S 8 SB 1372/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 8 SB 1372/12
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 07.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2012 verurteilt, bei der Klägerin ab dem 22.05.2012 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten im vorliegenden Verfahren darum, ob die Klägerin von dem Beklagten die Feststellung eines Grades der Behinderung von 50 beanspruchen kann.

Die Klägerin wurde am 00.00.1952 geboren. Am 22.05.2012 beantragte sie die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft bei dem Beklagten unter Hinweis auf eine Riesenzellarteriitis, eine transitorische ischämische Attacke mit vorübergehender Parese des linken Beines, COPD, Fibromyalgie, Spondylarthritis mit Gelenkbeteiligung sowie Depressionen. Mit Bescheid vom 07.08.2012 stellte der Beklagte einen Grad der Behinderung von 40 unter Berücksichtigung einer entzündlichen Blutgefäßerkrankung mit immununterdrückender Behandlung und einem psychosomatischen Schmerzsyndrom fest. Hiergegen legte die Klägerin am 21.08.2012 Widerspruch ein. Ihre täglich auftretenden Gelenk- und Rückenschmerzen seien nicht berücksichtigt worden. Trotz Medikamenten habe sie ständig schmerzhafte Gelenkschwellungen und könne wegen dieser Beschwerden nicht arbeiten. Weiterhin sei ihre psychische Situation nicht berücksichtigt worden. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.09.2012 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch als unbe-gründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 26.09.2012 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus: Bereits die vorliegende Riesenzellarteriitis sei mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten. Zu berücksichtigen sei die seit Februar 2011 durchgeführte hochdosierte Steroidtherapie sowie die seit Mai 2011 erfolgende Basistherapie mit MTX. Die Therapien führten zu einer Schwächung des Immunsystems, was zu Infektionen führe. Weiter leide die Klägerin unter erheblichen physischen Einschränkungen, welche im Wesentlichen der Spondylarthritis sowie dem Fibromyalgiesyndrom zuzurechnen seien. Sie leide an Schmerzen im ganzen Körper. Zudem habe sich eine erhebliche psychische Erkrankung eingestellt, die gesondert zu betrachten sei. Sie leide unter Depressionen, Angstzuständen und Schlafstörungen. Hinzu kämen Leistungseinschränkungen in Form von Konzentrationsschwäche und Vergesslichkeit. Die ständigen Schmerzen, die ständigen Ängste vor neuen Erkrankungen und Schmerzen sowie die soziale Isolation bedingt durch die Immunsupression habe eine er-hebliche Wesensänderung bei der Klägerin herbeigeführt. Sie sei nunmehr anhaltend kraftlos, antriebslos, tief traurig und verzweifelt. Die Gesundheitsstörungen riefen im Alltag erhebliche Funktionsbeeinträchtigungen hervor. Sie sei derart eingeschränkt, dass die Schwerbehinderteneigenschaft festgestellt werden müsse.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07.08.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2012 zu verurteilen, bei ihr ab dem 22.05.2012 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt er Bezug auf die Ausführungen im Bescheid und Widerspruchsbescheid. Die Feststellung eines höheren GdB sei medizinisch nicht gerechtfertigt.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhaltes gemäß § 106 SGG Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens des Neurologen und Psychiaters H vom 03.06.2013 sowie des Internisten, Rheumatologen und Sozialmediziners Dr. A vom 10.07.2013 sowie einer ergänzenden Stellungnahme des Dr. A vom 21.10.2013. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die genannten Gutachten Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der genannten medizinischen Unterlagen Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 07.08.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.09.2012 beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 S. 1 SGG, da der Bescheid rechtswidrig ist. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Feststellung eines Grades der Behinderung von 50.

Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung sowie den Grad der Behinderung fest. Menschen sind nach § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Für die Bestimmung des Grades der Behinderung gelten die in § 30 Abs. 1 BVG und in der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 festgelegten Maßstäbe entsprechend (§ 69 Abs. 1 S. 5 SGB IX). Danach ist der Grad der Behinderung nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen.

Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme rechtfertigen die bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen die Feststellung eines Grades der Behinderung von 50.

