vertrauensausschlussgründe gegen sich gelten lassen müsste. Dies ist offenkundig nicht der Fall. Die Klägerin hat weder leicht noch grob fahrlässig, geschweige denn vorsätzlich, die Beklagte über ihre gesundheitliche Situation fehlerhaft informiert (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X) noch hat sie selbst die von der Beklagten behauptete Rechtswidrigkeit der Zusprache aufgrund einer Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation von 2011 auf 2012 gekannt oder grob fahrlässig übersehen (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X). Damit scheitert eine Rücknahme des Bescheides vom 09.02.2012 endgültig, ohne dass es auf die Fristen des § 45 Abs. 4 SGB X und eine Ermessensausübung nach § 45 Abs. 1 SGB X noch ankäme. Das Gericht sah sich zur Schaffung vollständiger Klarheit veranlasst, über die Antragstellung hinaus eine Feststellung des Leistungsanspruchs der Klägerin ins Urteil mit aufzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
II. Es wird festgestellt, dass die Klägerin aus dem weiterhin gültigen Bescheid vom 09.02.2012 einen Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach hat.
III. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand:
Streitig zwischen den Beteiligten ist die Entziehung von Leistungen der medizinischen Rehabilitation. Die Klägerin ist geboren am XX.XX.1965. Sie hat den Beruf einer Arzthelferin erlernt und ausgeübt. Beeinträchtigt ist sie seit ihrem 25. Lebensjahr durch eine Multiple Sklerose. Nach einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme von 27.09. bis 25.10.2011 im Reha-Zentrum Nittenau deutete die Beklagte mit Bescheid vom 08.12.2011 ihren Rehabilitationsantrag in einen Rentenantrag um, weil die Maßnahme nicht den er-wünschten Erfolg gebracht habe. Die Klägerin sei von 14.03.2011 bis 31.12.2013 voll erwerbsgemindert. Mangels versicherungsrechtlicher Voraussetzungen stehe ihr jedoch die entsprechende Rente nicht zu. Die Klägerin ist als schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 und dem in den Ausweis einzutragenden Merkzeichen G an-erkannt. Am 03.11.2011 beantragte die Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Mit Bescheid vom 04.01.2012 lehnte die Beklagte diesen Antrag mit der Begründung ab, die Erwerbsfähigkeit der Klägerin könne durch die Maßnahme nicht wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden. Am 09.01.2012 erhob die Klägerin Widerspruch gegen die Umdeutung des Rehabilitationsantrages. Die Beklagte ließ in einem internen Vermerk offen, ob der Widerspruch nur entsprechend der Formulierung der Klägerin gegen die Umdeutung gerichtet war oder auch gegen die Ablehnung vom 04.01.2012. Jedenfalls wurde als Ziel des Widerspruches erkannt, dass "die Versicherte offensichtlich Reha-Leistungen begehrt". Mit Bescheid vom 09.02.2012 bewilligte die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach. Der Bescheid vom 04.01.2012 sei damit gegenstandslos. Zu einem nach Aktenlage nicht rekonstruierbaren Zeitpunkt erhielt die Beklagte einen vor-läufigen Arztbrief der A.-B.-Klinik vom 08.03.2012 über eine dort durchgeführte teilstationäre Behandlung der Klägerin an 11 Behandlungstagen zwischen 06.02. und 08.03.2012. Unter der Zwischenüberschrift "Therapieberichte" wurden ausgeführt: "In der aktuellen neuropsychologischen Untersuchung zeigten sich bei Frau A. im Vergleich zum Vorbefund 2/2011 eine Verschlechterung in den Bereichen Konzentration und Gedächtnis sowie dem exekutiven Bereich (Planen und Problemlösen). Diese war beson-ders bei der Störung der Aufmerksamkeitsteilung deutlich sowie beim kurz- wie auch längerfristigen Erinnern und der kognitiven Flexibilität. Konsequenzen durch die ms-bedingten kognitiven Veränderungen werden im Alltag dort auftreten, wo Frau A. mit Unerwartetem konfrontiert wird (ein Termin wird vorverlegt), in Situationen mit mehreren Reizen (Telefonieren und etwas notieren, Gespräch und Hintergrundgeräusche) sowie in Gesprächen, in denen Frau A. sich das Gehörte länger merken soll.
Wie schon 2/2011 formuliert, ist daher auch aktuell bei Frau A. nicht davon auszugehen, dass sie an einem neuen Arbeitsplatz sich einer fremden Anforderung kontinuierlich zu-wenden kann und diese zuverlässig bewältigen kann. Vorstellbar ist einen Tätigkeit in einem ehrenamtlichen Bereich, beispielsweise Besuche in einem Altenheim, bei der Frau A. ihrem Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit nachkommen kann. Momentan war Frau A. jedoch von ihrem Alltag mit Familie und Haushalt schon grenzwertig ge- bzw. überfordert. Im Einzelnen waren bei einfachen Reaktionsaufgaben, die eine längerfristige gleichmäßige Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit erfordern, die Reaktionsgeschwindigkeit sowohl in der reizarmen Bedingung (tonische Alertness) als auch in der Bedingung mit externen Hinweisreiz (phasische Alertness) gegenüber dem Vorjahr in den unteren Durchschnittsbereich bzw. mittlerer Durchschnittsbereich verbessert."
Hieraus zog die Beklagte die Konsequenz eines Bescheides vom 22.05.2012, mit der sie die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vom 09.02.2012 "zurücknahm". Sie begründete dies in medizinischer Hinsicht mit einer nochmaligen Überprüfung ihrer Abteilung für Sozialmedizin, wonach diese Leistungen als nicht erfolgversprechend erachtet wurden. Rechtlich wurde ausgeführt, der Verwaltungsakt sei nach § 48 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eine wesentliche Änderung eintritt. Hiergegen erhob die Klägerin am 02.07.2012 neuerlich Widerspruch. Dieser wurde mit Widerspruchsbescheid vom 17.05.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausge-führt, nach dem im Rehabilitationsverfahren beigezogenen neuesten "Gutachten" der A.-B.-Klinik nach dortiger Aufnahme am 06.02.2012 sei für die Klägerin nur noch eine Tätigkeit im ehrenamtlichen Bereich vorstellbar und das Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aufgehoben. Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin teilte in der mündlichen Verhandlung mit, dass sie eine geringfügige Beschäftigung aufgenommen hat und bei gesundheitlicher Bewährung deren Intensivierung über die Geringfügigkeit hinaus anstrebt.
Die Klägerin beantragt die Aufhebung des Bescheides vom 22.05.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.05.2013.
Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie auf den gesamten Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage wurde nach Durchführung des gesetzlich vorgeschriebenen Widerspruchsver-fahrens form- und fristgerecht beim zuständigen Gericht erhoben und ist somit zulässig. Sie ist in der Sache auch begründet. Für Leistungen zur Teilhabe sowohl im Sinne medizinischer Rehabilitation als auch berufsfördernder Maßnahmen fordert § 10 Abs. 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch VI (SGB VI) als persönliche Voraussetzung die erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähig-keit wegen Krankheit oder Behinderung. Nr. 2 der Vorschrift fordert zugleich die begründete Aussicht, dass dieser Zustand durch die begehrten Maßnahmen behoben werden kann. Die bereits langjährige Erkrankung der Klägerin an Multipler Sklerose begründet erhebliche Zweifel an ihrer dauerhaften Wiedereingliederung in ein schon seit Jahren nicht mehr sehr regelmäßiges Berufsleben. Die Beklagte sah sich jedoch veranlasst, der Klägerin im Sinne der Abhilfe gegenüber zwei parallel anhängigen Widersprüchen sowohl gegen die Umdeutung des ersten Reha-Antrages als auch gegen die Ablehnung des zweiten Reha-Antrages am 09.02.2012 Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach zuzusprechen. Im Hinblick auf eine gewisse zeitliche Dimension solcher Maßnahmen ein-schließlich der Zusatzleistung Übergangsgeld ist es gut vertretbar, diesem Verwaltungsakt eine Dauerwirkung zuzusprechen mit der Folge, dass er aufgrund einer Änderung der tat-sächlichen Verhältnisse nach seiner Bekanntgabe nach § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X ohne Prüfung irgendwelcher Vertrauensschutztatbestände oder Fristen für die Zukunft aufgehoben werden könnte. Lediglich in die Zukunft gerichtet war der Bescheid vom 09.02.2012 noch am 22.02.2012, weil irgendwelche Konkretisierungen noch nicht getroffen waren. Es handelt sich jedoch auch bei Unterstellung einer medizinisch vollkommen zutreffenden Einschätzung durch die Beklagte nicht um einen Fall der Aufhebungsmöglichkeit nach § 48 SGB X. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt der Bescheid vom 09.02.2012 als zugegangen am 12.02.2012. Die zur Anwendbarkeit des § 48 SGB X zwingende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach der Bekanntgabe des aufzuhebenden Bescheides wäre vorliegend nur anzunehmen, wenn sich die am 09.02.2012 vermutete relative Gesundheit der Klägerin nach dem 12.02.2012 verschlechtert hätte. Der Bericht aus der A.-B.-Klinik bekundet jedoch eine Verschlechterung nicht nach dem dortigen ersten Behandlungstag 06.02.2012 und erst recht nicht nach dem 12.02.2012, sondern "im Vergleich zum Vorbefund Februar 2011".
Wenn sich nun also der Gesundheitszustand der Klägerin zwischen Februar 2011 und Februar 2012 verschlechtert hat, dann ging der Bescheid vom 09.02.2012 am Tage seiner erstmaligen Wirksamkeit 12.02.2012 bereits von zu optimistischen Voraussetzungen aus und war bei Bekanntgabe am 12.02.2012 begünstigend rechtswidrig, weil er (unterstellt, die medizinische Sachverhaltsinterpretation der Beklagten trifft zu) von einer unhaltbaren Prognose ausging. In diesem Fall durfte er nur nach Maßgabe des § 45 SGB X zurückgenommen werden. Das Gericht musste der Beklagten nicht Gelegenheit geben, eine solche Rücknahme mit der zwingend notwendigen Ermessensausübung an die Stelle der verfehlten Aufhebung nach § 48 SGB X zu setzen, sondern konnte sogleich erkennen, dass eine solche Rücknahme weder 2012 zulässig war noch jetzt im Sinne der Nachholung zulässig wäre. Die Klägerin hat auf die Zusprache von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben vertraut. Ihr Vertrauen ist auch schutzwürdig, weil sie mit erkennbarer Motivation an den in ihrer Situation schwierigen Voraussetzungen für einen beruflichen Wiedereinstieg arbeitet. Die Teilnahme am Heilverfahren 2011 und der doppelte Widerspruch einmal gegen die Umdeutung und einmal gegen die Verweigerung der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben lassen erkennen, dass sich die Klägerin nicht etwa nur von der Enttäuschung darüber leiten lässt, trotz festgestellter Erwerbsminderung aus versicherungsrechtlichen Gründen keine Rente erlangen zu können. Dieser Tatbestand des Vertrauens auf institutionelle Hilfe bei der beruflichen Wiedereingliederung ist genauso schutzwürdig wie die Regelbeispiele des Verbrauchs von Leistungen oder der Vermögensdisposition nach § 45 Abs. 2 S. 2 SGB X. Diese Schutzwürdigkeit des Vertrauens wäre nach § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X nur erschüttert, wenn die Klägerin Vertrauensausschlussgründe gegen sich gelten lassen müsste. Dies ist offenkundig nicht der Fall. Die Klägerin hat weder leicht noch grob fahrlässig, geschweige denn vorsätzlich, die Beklagte über ihre gesundheitliche Situation fehlerhaft informiert (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 2 SGB X) noch hat sie selbst die von der Beklagten behauptete Rechtswidrigkeit der Zusprache aufgrund einer Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Situation von 2011 auf 2012 gekannt oder grob fahrlässig übersehen (§ 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X). Damit scheitert eine Rücknahme des Bescheides vom 09.02.2012 endgültig, ohne dass es auf die Fristen des § 45 Abs. 4 SGB X und eine Ermessensausübung nach § 45 Abs. 1 SGB X noch ankäme. Das Gericht sah sich zur Schaffung vollständiger Klarheit veranlasst, über die Antragstellung hinaus eine Feststellung des Leistungsanspruchs der Klägerin ins Urteil mit aufzunehmen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
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