L 3 AS 2713/13 NZB

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 8 AS 795/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 2713/13 NZB
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

2. Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 19. April 2013 werden zurückgewiesen.

3. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe:

1. Die drei Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem im Tenor genannten Urteil des Sozialgerichts Heilbronn (SG) vom 19.04.2013 sind statthaft und auch sonst zulässig.

a) Die Berufungen gegen das genannte Urteil waren gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulassungsbedürftig.

Die drei Kläger sind weder einzeln noch insgesamt als Streitgenossen (hier als notwendige Streitgenossen nach § 74 SGG i.V.m. § 62 Zivilprozessordnung [ZPO], da sie in Bedarfsgemeinschaft auftreten) um wenigstens EUR 750,00 beschwert. Sie haben zusammen ausdrücklich - nur - eine Verurteilung des beklagten Jobcenters zur Zahlung von insgesamt weiteren EUR 165,08 für den Bewilligungsabschnitt vom 01.01. bis zum 30.06.2012 beantragt. Diese Summe liegt deutlich unter den notwendigen EUR 750,00. Aber die Grenze für eine zulassungsfreie Berufung ist auch dann nicht erreicht, wenn man statt des beantragten Betrags jene Summe zu Grunde legt, die die Kläger höchstens erstreiten könnten. Dieser Betrag liegt bei insgesamt EUR 360,00, nämlich jeweils zweimal EUR 30,00 für jeden der betroffenen Monate: Die Kläger tragen vor, auch die Einkünfte der minderjährigen Kläger zu 2 und 3 (Kindergeld bei beiden, außerdem Unterhalts[vorschuss]zahlungen und Wohngeld bei dem Kläger zu 2) müssten jeweils um die "Versicherungspauschale" von EUR 30,00 bereinigt werden, obwohl diese Kläger - entgegen § 6 Abs. 1 Nr. 2 der Arbeitslosengeld-II-/Sozialgeld-Verordnung (AlgII-V) - selbst keine berücksichtigungsfähigen Versicherun¬gen unterhielten. Würde man dieser Rechtsansicht folgen, könnten minderjährige Leistungsbezieher grundsätzlich jeweils um EUR 30,00 höhere Leistungen verlangen. Im konkreten Fall gilt dies zwar für den Kläger zu 2 nicht, weil dieser wegen seines höheren Eigeneinkommens selbst nach einer solchen weiteren Bereinigung seines Einkommens immer noch keinen Leistungsanspruch gegen den Beklagten hätte. Aber in diesem Fall wäre ein um EUR 30,00 niedrigerer Teil seines überschießendem Kindergeldes (vgl. hierzu § 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 Zweites Buch Sozialgesetzbuch [SGB II]) auf den Bedarf der Klägerin zu 1 als Mutter anzurechnen, sodass dann diese weitere EUR 30,00 im Monat verlangen könnte. Wegen der Berechnung im Einzelnen verweist der Senat auf die Ausführungen in dem Berichterstatterschreiben vom 04.09.2013.

Wie ausgeführt, betrifft das Verfahren auch nicht laufende Leistungen für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG), sondern nur solche für sechs Monate.

b) Das SG hat die Berufung nicht zugelassen. Dies ergibt sich deutlich aus den Ausführungen auf S. 11 des angegriffenen Urteils. Die Rechtsbehelfsbelehrung trifft demnach zu.

c) Die Beschwerden sind form- und fristgerecht erhoben worden.

d) Es sind auch alle drei Kläger beschwerdebefugt. Dies gilt auch für den Kläger zu 2. Auch dieser hatte höhere Leistungen begehrt und ist mit dem angegriffenen Urteil insoweit abgewiesen worden. Dass er diese höheren Ansprüche unter keinem Blickwinkel haben kann, ist keine Frage der Beschwer, sondern der Begründetheit seiner Klage.

2. Die Beschwerden sind aber nicht begründet.

a) Die Kläger haben als Verfahrensfehler des SG im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG gerügt, es sei nicht erkennbar, ob die ehrenamtlichen Richter an der Entscheidung über die - im erstinstanzlichen Verfahren "angeregte" - Zulassung der Berufung beteiligt gewesen seien. Dies wäre aber jedenfalls kein Verfahrensfehler, der im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG der Beurteilung in einem Berufungsverfahren unterläge, also ggfs. zu einer Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 SGG führen könnte. Entscheidungen eines Vordergerichts über die Zulassung eines Rechtsmittels können selbst nicht mit der Beschwerde gegen eben diese Nichtzulassung angefochten werden (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 144 Rn. 34a m.w.N.). Aus diesem Grund ist dieser Zulassungsgrund bereits nicht ausreichend geltend gemacht im Sinne des § 144 Abs. 2 Nr. 3 SGG. Ob der geltend gemachte Verfahrensfehler vorliegt, kann daher offen bleiben.