Dies steht zur Überzeugung der Kammer fest aufgrund der nachvollziehbar und in sich schlüssig begründeten Gutachten der Sachverständigen Dres. H und A gemäß § 106 SGG unter Berücksichtigung der übrigen in den Akten befindlichen medizinischen Unterlagen. Die Kammer hält die medizinische Einschätzung der Sachverständigen für überzeugend, weil sie diese auf eine ausführlich erhobene Anamnese sowie auf eingehende und sorgfältige Untersuchungen stützen. Die Ausführungen dieser Sachverständigen lassen Un-richtigkeiten, Widersprüche oder Fehlschlüsse nicht erkennen und stimmen hinsichtlich der vorgenommenen Bewertungen mit den hier zu berücksichtigenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG) überein. Hiernach leidet die Klägerin zunächst unter einer entzündlich rheumatischen Gefäßerkrankung (Arteriitis temporalis) mit Muskelbeteiligung (Polymyalgia rheumatica) unter das Immunsystem beeinflussender Therapie, die der Sachverständige Dr. A gemäß Teil B Ziff. 18.9 VMG mit einem Grad der Behinderung von 30 bewertet. Soweit der Beklagte darauf hinweist, dass die von Dr. A vorgeschlagene Heilungsbewährung von fünf Jahren in der VMG nicht vorgesehen sei, so steht es dem Beklagten frei, auf die Prüfung einer möglichen Besserung des Gesundheitszustandes der Klägerin in der Zukunft zu verzichten oder das Eintreten geänderter (hier gebesserter) Verhältnisse im Sinne des § 48 SGB X zu einem anderen Zeitpunkt zu prüfen.

Weiter besteht bei der Klägerin eine wechselnde Lungenfunktionsstörung bei wiederholten Infekten der Luftwege und Entzündung der Lungenbläschen mit respiratorischer Partialinsuffizienz, die der Sachverständige Dr. A unter Berücksichtigung der verstärkenden Auswirkungen der bei der Klägerin ebenfalls bestehenden Fettsucht gemäß Teil B Ziff. 8.3 VMG mit einem Grad der Behinderung von 30 bewertet. Gemäß Teil B Ziff. 8.3 VMG sind Krankheiten der Atmungsorgane mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion geringen Grades mit das gewöhnliche Maß übersteigender Atemnot bei mittelschwerer Belastung, statischen und dynamischen Messwerten der Lungenfunktionsprüfung bis zu 1/3 niedriger als die Sollwerte und Blutgaswerte im Normbereich mit einem Grad der Behinderung von 20-40 zu bewerten. Dr. A beschreibt bei der Klägerin unter broncholytischer Therapie keine klinisch relevante Einschränkung der Lungenfunktion. Als unerwarteten Befund beschreibt er aber einen leicht erniedrigten Sauerstoffpartialdruck, der unter Belastung bis 75 Watt noch weiterhin absank. Der Sachverständige Dr. A führt hierzu für die Kammer überzeugend aus, dass dieser nicht unberücksichtigt bleiben könne. Maßstab für die Lungenfunktion seien nicht nur die statischen oder dynamischen Lungenfunktionsparameter, sondern der Gasaustausch mit Sauerstoffsättigung des Blutes. Objektiver Parameter sei hier der Sauerstoffpartialdruck im peripheren Kapillarblut. Erklärlich sei der Abfall des Sauerstoffpartialdrucks unter Belastung als Folge der medikamentösen Therapie mit MTX, das entzündliche Veränderungen in den Lungenbläschen auslösen könne. Der Gasaustausch in den Lungenbläschen sei gestört, sodass nicht genügend Sauerstoff in das Blut übertreten könne, was sich in klassischer Weise - wie auch hier - unter Belastung bemerkbar mache. Hinzu komme die Adipositas mit Zwerchfellhochstand und dadurch eingeschränktem Raum für die Lungenatmung. Soweit der Beklagte einwendet, dass lediglich eine chronische Bronchitis in einer leichten Form mit einem Einzel-GdB von 10 vorliege, berücksichtigt dies nicht ausreichend die von Dr. A festgestellte und im Gutachten ausführlich diskutierte und dokumentierte Sauerstoffuntersättigung des Blutes.

Darüber hinaus besteht bei der Klägerin eine Herz- und Kreislauffunktionsstörung, die gemäß Teil B Ziff. 9.1 VMG unter Berücksichtigung der vorliegenden Fettsucht mit einem Grad der Behinderung von 20 zu bewerten ist. Gemäß Teil B Ziff. 9.1.1 Nr. 2 VMG ist eine Einschränkung der Herzleistung bei Leistungsbeeinträchtigungen bei mittelschwerer Belastung mit einem Grad der Behinderung von 20-40 zu bewerten. Dr. A führt aus, dass die von der Klägerin selbst gemessenen Blutdruckwerte im Durchschnitt bei 130-150/80-100 mmHg liegen. Mit dem Sachverständigen hat die Kammer keinen Anlass, an diesen Angaben der Klägerin zu zweifeln. Dr. A führt aus, dass im EKG-Kurvenverlauf keine krankhaften Veränderungen auffielen. Echokardiografisch ergaben sich, soweit bei eingeschränkter Beschallbarkeit für den Sachverständigen beurteilbar, eine leichte Vergrößerung des linken Vorhofs sowie eine Verdickung des Septums. Eine Belastungsergometrie wurde bei 75 Watt wegen peripherer Muskelerschöpfung, Schmerzen am ganzen Körper und Dyspnoe beendet. Der Sachverständige weist darauf hin, dass die Beurteilung des Einzel-GdB schwierig sei in Abgrenzung zu den Folgen des abfallenden Sauerstoffpartialdrucks im Blut. Es sei davon auszugehen, dass hier überwiegend eine pulmonale Ursache vorliege.

Weiter leidet die Klägerin an einer chronischen Schmerzstörung, die gemäß Teil B Ziff. 3.7 VMG mit einem Grad der Behinderung von 20 zu bewerten ist. Der Sachverständige H beschreibt hier auf nervenfachärztlichem Gebiet eine undifferenzierte Somatisierungsstörung und eine Angst- und depressive Störung gemischt. Unter Berücksichtigung des Tagesablaufs, der sozialen Aktivitäten und der Inanspruchnahme medizinischer Ressourcen kommt er zu dem Ergebnis, dass ein zumindest psychosomatisch überlagertes Schmerzsyndrom mit fibromyalgieformem Charakter sowie einer moderat ausgeprägten reaktiv-depressiven Beschwerdesymptomatik vorliegt, welches zu einer Beeinträchtigung der Erlebnisfähigkeit führt. Eine relevante Beeinträchtigung der Gestaltungsfähigkeit liegt nicht vor. Unter Berücksichtigung der auch im Rahmen der rheumatischen Erkrankung vorliegenden Schmerzsymptomatik und der schwierigen Abgrenzung schlägt der Sachverständige Dr. A nach interdisziplinärem Konsil mit dem Sachverständigen H hierfür überzeugend einen Grad der Behinderung von 20 vor.

Weiter besteht bei der Klägerin eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit Nervenreizungen, die mit einem Grad der Behinderung von 20 zu bewerten ist, wobei der Sachverständige Dr. A darauf hinweist, dass es sich um einen schwachen Wert handelt, eine Funktionsstörung der Speiseröhre und des Magens mit Verdauungsstörungen, die mit einem Grad der Behinderung von 10 zu bewerten ist, eine Funktionsstörung der Hüft- und Kniegelenke, die mit einem Grad der Behinderung von 10 zu bewerten ist, sowie eine Sensibilitätsminderung im Bereich des Ellennerven der rechten Hand ohne motorische Ausfallerscheinungen, die mit einem GdB von 10 zu bewerten ist.

Das Gesamtausmaß der bei der Klägerin vorliegenden Behinderung rechtfertigt nach alledem die Feststellung eines Grades der Behinderung von 50.

Nach § 69 Abs. 3 S. 1 SGB IX ist bei Vorliegen mehrerer Gesundheitsstörungen, die eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft verursachen, der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Gemäß Teil A Nr. 3 c) VMG ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung dabei in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelwert bedingt und dann im Hinblick auf eine weitere Funktionsbeeinträchtigung zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Eine Addition der Einzelwerte ist dabei nach Teil A Nr. 3 a) VMG nicht zulässig. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass gemäß Teil A Nr. 3 d) ee) VMG - von Ausnahmefällen abgesehen - leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen Grad der Behinderung von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen. Dies gilt selbst dann, wenn mehrere derartig leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen.

Im Vordergrund steht bei der Klägerin die entzündlich-rheumatische Gefäßerkrankung mit Muskelbeteiligung und immunmodulierender Therapie, die mit einem Grad der Behinderung von 30 zu bewerten ist. Zu berücksichtigen ist sodann die Lungenfunktionseinschränkung, die in einem engen Zusammenhang mit der rheumatischen Erkrankung steht, wahrscheinlich sogar Folge der medikamentösen Therapie ist und zu einer weiteren Zunahme der Gesamtbeeinträchtigung der Klägerin führt. Ebenso erhöht die seelische Störung die Gesamtbeeinträchtigung der Klägerin. Nicht zu einer weiteren Erhöhung der Gesamtbeeinträchtigung führt die Herz- und Kreislauffunktionsstörung; die Kammer geht hier davon aus, dass daraus keine Funktionseinschränkungen resultieren, die nicht bereits im Rahmen der Lungenfunktionseinschränkung berücksichtigt sind. Ebenso ergeben sich aus der Funktionseinschränkung der Wirbelsäule keine Funktionseinschränkungen, die nicht bereits im Rahmen der rheumatischen Erkrankung sowie der somatoformen Schmerzstörung berücksichtigt sind. Insgesamt hält die Kammer einen Gesamt-GdB von 50 in Anbetracht des Krankheitsbildes der Klägerin und der hieraus resultierenden Teilhabebeeinträchtigungen für angemessen. Die Kammer ist der Überzeugung, dass ein geringerer Gesamtgrad der Behinderung als 50 dem Krankheitsbild der Klägerin in seiner Gesamtheit nicht gerecht wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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