L 3 SB 2540/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SB 5693/09
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 2540/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Mai 2013 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

3. Die Kosten des auf Antrag der Klägerin erhobenen Gutachtens von Dr. D. vom 17. Dezember 2013 einschließlich der ergänzenden Stellungnahme vom 15. April 2014 werden nicht auf die Staatskasse übernommen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung (behördliche Feststellung) eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 statt des zuerkannten von 40.

Die Klägerin ist am 08.04.1944 geboren und wohnt im Inland. Mit Bescheid vom 14.01.1998 hatte das damals zuständige Versorgungsamt Freiburg bei der Klägerin ab dem 01.03.1997 einen GdB von 20 zuerkannt. Dem lag ein Wirbelsäulenleiden mit Nervenwurzelreizungen zu Grunde. Ein für die Schulter möglicherweise schädigendes Ereignis am 03.03.2004 erkannte die zuständige Unfallkasse nicht als Arbeitsunfall an (Bescheid vom 26.01.2005 ). Neufeststellungsanträge der Klägerin wegen ihres GdB in den Jahren 2001, 2004 und 2006 blieben erfolglos, jedoch wurde der Tenor um ein Schulter-Arm-Syndrom erweitert.

Am 14.02.2008 beantragte die Klägerin bei dem nunmehr zuständigen Landrats¬amt des Ortenaukreises (LRA) erneut Neufeststellung des GdB sowie Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr). Sie machte geltend, es sei eine somatoforme Schmerzstörung hinzugekommen und ihre übrigen Erkrankungen hätten sich verschlimmert. Das LRA zog den Befundschein des Neurochirurgen Dr. Berghorn vom 26.02.2008 bei, dieser legte Arztbriefe des Psychiaters Dr. Wark vom 17.06.2005 und der Psychotherapeutin Dr. Stopp vom 26.06.2008 bei. Unter Auswertung dieser Unterlagen schlug Versorgungsärztin Dr. König in ihrer Stellungnahme vom 03.03.2009 vor, für die Wirbelsäulenschäden und das Schulter-Arm-Syndrom mit Arthrose rechtes Schultergelenk nunmehr einen Einzel-GdB von 30 und neu für eine Depression und psychovegetative Erschöpfung einen Einzel-GdB von 20 anzunehmen; der Gesamt-GdB betrage 40. Diesen GdB stellte sodann das LRA mit dem angegriffenen Bescheid vom 04.03.2009 seit dem 18.02.2008 fest und lehnte gleichzeitig die Zuerkennung von Merkzeichen.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin nur noch einen höheren GdB geltend. Die bei ihr vorliegende somatoforme Störung habe sich nach 51 psychotherapeutischen Sitzungen nicht gebessert. Das Wirbelsäulenleiden sei sehr umfangreich, infolge der dort verursachten Schmerzen habe sich auch eine Schmerzmittelabhängigkeit entwickelt. Gestützt auf die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Meyer vom 09.06.2009, der an der bisherigen Bewertung festhielt, wies der Beklagte sodann den Widerspruch mit Bescheid vom 06.10.2009 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 11.11.2009 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Sie hat behauptet, der Widerspruchsbescheid sei ihrem Verfahrensbevollmächtigten am 12.10.2009 zugegangen. Sie hat vorgetragen, ihre Funktionsbeeinträchtigungen insbesondere auf psychischem Gebiet müssten höher bewertet werden.

Das SG hat zunächst die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Dr. Stopp hat unter dem 24.02.2010 mitgeteilt, seit 2009 seien 80 tiefenpsychologische Sitzungen durchgeführt worden, diagnostisch bestehe eine ausgeprägte Somatisierungsstörung. Dr. Berghorn hat mit Schreiben vom 20.12.2010 bekundet, es beständen mittelgradige bis schwere rezidivierende Lumbalsyndrome mit Lumboischialgien bei objektivierbaren Veränderungen der Lendenwirbelsäule (LWS). Insoweit müsse ein GdB von 30, im Hinblick auf den chronifizierten Schmerz ggfs. auch von 40 angenommen werden.