b) Die Rechtsfrage, die die Kläger hauptsächlich aufwerfen, hat auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.

aa) Grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne hat nur eine Rechtsfrage, die über den Einzelfall hinaus für eine Vielzahl Betroffener erheblich ist und deren Klärung daher im allgemeinen Interesse liegt (hierzu und zum Folgenden vgl. Leitherer, a.a.O., § 160 Rn. 6 ff.). Ferner muss diese noch oder erneut klärungsbedürftig sein, weil sie sich nicht ohne Weiteres aus dem anzuwendenden Recht heraus beantworten lässt und eine höchstrichterliche Entscheidung noch fehlt oder deren höchstrichterliche Klärung in Rechtsprechung und ggfs. rechtlicher Literatur mit substanziellen Einwänden angegriffen wird. Voraussetzung ist ferner, dass die Rechtsfrage in dem erstrebten Berufungsverfahren klärungsfähig wäre (vgl. Leitherer, a.a.O., Rn. 28). Klärungsfähig ist nur eine Frage, die das Berufungsgericht beantworten müsste, auf die es in einem Berufungsverfahren also ankäme.

bb) Die Kläger rügen mit ihrer Beschwerde nicht die Auslegung des § 6 Abs. 1 Nr. 2 AlgII-V. Diese Frage wäre auch offensichtlich nicht klärungsbedürftig. Der Wortlaut der Norm ist eindeutig: Von dem Einkommen Minderjähriger wird die Pauschale nur abgesetzt, wenn (und soweit) der oder die Minderjährige eine Versicherung unterhält. Diese Auslegung ist unbestritten.

cc) Die von den Klägern aufgeworfene Frage, ob § 6 Abs. 1 Nr. 2 AlgII-V die Grenzen seiner formellgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 13 Abs. 1 Nr. 3 SGB II überschreitet (vgl. Art. 80 Abs. 1 Grundgesetz [GG]) und außerdem den verfassungsrechtlichen Anforderungen (vor allem aus Art. 3 Abs. 1 GG) entspricht, ist nicht klärungsfähig.

Klärungsfähigkeit fehlt unter anderem, wenn die Antwort auf die aufgeworfene Rechtsfrage in einem Berufungsverfahren offen bleiben kann, ohne dass sich an der Entscheidung des Berufungsgerichts etwas ändert. In diesem Zusammenhang kann z. B. auch die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit einer Norm relevant sein, dies allerdings nur dann, wenn bei einer Verfassungswidrigkeit eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung zu treffen wäre, z. B. eine Vorlage der aufgeworfenen Frage an ein Verfassungsgericht mit der Möglichkeit, dass der Betroffene nach einer Beanstandung der Norm von einer Neuregelung durch den Normgeber profitieren würde (vgl. Leitherer, a.a.O., § 160 Rn. 9, 9a). Dies ist z. B. der Fall, wenn ein Kläger die Verfassungsmäßigkeit eines formellen Bundesgesetzes rügt. Könnte er das Berufungsgericht von dieser Ansicht überzeugen, so würde seine Berufung nicht zurückgewiesen, sondern das Gericht müsste gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG), § 80 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) das Bundesverfassungsgericht anrufen. Rügt dagegen ein Kläger - nur - die Verfassungs- oder die Rechtmäßigkeit einer Rechtsverordnung, darf und muss das Berufungsgericht diese Frage abschließend selbst klären und ggfs. die fragliche Vorschrift als nichtig verwerfen. Es müsste dann auf Grund des übrigen Rechts, ggfs. auf Grund des formellen Gesetzes, das die Rechtsverordnung konkretisieren sollte, entscheiden. Ergäbe sich in diesem Fall keine Chance auf eine Stattgabe für die Berufung, so ist die Frage nach der Wirksamkeit der fraglichen Rechtsverordnung nicht klärungsfähig.

Würde der Senat in einem Berufungsverfahren § 6 Abs. 1 Nr. 2 AlgII-V wegen einer Überschreitung seiner Ermächtigungsgrundlage für rechtswidrig oder aber wegen eines Verfassungsverstoßes für nichtig halten, wäre die Norm als nichtig außer Anwendung zu lassen. In diesem Fall würde sich die Absetzbarkeit von Aufwendungen von dem anzurechnenden Einkommen eines Leistungsberechtigten allein nach dem formellen Gesetz richten. Dieses lässt aber in § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II ausschließlich die Absetzung tatsächlich angefallener "Beiträge" zu. In diesem Fall wäre bei den minderjährigen Klägern zu 2 und 3 weiterhin keine "Pauschale" von EUR 30,00 abzusetzen, da diese Kläger keine Versicherungen als Versicherungsnehmer halten. Außerdem würde sich ggfs. die Klägerin zu 1 sogar schlechter stellen als jetzt, denn bei ihrem Einkommen (nämlich dem Kindergeldüberhang vom Kläger zu 2) hat der Beklagte - nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 AlgII-V - eine Pauschale von EUR 30,00 berücksichtigt. In diesem Ergebnis zeigt sich, dass eine erstrebte Begünstigung, die das einfache Recht nicht vorsieht, nicht erreicht werden kann, auch wenn eine Norm, welche diese Begünstigung ausschließt, unwirksam ist. Typische Folge des Verstoßes einer Norm gegen Art. 3 Abs. 1 GG ist, dass der Gesetzgeber diesen Verstoß nicht nur beseitigen kann, indem er die fragliche Begünstigung auch den bisher Benachteiligten einräumt, sondern ebenso gut, indem er die Begünstigung insgesamt streicht. Auch dadurch ist der Gleichheitsverstoß beseitigt.

