Land
Hamburg
Sozialgericht
LSG Hamburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 25 KR 108/12
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
L 1 KR 48/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. März 2013 geändert. Die Beklagte wird gemäß ihrem Teilanerkenntnis verurteilt, den Kläger einmalig mit 50 Blutzuckerteststreifen zu versorgen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte trägt ein Viertel der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch auf Versorgung mit Blutzuckerteststreifen.
Der 1940 geborene Kläger leidet unter anderem an Diabetes mellitus Typ 2, ist aber nicht insulinpflichtig. Bis Oktober 2011 erhielt er auf Kosten der Beklagten Blutzuckerteststreifen zur Selbstmessung. Seinen Antrag auf weitere Kostenübernahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 2011 ab und verwies darauf, dass der Gemeinsame Bundesausschuss zu dem Ergebnis gekommen sei, dass nicht insulinpflichtige Diabetiker des Typs 2 von einer Selbstmessung nicht profitieren würden. Eine Ausnahmeregelung bestehe allein für nicht insulinpflichtige Typ 2-Diabetiker mit instabiler Stoffwechsellage oder Blutzuckerschwankungen, die auftreten könnten, wenn zum Diabetes mellitus noch weitere Erkrankungen hinzukämen oder Patienten neu auf bestimmte orale Antidiabetika eingestellt oder umgestellt würden. In diesen Fällen seien vorübergehende Kontrollen des Blutzuckerspiegels sinnvoll und die Kosten könnten von den Krankenkassen übernommen werden; dazu gehöre der Kläger aber nicht.
Der Kläger erhob dagegen Widerspruch mit der Begründung, die Ausnahmeregelung treffe auf ihn zu. Die Blutzuckerkontrolle sei ein wichtiges Hilfsmittel zur Verlaufskontrolle und Therapieanpassung.
Der behandelnde Arzt des Klägers, Dr. U., teilte der Beklagten auf entsprechende Anfrage unter dem 18. November 2011 mit, dass er den Kläger seit Mai 2004 betreue. Neben dem Diabetes mellitus bestünden bei ihm unter anderem eine Hypertonie, eine Koronare Dreigefäßerkrankung, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, eine Depression sowie eine Angststörung. Insgesamt bestehe bei ihm ein instabiler Zustand, was nicht nur den Diabetes, sondern auch den Blutdruck und die kardiale Situation betreffe. Aufgrund von Complianceproblemen und Nebenwirkungen werde die Einnahme von Tabletten nicht konsequent bzw. derzeit überhaupt nicht durchgeführt.
Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung N. (MDK) stellte unter dem 23. November 2011 fest, dass eine instabile Stoffwechsellage bei dem Kläger gegeben sei. Ursächlich sei zwar seine Incompliance, aktuell sei jedoch bei Tablettenverweigerung das Risiko einer stationären Krankenhausbehandlung relativ hoch, sodass eine befristete Übernahme der Kosten für Blutzuckerteststreifen sinnvoll und wirtschaftlich erscheine.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2011 zurück, da die bei dem Kläger vorliegende instabile Stoffwechsellage selbstverschuldet sei.
Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe aus guten Gründen eine Insulintherapie bisher abgelehnt und therapiere seine Krankheit mit Erfolg selbst durch ausgewogene Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Allerdings komme kein Diabetiker ohne Messungen aus.
Auf Anfrage des Sozialgerichts hat Dr. U. mit Schreiben vom 4. März 2013 mitgeteilt, dass bei dem Kläger aufgrund der weiteren Erkrankungen, insbesondere der Kardialsituation, eine sehr gute Diabeteseinstellung wichtig sei. Jedoch sei es aufgrund seiner starken Ängste schwer, diese zu erreichen. Eine Anbindung an eine Diabetespraxis mit entsprechend straffer Führung sei gescheitert, weil der Kläger aufgrund seiner Angsterkrankung das Haus kaum noch verlasse. Um überhaupt eine gewisse medizinische Überwachung zu gewährleisten, lasse er ihn ein- bis zweimal pro Quartal mit einem Krankentransportwagen auf Kosten der Beklagten in die Praxis bringen.
Im Verlauf des Klagverfahrens hat sich die Beklagte vergleichsweise bereit erklärt, den Kläger zunächst zeitlich befristet für sechs Monate mit je 50 Teststreifen pro Quartal zu versorgen, mit der Maßgabe, dass er ein Blutzuckertagebuch führt, den daraus folgenden Therapievorschlägen seines Arztes folgt und eine Diabetesschulung durchführt. Der Kläger hat dieses Angebot abgelehnt.
Das Sozialgericht hat die Beklagte sodann mit Urteil vom 21. März 2013 zur unbefristeten Übernahme der Kosten für 50 Blutzuckerteststreifen pro Quartal verurteilt. Es hat ausgeführt, eine Ausnahmeindikation für die Versorgung mit Blutzuckerteststreifen liege bei dem Kläger vor, da eine instabile Stoffwechsellage bestehe. In der Vergangenheit hätten ihm die Teststreifen offenbar geholfen, seine Erkrankung ohne Insulin in den Griff zu bekommen. Nach den Angaben des behandelnden Arztes sei er aufgrund seiner Angststörung kaum in der Lage, das Haus zu verlassen. Daher sei es notwendig, ihm die Teststreifen zur Verfügung zu stellen, um ihm selbst eine Kontrolle der Werte zu ermöglichen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 16. April 2013 zugestellte Urteil am 16. Mai 2013 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts könne nicht jeder instabile Zustand eine solche Ausnahme begründen. Beim Kläger werde der instabile Zustand dadurch verursacht, dass er Maßnahmen zur Besserung seines Gesundheitszustandes verweigere, denn er lehne die Einnahme oraler Antidiabetika sowie ein von seinen Ärzten empfohlene Insulintherapie kategorisch ab. Somit dienten die Blutzuckerteststreifen offensichtlich nur seiner persönlichen Befindlichkeit, nicht aber der Beseitigung seines instabilen Zustandes. Ein Anspruch gegen die Krankenkasse könne außerdem nicht dadurch begründet werden, dass der Versicherte seinen instabilen Zustand selbst veranlasse. Kontrollmessungen könnten im Übrigen auch in der Arztpraxis erfolgen. Auch die Notwendigkeit einer dauerhaften Verordnung habe das Sozialgericht nicht festgestellt. Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung sei es, eine instabile Stoffwechsellage des Patienten zu stabilisieren, da diese keinen Dauerzustand darstelle. Grundsätzlich könnten daher nur bis zu 50 Teststreifen pro Behandlungssituation verordnet werden, eine dauerhafte Verordnung sei keinesfalls vorgesehen.
In der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2014 hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis dahin gehend abgegeben, dass sie den Kläger einmalig für ein Quartal mit den notwendigen Blutzuckerteststreifen versorgen wird.
Die Beklagte beantragt im Übrigen,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. März 2013, soweit es noch entgegensteht, aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf sein bisheriges Vorbringen und trägt vor, die Beklagte verzerre und verdrehe sein Krankheitsbild. Er habe seit 1996 Diabetes und sei immer verantwortungsvoll und sorgsam mit seinem Leiden umgegangen und habe notwendige Therapien nie verweigert. Er könne aus gesundheitlichen Gründen öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen und gehe nur mit Hilfe seiner Kinder in der Nähe der Wohnung spazieren. Fahrten zur Arztpraxis könne er sich auch nicht leisten. Er werde bereits seit Dezember 2012 mit "Zuckertabletten" erfolgreich therapiert.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie auf die in der Sitzungsniederschrift aufgeführten Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 143, 151 SGG) Berufung der Beklagten ist zum Teil begründet.
Entsprechend dem von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2014 abgegebenen Teilanerkenntnis war diese zu verurteilen, den Kläger einmalig mit 50 Blutzuckerteststreifen zu versorgen. Einer Darstellung der Entscheidungsgründe bedarf es insoweit gemäß § 202 SGG i.V.m. § 313b Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung nicht.
Zu einer unbefristeten Versorgung des Klägers mit Blutzuckerteststreifen ist die Beklagte dagegen nicht verpflichtet, sodass das erstinstanzliche Urteil insoweit aufzuheben war.
Gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit Arzneimittel in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V festzulegen, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 des Medizinproduktegesetzes zur Anwendung am oder im menschlichen Körper bestimmt sind, ausnahmsweise in die Arzneimittelversorgung einbezogen werden (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB V).
Blutzuckerteststreifen sind Medizinprodukte, mit denen Patienten die Höhe ihres Zuckerwertes im Blut selbst messen können. Sie sind gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V und § 7 Nr. 2 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie/AM-RL) in der Fassung vom 18. Dezember 2008/22. Januar 2009 (BAnz 2009 Nr. 49a), zuletzt geändert am 21. August 2014 (BAnz AT 08.10.2014 B1) Arzneimitteln ausdrücklich gleichgestellt. Gemäß § 16 Abs. 1 AM-RL dürfen Arzneimittel von Versicherten nicht beansprucht werden, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen ist. Das Nähere über die hiernach in ihrer Verordnung eingeschränkten oder ausgeschlossenen Harn- und Blutteststreifen ist in Anlage III der AM-RL geregelt (§ 16 Abs. 6 S. 1 AM-RL). Nach Nr. 52 der Anlage III zur AM-RL sind seit dem 1. Oktober 2011 Harn- und Blutzuckerteststreifen bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die nicht mit Insulin behandelt werden, von der Verordnung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Eine Ausnahme gilt lediglich bei instabiler Stoffwechsellage. Diese kann gegeben sein bei interkurrenten Erkrankungen, Ersteinstellung auf oder Therapieumstellung bei oralen Antidiabetika mit hohem Hypoglykämierisiko (grundsätzlich je Behandlungssituation bis zu 50 Teststreifen).
Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind bindend gegenüber allen Systembeteiligten und als untergesetzliche Rechtsnormen lediglich formell und inhaltlich zu überprüfen, wenn und soweit hierzu aufgrund hinreichend substantiierten Beteiligtenvorbringens konkreter Anlass besteht (BSG, Urteil vom 06.03.2012 – B 1 KR 24/10 R – Juris, m.w.N.). Anhaltspunkte dafür, dass die in Rede stehende Regelung der AM-RL nicht in dem dafür vorgesehenen Verfahren zustande gekommen ist, sind nicht zu erkennen. Die Verordnungseinschränkung basiert auf einer entsprechenden Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), nach dessen Abschlussbericht vom 14. September 2009 nichtinsulinpflichtige Typ 2-Diabetiker von Blutzuckerselbstmessungen nicht profitieren, weil sich daraus keinerlei direkte Konsequenzen für die Therapie ergeben und Änderungen einer etwaigen Medikamentendosis ausschließlich von den behandelnden Ärzten auf der Grundlage des entscheidenden HbA1c-Wertes durchgeführt werden. Die mit der Regelung einhergehende Beschränkung des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt auch kein höherrangiges Recht, insbesondere kein Verfassungsrecht, denn die Krankenkassen sind weder nach dem SGB V noch nach der Verfassung gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (BSG, Urteil vom 06.03.2012 – B 1 KR 24/10 R – Juris).
Die AM-RL beschränken somit den Anspruch bei vorliegender Ausnahmeindikation grundsätzlich auf bis zu 50 Teststreifen je Behandlungssituation. In dieser Höhe hat die Beklagte den Anspruch des Klägers anerkannt, sodass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen. Ein darüber hinaus gehender Anspruch des Klägers besteht jedenfalls derzeit nicht.
Der Gemeinsame Bundesausschuss ist bei der Formulierung der Ausnahmeindikation offensichtlich davon ausgegangen, dass im Regelfall eine einmalige Versorgung mit 50 Teststreifen genügt, um eine ausreichende Grundlage für eine Therapieanpassung zur Stabilisierung der Stoffwechsellage zu gewinnen. Soweit die Verwendung des Begriffs "grundsätzlich" indiziert, dass im Einzelfall auch eine höhere Verordnungsmenge bzw. ein längerer Verordnungszeitraum in Betracht kommt, sofern dies aufgrund besonderer Umstände medizinisch erforderlich ist, sind derartige Umstände vorliegend nicht erkennbar.
Vielmehr wird die Zukunft erst zeigen, ob der Kläger von einer (regelmäßigen) Verordnung der Teststreifen überhaupt profitieren kann. Dies dürfte voraussetzen, dass er die 50 von der Beklagten anerkannten Teststreifen dazu verwendet, die gemessenen Werte zu dokumentieren, mit seinem Arzt zu besprechen und dessen Therapievorschlägen grundsätzlich zu folgen. Ob dies der Fall sein wird, unterliegt durchaus Zweifeln, da sich aus den Angaben seines behandelnden Arztes Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dies jedenfalls in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. 50 Teststreifen dürften jedoch genügen, um diese Zweifel entweder auszuräumen oder zu bestätigen. Es steht dem Kläger frei, nach Verbrauch der 50 Teststreifen bei der Beklagten einen Antrag auf Weitergewährung zu stellen und den langfristigen Nutzen durch Vorlage geeigneter Unterlagen (z. B. Dokumentation der gemessenen Blutzuckerwerte, ärztliche Bescheinigung) nachzuweisen. Die Beklagte wird sodann unter Berücksichtigung dieser Unterlagen über einen weiteren Anspruch des Klägers zu entscheiden haben, wobei eine Teilnahme an Diabetesschulungen aufgrund der Angsterkrankung des Klägers nicht verlangt werden dürfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Tatbestand:
Streitig ist ein Anspruch auf Versorgung mit Blutzuckerteststreifen.
Der 1940 geborene Kläger leidet unter anderem an Diabetes mellitus Typ 2, ist aber nicht insulinpflichtig. Bis Oktober 2011 erhielt er auf Kosten der Beklagten Blutzuckerteststreifen zur Selbstmessung. Seinen Antrag auf weitere Kostenübernahme lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 27. Oktober 2011 ab und verwies darauf, dass der Gemeinsame Bundesausschuss zu dem Ergebnis gekommen sei, dass nicht insulinpflichtige Diabetiker des Typs 2 von einer Selbstmessung nicht profitieren würden. Eine Ausnahmeregelung bestehe allein für nicht insulinpflichtige Typ 2-Diabetiker mit instabiler Stoffwechsellage oder Blutzuckerschwankungen, die auftreten könnten, wenn zum Diabetes mellitus noch weitere Erkrankungen hinzukämen oder Patienten neu auf bestimmte orale Antidiabetika eingestellt oder umgestellt würden. In diesen Fällen seien vorübergehende Kontrollen des Blutzuckerspiegels sinnvoll und die Kosten könnten von den Krankenkassen übernommen werden; dazu gehöre der Kläger aber nicht.
Der Kläger erhob dagegen Widerspruch mit der Begründung, die Ausnahmeregelung treffe auf ihn zu. Die Blutzuckerkontrolle sei ein wichtiges Hilfsmittel zur Verlaufskontrolle und Therapieanpassung.
Der behandelnde Arzt des Klägers, Dr. U., teilte der Beklagten auf entsprechende Anfrage unter dem 18. November 2011 mit, dass er den Kläger seit Mai 2004 betreue. Neben dem Diabetes mellitus bestünden bei ihm unter anderem eine Hypertonie, eine Koronare Dreigefäßerkrankung, Herzinsuffizienz, Vorhofflimmern, eine Depression sowie eine Angststörung. Insgesamt bestehe bei ihm ein instabiler Zustand, was nicht nur den Diabetes, sondern auch den Blutdruck und die kardiale Situation betreffe. Aufgrund von Complianceproblemen und Nebenwirkungen werde die Einnahme von Tabletten nicht konsequent bzw. derzeit überhaupt nicht durchgeführt.
Der von der Beklagten beauftragte Medizinische Dienst der Krankenversicherung N. (MDK) stellte unter dem 23. November 2011 fest, dass eine instabile Stoffwechsellage bei dem Kläger gegeben sei. Ursächlich sei zwar seine Incompliance, aktuell sei jedoch bei Tablettenverweigerung das Risiko einer stationären Krankenhausbehandlung relativ hoch, sodass eine befristete Übernahme der Kosten für Blutzuckerteststreifen sinnvoll und wirtschaftlich erscheine.
Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 27. Oktober 2011 zurück, da die bei dem Kläger vorliegende instabile Stoffwechsellage selbstverschuldet sei.
Mit seiner dagegen erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, er habe aus guten Gründen eine Insulintherapie bisher abgelehnt und therapiere seine Krankheit mit Erfolg selbst durch ausgewogene Ernährung und Flüssigkeitszufuhr. Allerdings komme kein Diabetiker ohne Messungen aus.
Auf Anfrage des Sozialgerichts hat Dr. U. mit Schreiben vom 4. März 2013 mitgeteilt, dass bei dem Kläger aufgrund der weiteren Erkrankungen, insbesondere der Kardialsituation, eine sehr gute Diabeteseinstellung wichtig sei. Jedoch sei es aufgrund seiner starken Ängste schwer, diese zu erreichen. Eine Anbindung an eine Diabetespraxis mit entsprechend straffer Führung sei gescheitert, weil der Kläger aufgrund seiner Angsterkrankung das Haus kaum noch verlasse. Um überhaupt eine gewisse medizinische Überwachung zu gewährleisten, lasse er ihn ein- bis zweimal pro Quartal mit einem Krankentransportwagen auf Kosten der Beklagten in die Praxis bringen.
Im Verlauf des Klagverfahrens hat sich die Beklagte vergleichsweise bereit erklärt, den Kläger zunächst zeitlich befristet für sechs Monate mit je 50 Teststreifen pro Quartal zu versorgen, mit der Maßgabe, dass er ein Blutzuckertagebuch führt, den daraus folgenden Therapievorschlägen seines Arztes folgt und eine Diabetesschulung durchführt. Der Kläger hat dieses Angebot abgelehnt.
Das Sozialgericht hat die Beklagte sodann mit Urteil vom 21. März 2013 zur unbefristeten Übernahme der Kosten für 50 Blutzuckerteststreifen pro Quartal verurteilt. Es hat ausgeführt, eine Ausnahmeindikation für die Versorgung mit Blutzuckerteststreifen liege bei dem Kläger vor, da eine instabile Stoffwechsellage bestehe. In der Vergangenheit hätten ihm die Teststreifen offenbar geholfen, seine Erkrankung ohne Insulin in den Griff zu bekommen. Nach den Angaben des behandelnden Arztes sei er aufgrund seiner Angststörung kaum in der Lage, das Haus zu verlassen. Daher sei es notwendig, ihm die Teststreifen zur Verfügung zu stellen, um ihm selbst eine Kontrolle der Werte zu ermöglichen.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 16. April 2013 zugestellte Urteil am 16. Mai 2013 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, entgegen der Auffassung des Sozialgerichts könne nicht jeder instabile Zustand eine solche Ausnahme begründen. Beim Kläger werde der instabile Zustand dadurch verursacht, dass er Maßnahmen zur Besserung seines Gesundheitszustandes verweigere, denn er lehne die Einnahme oraler Antidiabetika sowie ein von seinen Ärzten empfohlene Insulintherapie kategorisch ab. Somit dienten die Blutzuckerteststreifen offensichtlich nur seiner persönlichen Befindlichkeit, nicht aber der Beseitigung seines instabilen Zustandes. Ein Anspruch gegen die Krankenkasse könne außerdem nicht dadurch begründet werden, dass der Versicherte seinen instabilen Zustand selbst veranlasse. Kontrollmessungen könnten im Übrigen auch in der Arztpraxis erfolgen. Auch die Notwendigkeit einer dauerhaften Verordnung habe das Sozialgericht nicht festgestellt. Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung sei es, eine instabile Stoffwechsellage des Patienten zu stabilisieren, da diese keinen Dauerzustand darstelle. Grundsätzlich könnten daher nur bis zu 50 Teststreifen pro Behandlungssituation verordnet werden, eine dauerhafte Verordnung sei keinesfalls vorgesehen.
In der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2014 hat die Beklagte ein Teilanerkenntnis dahin gehend abgegeben, dass sie den Kläger einmalig für ein Quartal mit den notwendigen Blutzuckerteststreifen versorgen wird.
Die Beklagte beantragt im Übrigen,
das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 21. März 2013, soweit es noch entgegensteht, aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf sein bisheriges Vorbringen und trägt vor, die Beklagte verzerre und verdrehe sein Krankheitsbild. Er habe seit 1996 Diabetes und sei immer verantwortungsvoll und sorgsam mit seinem Leiden umgegangen und habe notwendige Therapien nie verweigert. Er könne aus gesundheitlichen Gründen öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr benutzen und gehe nur mit Hilfe seiner Kinder in der Nähe der Wohnung spazieren. Fahrten zur Arztpraxis könne er sich auch nicht leisten. Er werde bereits seit Dezember 2012 mit "Zuckertabletten" erfolgreich therapiert.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie auf die in der Sitzungsniederschrift aufgeführten Unterlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die statthafte, form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige (§§ 143, 151 SGG) Berufung der Beklagten ist zum Teil begründet.
Entsprechend dem von der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 26. November 2014 abgegebenen Teilanerkenntnis war diese zu verurteilen, den Kläger einmalig mit 50 Blutzuckerteststreifen zu versorgen. Einer Darstellung der Entscheidungsgründe bedarf es insoweit gemäß § 202 SGG i.V.m. § 313b Abs. 1 S. 1 Zivilprozessordnung nicht.
Zu einer unbefristeten Versorgung des Klägers mit Blutzuckerteststreifen ist die Beklagte dagegen nicht verpflichtet, sodass das erstinstanzliche Urteil insoweit aufzuheben war.
Gemäß § 27 Abs. 1 S. 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln, soweit Arzneimittel in der vertragsärztlichen Versorgung verordnungsfähig sind, und auf Versorgung mit Verbandmitteln, Harn- und Blutteststreifen. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V festzulegen, in welchen medizinisch notwendigen Fällen Stoffe und Zubereitungen aus Stoffen, die als Medizinprodukte nach § 3 Nr. 1 oder Nr. 2 des Medizinproduktegesetzes zur Anwendung am oder im menschlichen Körper bestimmt sind, ausnahmsweise in die Arzneimittelversorgung einbezogen werden (§ 31 Abs. 1 S. 2 SGB V).
Blutzuckerteststreifen sind Medizinprodukte, mit denen Patienten die Höhe ihres Zuckerwertes im Blut selbst messen können. Sie sind gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 SGB V und § 7 Nr. 2 der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung von Arzneimitteln in der vertragsärztlichen Versorgung (Arzneimittel-Richtlinie/AM-RL) in der Fassung vom 18. Dezember 2008/22. Januar 2009 (BAnz 2009 Nr. 49a), zuletzt geändert am 21. August 2014 (BAnz AT 08.10.2014 B1) Arzneimitteln ausdrücklich gleichgestellt. Gemäß § 16 Abs. 1 AM-RL dürfen Arzneimittel von Versicherten nicht beansprucht werden, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen ist. Das Nähere über die hiernach in ihrer Verordnung eingeschränkten oder ausgeschlossenen Harn- und Blutteststreifen ist in Anlage III der AM-RL geregelt (§ 16 Abs. 6 S. 1 AM-RL). Nach Nr. 52 der Anlage III zur AM-RL sind seit dem 1. Oktober 2011 Harn- und Blutzuckerteststreifen bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die nicht mit Insulin behandelt werden, von der Verordnung zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen. Eine Ausnahme gilt lediglich bei instabiler Stoffwechsellage. Diese kann gegeben sein bei interkurrenten Erkrankungen, Ersteinstellung auf oder Therapieumstellung bei oralen Antidiabetika mit hohem Hypoglykämierisiko (grundsätzlich je Behandlungssituation bis zu 50 Teststreifen).
Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses sind bindend gegenüber allen Systembeteiligten und als untergesetzliche Rechtsnormen lediglich formell und inhaltlich zu überprüfen, wenn und soweit hierzu aufgrund hinreichend substantiierten Beteiligtenvorbringens konkreter Anlass besteht (BSG, Urteil vom 06.03.2012 – B 1 KR 24/10 R – Juris, m.w.N.). Anhaltspunkte dafür, dass die in Rede stehende Regelung der AM-RL nicht in dem dafür vorgesehenen Verfahren zustande gekommen ist, sind nicht zu erkennen. Die Verordnungseinschränkung basiert auf einer entsprechenden Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), nach dessen Abschlussbericht vom 14. September 2009 nichtinsulinpflichtige Typ 2-Diabetiker von Blutzuckerselbstmessungen nicht profitieren, weil sich daraus keinerlei direkte Konsequenzen für die Therapie ergeben und Änderungen einer etwaigen Medikamentendosis ausschließlich von den behandelnden Ärzten auf der Grundlage des entscheidenden HbA1c-Wertes durchgeführt werden. Die mit der Regelung einhergehende Beschränkung des Leistungsumfangs der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt auch kein höherrangiges Recht, insbesondere kein Verfassungsrecht, denn die Krankenkassen sind weder nach dem SGB V noch nach der Verfassung gehalten, alles zu leisten, was an Mitteln zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit verfügbar ist (BSG, Urteil vom 06.03.2012 – B 1 KR 24/10 R – Juris).
Die AM-RL beschränken somit den Anspruch bei vorliegender Ausnahmeindikation grundsätzlich auf bis zu 50 Teststreifen je Behandlungssituation. In dieser Höhe hat die Beklagte den Anspruch des Klägers anerkannt, sodass sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen. Ein darüber hinaus gehender Anspruch des Klägers besteht jedenfalls derzeit nicht.
Der Gemeinsame Bundesausschuss ist bei der Formulierung der Ausnahmeindikation offensichtlich davon ausgegangen, dass im Regelfall eine einmalige Versorgung mit 50 Teststreifen genügt, um eine ausreichende Grundlage für eine Therapieanpassung zur Stabilisierung der Stoffwechsellage zu gewinnen. Soweit die Verwendung des Begriffs "grundsätzlich" indiziert, dass im Einzelfall auch eine höhere Verordnungsmenge bzw. ein längerer Verordnungszeitraum in Betracht kommt, sofern dies aufgrund besonderer Umstände medizinisch erforderlich ist, sind derartige Umstände vorliegend nicht erkennbar.
Vielmehr wird die Zukunft erst zeigen, ob der Kläger von einer (regelmäßigen) Verordnung der Teststreifen überhaupt profitieren kann. Dies dürfte voraussetzen, dass er die 50 von der Beklagten anerkannten Teststreifen dazu verwendet, die gemessenen Werte zu dokumentieren, mit seinem Arzt zu besprechen und dessen Therapievorschlägen grundsätzlich zu folgen. Ob dies der Fall sein wird, unterliegt durchaus Zweifeln, da sich aus den Angaben seines behandelnden Arztes Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dies jedenfalls in der Vergangenheit nicht immer der Fall war. 50 Teststreifen dürften jedoch genügen, um diese Zweifel entweder auszuräumen oder zu bestätigen. Es steht dem Kläger frei, nach Verbrauch der 50 Teststreifen bei der Beklagten einen Antrag auf Weitergewährung zu stellen und den langfristigen Nutzen durch Vorlage geeigneter Unterlagen (z. B. Dokumentation der gemessenen Blutzuckerwerte, ärztliche Bescheinigung) nachzuweisen. Die Beklagte wird sodann unter Berücksichtigung dieser Unterlagen über einen weiteren Anspruch des Klägers zu entscheiden haben, wobei eine Teilnahme an Diabetesschulungen aufgrund der Angsterkrankung des Klägers nicht verlangt werden dürfte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat die Revision nicht zugelassen, weil die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
Login
HAM
Saved