Von Amts wegen hat das SG sodann das interdisziplinäre (orthopädisch-psychiatrische) Gutachten von Prof. Dr. C. vom 08.10.2012 über die Klägerin erhoben. Dieser Sachverständige hat bekundet, bei der Klägerin beständen degenerative Bandscheibenschäden der LWS an den Segmenten L3/4, L4/5 und L5/S1 mit Radikulopathie, Osteochondrose und Spondylarthrose, eine degenerative Rotatorenmanschetten-Ruptur bei AC-Gelenksarthrose der rechten Schulter, ferner eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung und eine Dysthymia vor dem Hintergrund einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeit. Die objektivierten somatischen Befunde erklärten die Schmerzen und Einschränkungen im Alltag nicht vollständig. Die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule mit mittelgradigen Funktionseinbußen in einem Abschnitt bedingten einen GdB von 20, die Schäden am Schultergelenk einen GdB von 10 und die Funktionsstörungen auf psychosomatischem Fachgebiet einen GdB von 30. Insgesamt könne ein GdB von 40 angenommen werden.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat das SG dann das psychiatrisch-schmerzpsychologische Gutachten bei Prof. Dr. A. vom 24.03.2013 eingeholt. Dieser Sachverständige hat bekundet, auf seinem Fachgebiet beständen ein chronifiziertes Schmerzsyndrom (Gerbershagen Stufe 2), eine depressive Symptomatik im Sinne einer Dysthymia sowie eine leichte kognitive Störung unklarer Genese. Die im Vordergrund stehenden orthopädischen Beeinträchtigungen erklärten das Schmerzsyndrom. Die depressive Störung, vermischt mit Ängsten, stehe nicht im Vordergrund. Die als mittelschwer zu bewertenden Einschränkungen auf psychiatrischem Fachgebiet bedingten einen GdB von 30, die Beeinträchtigungen der Schultergelenke einen GdB von 20 und die leichten bis mittelschweren Schäden an einem Abschnitt der Wirbelsäule, der LWS, einen GdB von 10 bis 20. Der Gesamt-GdB sei mit 50 anzunehmen, weil das psychiatrisch-schmerzpsychologische Fachgebiet, auch wegen der leichten kognitiven Einschränkung, höher zu bewerten sei. Prof. Dr. A. hat mit seinem Gutachten ärztliche Unterlagen der Klägerin zur Akte gereicht, darunter den Arztbrief der Phlebologin Dr. Wiesenberg vom 25.02.2013 (Stammvarikose, Phlebolymphödem bds. ).

Während sich die Klägerin den Vorschlägen von Prof. Dr. A. angeschlossen hat, ist ihnen der Beklagte unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. B. vom 10.04.2013 entgegengetreten. Er hat ausgeführt, nach den Feststellungen von Prof. Dr. C. sei der bisher angenommene Einzel-GdB von 30 für die Wirbelsäulenproblematik zu hoch angesetzt. Im Gegenzug könne der Einzel-GdB für die psychische Erkrankung entsprechend den Vorschlägen beider Sachverständiger auf 30 angehoben werden. Der Gesamt-GdB verbleibe bei 40.

Mit Gerichtsbescheid vom 15.05.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat darin die rechtlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung eines GdB und die medizinischen Vorgaben für die Bewertung einzelner Funktionseinbußen dargelegt. Bei der Klägerin, so das SG, sei ein GdB von 40 anzunehmen. Allerdings könnten die Beeinträchtigungen an der LWS nur mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet werden. Es beständen Rückenschmerzen und leichtgradige Bewegungseinschränkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt. Prof. Dr. A. habe insoweit sogar nur einen GdB von 10 bis 20 vorgeschlagen. An der Schulter beständen ebenfalls nur leichtgradige Beeinträchtigungen, die Klägerin habe insoweit auch keine fachorthopädische Behandlung in Anspruch genommen. Hier könne ein GdB von 10 angenommen werden. Auf psychiatrischem Fachgebiet sei der GdB, Prof. Dr. A. und Prof. Dr. C. folgend, mit 30 anzunehmen. Die beiden Gutachter beschrieben die Erkrankung zwar etwas unterschiedlich, im Wesentlichen handle es sich jedoch um eine somatoforme Störung mit depressiven Elementen. Aus diesen Einzel-GdB sei sodann ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.

Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihrem Prozessbevollmächtigten am 21.05.2013 zugestellt worden ist, hat die Klägerin am 19.06.2013 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Sie legt ärztliche Unterlagen unter anderem zu Beeinträchtigungen des rechten Kniegelenks vor. Im Übrigen hält sie an ihrer Einschätzung fest, der Gesamt-GdB betrage 50.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 15. Mai 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids vom 04. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06. Oktober 2009 zu verurteilen, ihr einen Grad der Behinderung von 50 zuzuerkennen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Gerichtsbescheid und seine Entscheidungen.

Auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin hat der Senat das fachorthopädische Gutachten vom 17.12.2013 bei Dr. D. erhoben. Dieser Sachverständige bekundet, bei der Klägerin lägen unter anderem vor: ein chronisches Cervikalsyndrom bei Spondyl-/Uncarthrose und Osteochondrose der HWS bei Bandscheibenschäden C5/6 rechts, ein chronisches Lumbalsyndrom bei degenerativem Verschleiß und spinaler Stenose bei L3/4 und L4/5, an beiden Schultern jeweils eine Rotatorenmanschettenruptur mit subacromialem Impingementsyndrom, Knorpelschäden am rechten Knie, eine Coxarthrose beidseits Stadium II bis III, Hallux valgus bds., Adipositas, eine Stammvarikosis beider Beine, ein chronisches Schmerzsyndrom und eine psychosomatische Erkrankung. Die somatischen Schäden erklärten die subjektiven vorgetragenen Beeinträchtigungen nicht vollständig. Es beständen Bewegungseinschränkungen an Rumpf, Schultern und Beinen sowie Schmerzhaftigkeiten. Die Verschleißerkrankungen der Wirbelsäule bedingten einen GdB von 30, die Verschleißerkrankungen beider Schultergelenke einen GdB von 20, die Erkrankung des rechten Kniegelenks einen GdB von 10. Unter Einbeziehung des GdB von 30 für das chronische Schmerzsyndrom und die somatisierte Depression sei der Gesamt-GdB auf 50 zu schätzen. Abweichend von den Vorgutachten seien nunmehr die Schäden in einem zweiten Wirbelsäulenabschnitt sowie an der anderen Schulter berücksichtigt worden.

Während sich die Klägerin diesen Feststellungen und Vorschlägen Dr. D.s angeschlossen hat, ist ihnen der Beklagte entgegengetreten. Er hat hierzu die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. Reiniger vom 17.03.2014 vorgelegt. Danach könne den GdB-Bewertungen für die Wirbelsäule und die Schultergelenke nicht gefolgt werden. Die Restbeweglichkeiten, die auch Dr. D. gemessen habe, lägen deutlich besser als es für die angenommenen GdB-Werte notwendig sei. Die Messmethodik sei auch bei somatoformen Schmerzstörungen nur eingeschränkt verwertbar. Es seien auch die Überschneidungen durch das organisch und somatoform bedingte Schmerzsyndrom zu beachten. Die bildgebend – zutreffend – festgestellten degenerativen Verschleißerscheinungen stützten zwar die Einschätzungen, rechtfertigten allein jedoch nicht die Annahme eines GdB.

Zu diesen Einwänden hat Dr. D. unter dem 15.04.2014 ergänzend Stellung genommen. Ihm – dem Sachverständigen – sei die Befunddifferenz gegenüber Prof. Dr. C. durchaus aufgefallen. Jener habe aber möglicherweise die Beweglichkeiten nur passiv gemessen, während bei der jetzigen Untersuchung der Klägerin eine aktive Eigenprüfung mit nachfolgender passiver Testung durchgeführt worden sei und die nunmehrigen, schlechteren Werte ergeben habe. Auch die Spreizfähigkeit der Schultergelenke sei erheblich eingeschränkt. Sowohl an den Schultern als auch an der Wirbelsäule müssten auch die Schmerzhaftigkeiten und die Kraftminderungen sowie ebenfalls die bildgebend nachgewiesenen degenerativen Veränderungen berücksichtigt werden.

Einen weiteren Antrag auf Einholung eines – neurologischen – Wahlgutachtens hat die Klägerin nicht aufrechterhalten.

Die Klägerin hat sich mit Schriftsatz vom 10.10.2014, der Beklagte unter dem 07.10.2014 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der Sachlage im Einzelnen und der weiteren Ergebnisse der Beweisaufnahme wird auf die Akten des LRA und die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

1. Die Berufung der Klägerin, über die der Senat nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) im Einvernehmen mit den Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG) auf Zuerkennung eines GdB von 50 und damit der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch abgewiesen. Ein solcher Anspruch steht der Klägerin nicht zu.

a) Die rechtlichen Voraussetzungen der Ansprüche auf Zuerkennung eines GdB nach § 69 Abs. 1 Satz 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt, ebenso die besonderen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Neufeststellung eines bereits bindend festgestellten GdB (§ 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGB X]. Darauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG). Das Gleiche gilt für die konkreten, insbesondere medizinischen Voraussetzungen an die Einzel-GdB für bestimmte Behinderungen und an die Bildung des Gesamt-GdB nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV), die nach § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX i.V.m. § 30 Abs. 16 Bundesversorgungsgesetz (BVG) erlassen worden ist. Allerdings gelten die VG erst seit dem 01.01.2009 und damit nicht für den gesamten hier streitigen Zeitraum ab der Antragstellung am 18.02.2008 bis laufend. Für die Zeit zuvor wendet die Rechtsprechung der Sozialgerichte zur Bestimmung der unbestimmten gesetzlichen Begriffe aus Gründen der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung die früheren "Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im Schwerbehindertenrecht und im sozialen Entschädigungsrecht" (AHP) an, die sich aber in den hier maßgeblichen Regelungen (Fassung 2008) nicht von den VG unterscheiden.

b) Hiernach kann für das Funktionssystem Rumpf (vgl. zu den einzelnen Funktionssystemen Teil A Nr. 2 lit. e Satz 2 VG bzw. Teil A Nr. 18 Abs. 4 AHP 2008), also insbesondere für die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule, lediglich ein GdB von 20 angenommen werden.

aa) Nach Teil B Nr. 18.9 VG (Teil A Nr. 26.18 AHP 2008) bedingen Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) einen GdB von 10, solche mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) einen GdB von 20, solche mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) einen GdB von 30 und Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten einen GdB von 30 bis 40. Maßstab für die Beurteilung mit einem GdB sind – wie im Recht der Behinderungen allgemein – allein die Funktionseinbußen, also die aus einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Schädigung folgenden Nachteile des Betroffenen für das Leben in der Gemeinschaft. Für die Wirbelsäule – wie üblicherweise für orthopädische Beeinträchtigungen – sind dies im Wesentlichen die restlichen Beweglichkeitsmaße und Kraftminderungen, aber gleichermaßen auch Schmerzsyndrome, wobei dauerhafte Schmerzen durch Nervenwurzelreizungen oder pseudoradikuläre Auswirkungen ebenso wie – rezidivierende – akute Wirbelsäulensyndrome berücksichtigt werden. Auf die Berücksichtigung auch von Schmerzhaftigkeiten hatte der Sachverständige Dr. D. vor allem in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15.04.2014 zutreffend hingewiesen.

bb) Der Senat kann sich nicht davon überzeugen, dass bei der Klägerin mittelgradige Funktionseinbußen in zwei Wirbelsäulenabschnitten bestehen, wie es für einen GdB von 30 vonnöten wäre. Es sind zwar zwei Abschnitte betroffen, auch sind die Einbußen im Bereich der LWS womöglich etwas stärker als jene an der HWS, jedoch kann nicht durchgängig Mittelgradigkeit angenommen werden:

Bei dieser Einschätzung berücksichtigt der Senat zunächst das Gutachten von Dr. D. vom 17.12.2013, soweit darin die relevanten Einbußen, vor allem Beweglichkeitseinschränkungen, ermittelt worden sind. Es gibt keinen Grund, an seinen Messungen zu zweifeln, zumal er nach seiner ergänzenden Stellungnahme sowohl die aktive als auch die passive Beweglichkeit gemessen hat. Allerdings hat der Wahlgutachter Dr. D. die Beweglichkeitsmaße nicht umfassend ermittelt bzw. genannt, er hat z.B. keine vollständig ausgefüllten Messblätter mit den nach der Neutral-Null-Methode ermittelten Werten beigefügt. Es ist daher gerechtfertigt, dort auf die zuletzt ermittelten Messwerte aus dem Gutachten von Prof. Dr. C. zurückzugreifen, wo das Gutachten Dr. D. unvollständig ist, denn eine wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zwischen den beiden Begutachtungen hat die Klägerin nicht dargelegt, ein solcher ist auch nicht ersichtlich.

Für die HWS hat Dr. D. angegeben, es beständen keine Fehlstellungen oder Bewegungseinschränkungen, es sei aber das Gelenkspiel der Wirbelgelenke vom Segment C3 abwärts deutlich reduziert und reproduzierbar schmerzhaft. Gemessen hat er eine Rotation von links-rechts von 55/0/35° bei einem Normwert von mindestens 60/0/60° (alle Normwerte nach den Messblättern der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung [DGUV]), also eine leichtgradige Einschränkung. Die Seitneigung war mit 30/0/30° uneingeschränkt, ebenso die Vorwärtsneigung, für die Dr. D. allerdings nur den restlichen Kinn-Sternum-Abstand von 0 cm angegeben hat. Die Rückwärtsneigung war mit 20° (40°) merklicher eingeschränkt, vielleicht wegen der diagnostizierten Verkürzung der vorderen Halsmuskulatur. Ferner bestanden Druckschmerzhaftigkeiten und Muskelverspannungen am Nacken, die allerdings, da sie belastungsabhängig sind, ebenfalls keine mittelgradige Einbuße bedingen können. Nachdem Dr. D. im Übrigen keine Störungen der Motorik und keine Nervenwurzelreizungen in Richtung der Arme hat feststellen können, kann für die HWS von insgesamt leichtgradigen Funktionseinbußen gesprochen werden.

Die LWS der Klägerin war etwas stärker beeinträchtigt. In diesem Bereich hat Dr. D., gestützt auf das MRT vom 25.10.2013 (S. 12 Gutachten) eine Verformung, nämlich eine Linksskoliose mit einem Cobb-Winkel von knapp 15°, ermittelt. Eine solche Verformung mit einem Cobb-Winkel von mehr als 10° ist zwar nicht per se behandlungsbedürftig, kann aber als pathologisch eingestuft werden. Als Beeinträchtigungen hat der Sachverständige hier wiederum eine Druckschmerzhaftigkeit der Muskulatur gefunden, ferner eine Seitneigung von 20/0/20° (30-40/0/30-40°) und eine – uneingeschränkte – Rotation von 45/0/45°. Die Vor- und Rückwärtsneigung hat Dr. D. in Gradzahlen angegeben und nicht das Schober’sche oder Ott’sche Zeichen ermittelt, auch hier scheint es aber keine erheblichen Einschränkungen gegeben zu haben. Dafür hat der Sachverständige hier radikuläre Beeinträchtigungen, nämlich Einschränkungen der Berührungsempfindlichkeit mehrerer Zehen, ermittelt, aber keine motorischen Auffälligkeiten.

Vor diesem Hintergrund kann der Senat nur leichtgradige Beeinträchtigungen in einem und allenfalls knapp mittelgradige Funktionseinbußen in einem anderen Wirbelsäulenabschnitt annehmen, sodass es insgesamt bei einem GdB von 20 für dieses Funktionssystem verbleibt.

c) An den oberen Gliedmaßen bestehen bei der Klägerin keine GdB-Werte von mehr als 10. Nichts anderes ergibt sich aus dem Gutachten des Dr. D ... Insbesondere war die Beweglichkeit keines der Schultergelenke auf 90° oder weniger eingeschränkt, sodass nach Teil B Nr. 18.13 VG (Teil A Nr. 26.18 AHP 2008) kein GdB von 20 angenommen werden kann: Dr. D. hat die aktiv ausgeführte Elevation (Armhebung) mit rechts 130° und links 120° gemessen, sodass schon ein GdB von 10 nur unter starker Berücksichtigung der etwas stärkeren Einschränkung der Abduktion (Abspreizen) auf rechts 90° und links 80° und der gemessenen Kraftminderung angenommen werden kann. Schürzen- und Nackengriff waren vollständig möglich. Trotz der beidseitigen Rotatorenmanschettenrupturen waren Instabilitäten in den Schultergelenken nicht festzustellen.

d) Für das Funktionssystem "untere Gliedmaßen" kann jedenfalls kein GdB von mehr als 10 angenommen werden. Auch Dr. D. hat nur einen GdB von 10 vorgeschlagen. Seine Feststellungen, nämlich ein Druck- und Anspannungsschmerz mit schmerzhaftem Knacken bei einer Beugung des rechten Kniegelenks über 40°, rechtfertigen jedenfalls keinen höheren GdB.

e) Die von Dr. Wiesenberg zwischenzeitlich festgestellte Varikosis der Beine ist im weiteren Verlauf des Verfahrens nicht wieder festgestellt worden, sodass davon auszugehen ist, dass sie ausgeheilt ist bzw. jedenfalls keine mehr als sechs Monate dauernden Funktionsbeeinträchtigungen und damit keine Behinderung bedingt hat.

f) Die von der Klägerin in der Berufungsbegründung behauptete Medikamentenabhängigkeit hat sich nicht bestätigt. Nach den gegenüber Prof. Dr. A. gemachten Angaben hatte die Klägerin das Schmerzmittel Tramadol AL 50 noch mit zwei halben Tabletten täglich eingenommen, Prof. Dr. A. hat dies als "moderate Dosierung" bezeichnet (S. 5 GA). Bei der Untersuchung bei Dr. D. hat die Klägerin dann angegeben, sie nehme jenes Schmerzmittel nur noch "bei Bedarf" (S. 6 GA), sodass von einer Besserung auszugehen ist.

g) Das Funktionssystem "Psyche einschließlich Gehirn" bewertet der Senat mit einem GdB von höchstens 30.

Hierbei handelt es sich bereits um einen GdB-Wert für stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) aus den Bewertungen für Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen aus Teil B Nr. 3.7 VG (Teil A Nr. 26.3 AHP 2008). Nach diesen Vorgaben setzt ein GdB von wenigstens 50 dagegen eine schwere Störung (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit bereits mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten voraus.

Bei dieser Beurteilung berücksichtigt der Senat die Feststellungen und Vorschläge des Wahlgutachters Prof. Dr. A., der die Klägerin auch auf psychiatrischem Gebiet begutachtet hat. Danach besteht bei ihr neben einer somatoformen Schmerzstörung eine depressive Symptomatik im Sinne einer Dysthymia nach Nr. F34.1 der ICD-10, der Internationalen Klassifikation der Krankheiten ( ) der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Diese Diagnosen stimmen im Wesentlichen mit der Einschätzung der behandelnden Psychotherapeutin Dr. Stopp aus ihrer Zeugenaussage vom 24.02.2010 (Somatisierungsstörung, eingeschränkte depressiv wirkende emotionale Schwingungsfähigkeit) und der Diagnose des Amtsgutachters Prof. Dr. C. in dem interdisziplinären Gutachten vom 08.10.2012 (somatoforme Schmerzstörung, Dysthymia) überein.

Aus dieser Erkrankung folgen bei der Klägerin Funktionseinbußen, die jedenfalls keinen GdB höher als 30 bedingen können. Zunächst ist die Diagnose selbst nicht gravierend. Bei einer Dysthymia handelt es sich hiernach um eine chronische, wenigstens mehrere Jahre andauernde depressive Verstimmung, die weder schwer noch hinsichtlich einzelner Episoden anhaltend genug ist, um die Kriterien einer schweren, mittelgradigen oder leichten rezidivierenden depressiven Störung (F33.-) zu erfüllen. Ferner schränkt diese Erkrankung die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft allenfalls mittelgradig ein. Prof. Dr. A. hat auf psychischer Ebene leichte Störungen der Konzentration und der Merkfähigkeit gefunden, die er allerdings diagnostisch nicht zwingend auf die depressive Erkrankung zurückgeführt hat. Er hat die Klägerin als antriebslos beschrieben. Im Vordergrund steht allerdings die physische Leidensdimension. Die Klägerin klagt über so intensive und dauerhafte, von den körperlichen Einbußen losgelöste Schmerzen, dass die Behandler und die Sachverständigen gesondert eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert haben. Dem folgt der Senat in Grenzen, wenngleich z.B. eine adäquate Schmerzbehandlung nicht (mehr) stattfindet, nachdem die Klägerin zumindest bei der Begutachtung durch Dr. D. angegeben hat, Tramadol nur noch bei Bedarf zu nehmen. Auch die soziale Teilhabe der Klägerin ist eingeschränkt. Kontakte bestehen nur zu einem der Kinder, nämlich der in der Nähe lebenden Tochter. Von einem Freundeskreis oder Hobbies hat die Klägerin nicht berichtet. Der Alltag ist mit der anscheinend nur teilweise leistbaren Versorgung des eigenen Haushalts und regelmäßigen Arztbesuchen ausgefüllt.

Ebenso wie Prof. Dr. A. und zuvor schon Prof. Dr. C. nimmt der Senat insoweit eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit an, die allerdings noch nicht an soziale Anpassungsstörungen heranreicht. Dafür ist ein GdB von 30 vertretbar. Auch Dr. D. hatte in dem orthopädischen Wahlgutachten vom 17.12.2013 – gestützt auf seine psychosomatische Zusatzqualifikation (S. 21 GA) – diesen GdB vorgeschlagen.

h) Ausgehend von den genannten Einzel-GdB von 30 auf psychiatrischem Gebiet und 20 für das Funktionssystem Rumpf kann ein höherer Gesamt-GdB als 40 nicht gebildet werden. Hierbei berücksichtigt der Senat, dass beide GdB maßgeblich durch die Schmerzhaftigkeiten bedingt sind, während die Beweglichkeit der Wirbelsäule wenig eingeschränkt ist und die soziale und psychische Leidensdimensionen der psychiatrischen Erkrankung weniger ausgeprägt ist. Die Einbußen überlappen sich daher stark (vgl. Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe cc VG), sodass es bei der Grundregelung aus Teil A Nr. 3 lit. c VG verbleibt und der höchste Einzel-GdB unter Einbeziehung des weiteren GdB um 10 Punkte zu erhöhen ist. Der weitere GdB von jeweils bis zu 10 für die unteren und oberen Gliedmaßen bleibt hierbei unberücksichtigt (Teil A Nr. 3 lit. d Doppelbuchstabe ee Satz 1 VG).

2. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG. Die Kosten des nach § 109 Abs. 1 SGG erhobenen Gutachtens von Dr. D. konnten nicht auf die Staatskasse übernommen werden. Jenes Gutachten hat den Rechtsstreit nicht wesentlich gefördert. Dr. D. hat zwar die Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor allem der beiden Schultergelenke genauer beschrieben als es die behandelnden Ärzte getan hatten. Aber zu einer höheren GdB-Bewertung der daraus folgenden Funktionseinbußen hat das Gutachten nicht geführt.

3. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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