Bei dem Kläger zu 2 kommt noch hinzu, dass für ihn eine Berufung selbst dann keine Erfolgsaussichten hätte, wenn es eine positive Anspruchsgrundlage gäbe, wonach auch bei Minderjährigen die Versicherungspauschale ohne Rücksicht auf vorhandene Versicherungen abzusetzen wäre. Er könnte, wie schon ausgeführt, auch in diesem Fall keine höheren Leistungen vom Beklagten verlangen: Sein Bedarf in dem streitigen Zeitraum betrug monatlich EUR 334,- (EUR 219,- Regelbedarf, EUR 115,- KdU). Abzüglich seines echten Eigeneinkommens (Unterhalt bzw. Unterhaltsvorschuss, Wohngeld) waren EUR 121,- ungedeckt. Hierauf wurden bislang entsprechend nur EUR 121,00 von seinem EUR 184,00 umfassenden Kindergeld angerechnet (§ 11 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB II). Zöge man jetzt von diesem Kindergeld eine "Versicherungspauschale" von EUR 30,00 ab, blieben noch EUR 154,- anrechenbares Kindergeld übrig. Dieser Betrag würde den Restbedarf immer noch decken. Der Kläger zu 2 gehörte weiterhin entsprechend (vgl. § 7 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 SGB II) nicht zur Bedarfsgemeinschaft mit den übrigen Klägern, sodass für ihn auch die Frage, wie hoch das horizontal zu verteilende Einkommen der Klägerin zu 1 (§ 9 Abs. 2 Sätze 2, 3 SGB II) ist, irrelevant wäre.

dd) Nicht aufgeworfen haben die Kläger die Frage, ob § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II selbst grundgesetzwidrig ist, ob also der Gesetzgeber von Verfassungs wegen gehalten gewesen wäre, die Absetzung einer Pauschale von EUR 30,00 immer zuzulassen, auch wenn tatsächlich gar keine Aufwendungen für Versicherungen anfallen. Diese Frage wäre zwar klärungsfähig, weil in diesem Fall eine Vorlage an das BVerfG in Betracht käme. Aber sie ist nicht klärungsbedürftig, sondern offensichtlich zu verneinen. Einen Gleichheitsverstoß kann man § 11b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II sicher nicht vorwerfen, nachdem hiernach ja bei jedem Leistungsberechtigten - auch bei volljährigen - nur tatsächliche Aufwendungen abzusetzen wären. Und auch ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3, Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG ist auszuschließen: Das Grundrecht des Einzelnen auf Leistungen der Gemeinschaft zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz verlangt sicher nicht, dass bei der Berechnung dieser Leistungen Aufwendungen berücksichtigt werden, die der Einzelne gar nicht hat.

c) Eine Divergenz nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG haben die Kläger nicht gerügt. Sie ist auch nicht ersichtlich. Das SG hat in dem angegriffenen Urteil zutreffend darauf hingewiesen, dass das Bundessozialgericht (BSG) die Vorgängervorschrift zu § 6 Abs. 1 AlgII-V für rechtmäßig erklärt (Urt. v. 18.06.2008, B 14 AS 55/07 R) und die jetzt geltende Regelung ebenfalls unbeanstandet gelassen hat (Urt. v 16.02.2012, B 4 AS 89/11 R). Abweichende Entscheidungen des Landessozialgerichts Baden-Württemberg sind nicht bekannt. Dass ggfs. einzelne Sozialgerichte eine andere Ansicht vertreten, begründet keine Divergenz, wie sie § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG verlangt.

3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

4. Nach dem Gesagten war auch der Antrag der Kläger auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) und Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten nach § 73a Abs. SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordung (ZPO) abzulehnen. Den Nichtzulassungsbeschwerden fehlte eine hinreichende Erfolgsaussichten bereits bei Entscheidungsreife der Anträge auf PKH.

5. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

6. Mit der letzten Zustellung dieses Beschlusses an einen Beteiligten wird das angegriffene Urteil des SG rechtskräftig, § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved