L 6 SB 2074/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 10 SB 2328/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 SB 2074/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 4. April 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Im Streit steht die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) des Klägers sowie die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) im Erstantragsverfahren.

Der am 10. Juni 1958 geborene Kläger war eigenen Angaben zufolge bis März 1998 als Busfahrer versicherungspflichtig beschäftigt. Seitdem ist er arbeitslos und bezieht derzeit Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch, nachdem er sich vom 3. Dezember 2013 bis 29. August 2014 in Haft in der Justizvollzugsanstalt Ravensburg befunden hatte.

Am 21. Februar 2012 stellte er einen Erstantrag nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) wegen schmerzhafter Meniskusschäden, Herzschwäche, erhöhtem Blutdruck, Kurzatmigkeit, unregelmäßigem Puls, Adipositas, Schlafstörungen mit Apnoe, Sodbrennen seit dem 20. Lebensjahr bei Verwachsungen in der Speiseröhre, trockener Augen und beginnender Sehschwäche sowie vergrößerter Nasenmuscheln, eingeschränkter Beugefähigkeit des kleinen Fingers und Depressionen. In Auswertung der von ihm vorgelegten Befundberichte wie der Auskunft von Dr. G. führte Dr. Z. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme aus, dass sich messbare Behinderungen nicht fänden. Eine Bewegungseinschränkung der Kniegelenke werde nicht beschrieben. Die Funktionsbehinderung des kleinen linken Fingers, die Vergrößerung der Nasenmuscheln und die Adipositas seien ohne GdB. Die Sehminderung sei korrigierbar, die Depression ohne Belang und die Laktose-Intoleranz, die Reflux-Krankheit und die Gastritis seien behandelbar. Eine Herzleistungsminderung bei einer Belastbarkeit bis 150 Watt bestehe nicht. Der Bluthochdruck sei ohne Organschäden. Gestützt hierauf lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Mai 2012 den Antrag ab, da die festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen keinen Einzel-GdB von wenigstens 10 begründeten.

Mit seinem dagegen eingelegten Widerspruch machte der Kläger geltend, insbesondere die nachgewiesenen Schäden in den Kniegelenken wie die Herzschwäche, die langes Stehen oder Gehen unmöglich machten, seien nicht ausreichend gewürdigt worden; einen ganzen Kilometer könne er nur mit Pausen zurücklegen. Seines Erachtens sei er schwerbehindert. Nachdem Dr. E. in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme ausführte, dass nach dem kardiologischen Bericht eine normale Herzmuskelfunktion bei einer kardialen Belastbarkeit bis 150 Watt vorliege, so dass ein Herzleiden in GdB-bedingendem Umfang nicht bestehe und auch die degenerativen Kniegelenksveränderungen bei fachärztlich nicht beschriebener Bewegungseinschränkung keinen GdB begründeten, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. August 2012 den Widerspruch gestützt hierauf zurück.

Dagegen hat der Kläger am 14. September 2012 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) unter Hinweis auf seine schon länger bestehende depressive Erkrankung mit Antriebslosigkeit, Freudlosigkeit, Motivationsverlust, erheblich eingeschränkter Leistungsfähigkeit, schneller Ermüdbarkeit und ausgeprägter Erschöpfungs-Symptomatik bei vehement sozialem Rückzug erhoben. Diese seelischen Leiden begründeten seines Erachtens bereits einen Teil-GdB von 30 bis 40. Ferner leide er unter Funktionseinbußen sowohl im rechten als auch im linken Kniegelenk, nämlich einer medialen Gonarthrose III rechts und einer Meniskopathie beidseits. Die Herzleistungsminderung und arterielle Hypertonie müssten ebenso wie das Schlafapnoe-Syndrom berücksichtigt werden. Aufgrund der eingeschränkten Gehfähigkeit stehe ihm auch das Merkzeichen "G" zu, da ihm ein schmerzfreies Gehen generell nicht möglich sei. Er hat ein Gutachten nach Aktenlage des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit R. (Herr S.) vom 28.11.2011 vorgelegt, in dem eine vollschichtige Leistungsfähigkeit mit gewissen Tätigkeitseinschränkungen bescheinigt wird.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat das SG die behandelnden Ärzte des Klägers als sachverständige Zeugen schriftlich gehört.

Der Internist Dr. D., bei dem der Kläger seit März 2011 in Behandlung steht, ist zu dem Ergebnis gelangt, dass auf seinem Fachgebiet ein relevanter GdB nicht bestehe. Die mediale Gonarthrose habe sich zwar verschlechtert, seines Erachtens gebe es aber keine Hinweise auf eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Von Anfällen bzw. einer Störung der Orientierungsfähigkeit sei ihm nichts bekannt. Der Kläger habe Gehhilfen nicht genutzt und auch über eine Verkürzung der Gehstrecke nicht geklagt.

Der Kläger hat daraufhin die Berichte über die kardiologischen Untersuchungen vom 5. Dezember 2012 und 22. Januar 2013 in der Gemeinschaftspraxis Dres. J./T./M./S. vorgelegt, wonach der Kläger bis 100 Watt belastbar war, am ehesten eine hypertensive Herzerkrankung bestehe, eine kardiale Ursache der ausgeprägten Beinödeme ausgeschlossen werden könne, deren Ursache am ehesten eine chronisch-venöse Insuffizienz sei.

Der Internist Dr. S., bei dem sich der Kläger von August 2012 bis Februar 2013 hausärztlich behandeln ließ, dessen Weiterbehandlung er aber ablehnte, nachdem ein von ihm begehrtes Medikament nicht rezeptiert wurde, hat ein beidseitiges chronisches Lymphödem ohne relevante Stammvarikose oder Thrombose beschrieben, das erfolgsversprechend mit einem Kompressions-strumpf habe versorgt werden können. Nunmehr benutze der Kläger eine Gehhilfe, könne sich aber in der Praxis gut orientieren und fortbewegen, dies sei wahrscheinlich auch im Straßenverkehr so. Den GdB könne er nicht einschätzen.

Der Internist und Kardiologe Dr. M. hat einen GdB auf kardiologischem Fachgebiet ausgeschlossen. Es bestehe eine Einschränkung des Gehvermögens als Folge des Lymphödems beider Unterschenkel, wobei die Gehstrecke nur grob geschätzt werden könne, da der Kläger ausschließlich kardiologisch untersucht worden sei. Beschwerden dürften ab einer Strecke von 1 bis 2 km bestehen.

Der Beklagte hat eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. D. vorgelegt, wonach sich insgesamt nur zwei Gesundheitsstörungen fänden, bei denen allenfalls ein GdB von jeweils 10 vertretbar erscheine, nämlich die chronisch-venöse Insuffizienz wie der Bluthochdruck. Nachteilsausgleiche bestünden seines Erachtens nicht.

Nach vorangegangener Anhörung hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. April 2014 mit der Begründung abgewiesen, der Beklagte habe zu Recht die Zuerkennung eines GdB von mindestens 20 sowie das Merkzeichen "G" abgelehnt. Denn die chronisch-venöse Insuffizienz rechtfertige nur einen Einzel-GdB von 10, nachdem lediglich von einer Schwellneigung beider Beine ohne erhebliche Ödembildungen und häufig rezidivierende Entzündungen berichtet werde. Die arterielle Hypertonie bedinge ebenfalls nur einen Einzel-GdB von 10, nachdem der Bluthochdruck zuletzt durch Dr. M. schwer einstellbar gewesen sei, die Medikation ergänzt, aber Organbeteiligungen nicht berichtet worden seien, so dass weder Dr. D. noch Dr. M. einen relevanten GdB hätten feststellen können. Weitere, einen Einzel-GdB von wenigstens 10 bedingende Funktionsstörungen lägen nicht vor. Das gelte insbesondere für die Herzerkrankung bei einer Belastbarkeit bis 100 Watt ohne Ischämie-Zeichen, einem Abbruch wegen Erschöpfung und einem grenzwertig großen, ausreichend guten kontraktilen linken Ventrikel ohne sichere regionale Hypokinesie, relevanten Klappenfehler, rechtsventrikulärer Pumpfunktion und ohne Nachweis einer pulmonalen Druckerhöhung. Das Schlafapnoe-Syndrom begründe bei fehlender Notwendigkeit einer nCPAP-Therapie keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Auch seitens der vergrößerten Nasenmuscheln, der Laktose-Intoleranz, der chronischen Magen-Schleimhaut-Entzündung und Reflux-Erkrankung der Speiseröhre bei einer Dauertherapie mit Pantoprazol 40 mg pro Tag im Jahr 2006 und ohne Nachweis stärkerer Behinderung werde kein Einzel-GdB von mindestens 10 begründet. Dies gelte auch für die geltend gemachte beginnende korrigierbare Sehminderung. Die mediale Gonarthrose Grad III rechts und Meniskopathie beidseits bei fehlendem Nachweis von Bewegungseinschränkungen und Reizerscheinungen, das geltend gemachte Taubheitsgefühl in den Fingerkuppen der rechten Hand ohne neurologische Behandlung sowie die leichte Beugefehlstellung im Fingerendglied D 5 links seien ebenso nicht mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Dies gelte schließlich auch für die ärztlicherseits nicht nachgewiesene und behandelte Depression. Inwieweit die Klage im Hinblick auf die Zuerkennung des Merkzeichens "G" zulässig sei, nachdem der Kläger im Verwaltungsverfahren ausdrücklich nur einen höheren GdB geltend gemacht habe, könne dahinstehen, da er jedenfalls keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G" habe. Denn insoweit fehle es bereits am erforderlichen Vorliegen der Schwerbehinderteneigenschaft. Im Übrigen seien auch keine Einschränkungen ersichtlich, die es ihm unmöglich machten, zwei Kilometer in 30 Minuten zurückzulegen.

Gegen den seinem damaligen Prozessbevollmächtigten am 14. April 2014 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 9. Mai 2014 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt und zur Begründung geltend gemacht, seine Beschwerden im rechten Kniegelenk hätten sich deutlich verschlimmert, außerdem sei er zusätzlich an einer idiopathischen Faszialisparese wie auch nunmehr an mit Metformin behandeltem Diabetes erkrankt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 4. April 2014 sowie den Bescheid vom 10. Mai 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. August 2012 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, den Grad der Behinderung mit 50 sowie das Merkzeichen "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er erachtet die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes hat der Senat den Anstaltsarzt der Justizvollzugs-anstalt R. G. als sachverständigen Zeugen schriftlich befragt. Dieser hat berichtet, dass er den Kläger seit Haftantritt am 3. Dezember 2013 wegen arterieller Hypertonie, chronischer Wirbelsäulenbeschwerden im Sinne einer Lumboischialgie, Adipositas per magna, rezidivieren¬der Unruhestörung und Schlafproblematik, chronischer Sinusitis bei Nasenscheidewand¬deviation, chronischer Knieschmerzen rechts nach Zustand nach Knieoperation und Verdacht auf Gonarthrose sowie hypertensiver Herzerkrankung behandelt habe. Nach Medikamentengabe habe sich der Verlauf unauffällig und komplikationslos gestaltet. Die Blutdruckwerte seien stabil gewesen, kardiale Dekompensationszeichen seien nicht aufgetreten. Die chronischen Rückenschmerzen seien unter Schmerztherapie erträglich gewesen. Die Empfehlung einer Gewichtsreduktion in Anbetracht seiner Adipositas per magna habe der Kläger nicht befolgt. Die Behinderungen seien insgesamt geringfügig. Der Kläger sei noch in der Lage, eine Wegstrecke von 2 Kilometern zu bewältigen und habe während der Zeit der Inhaftierung Gehhilfen nicht benötigt und auch nicht benutzt.

Außerdem hat der Senat den HNO-Arzt Dr. K. als Zeugen schriftlich vernommen, der mit Schreiben vom 15. September 2014 von einer stationären infusionsperipheren linksseitigen Faszialisparese berichtet hat, die sich unter der Behandlung gebessert habe, aber nicht vollständig ausgeheilt gewesen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die vorgelegte Behördenakte sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die nach § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und statthafte Berufung des Klägers (§§ 143, 144 SGG) ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Denn die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Denn er hat insbesondere keinen Anspruch auf die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft (GdB 50).

Maßgeblich für die Prüfung des geltend gemachten Anspruchs ist im Falle der hier erhobenen Verpflichtungsklage die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BSG, Urteil vom 17. April 2014 - 9 SB 6/12 R - SozR 4-1300 § 48 Nr. 26; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 11. Auflage 2014, § 54 SGG Rn. 34).

Die Klage ist, soweit der Kläger die Feststellung des Nachteilsausgleichs "G" begehrt, mangels vorheriger Durchführung eines Verwaltungsverfahrens hinsichtlich der beanspruchten Leistungen nach § 78 Abs. 1 Satz 1 SGG unzulässig. Es fehlt an dem für eine gerichtliche Entscheidung notwendigen Rechtsschutzbedürfnis. Das Rechtsschutzbedürfnis ist Zulässigkeits¬voraussetzung einer jeden Klage und ist vom Rechtsmittelgericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer a. a. O., vor § 51 Rn. 20); dadurch sollen zweckwidrige Prozesse verhindert und soll eine unnötige Inanspruchnahme des Rechtsschutzes durch staatliche Gerichte verhindert werden. Das gerichtliche Rechtsschutzbe¬dürfnis ist grundsätzlich zu verneinen, wenn das angestrebte Ergebnis auf einfachere Weise erreicht werden kann. Am Rechtsschutzbedürfnis fehlt es, wenn der Kläger nicht zunächst im behördlichen Verwaltungsverfahren die begehrten Leistungen beantragt und der Behörde Gelegenheit gibt, über den Antrag zu entscheiden. Denn erst im Falle behördlicher Ablehnung des Antrags sowie bei Leistungsanträgen nach erfolglosem Widerspruchsverfahren kann außerhalb des Regelungsbereichs des § 88 SGG ein schützenswertes Bedürfnis auf gerichtliche Überprüfung dieser Entscheidung bestehen. Dabei ist sowohl die echte als auch die unechte Leistungsklage vor dem Erlass einer Verwaltungsentscheidung grundsätzlich unzulässig und kann nur unter den Voraussetzungen des § 88 SGG, also einer unterlassenen Bescheidung trotz Antrag auf Vornahme eines Verwaltungsaktes ohne zureichenden Grund, vor Erlass der Verwaltungsentscheidung unmittelbar Klage erhoben werden (Keller a. a. O. § 54 Rn. 39b). Da der Beklagte mangels entsprechenden Antrags des Klägers keine Entscheidung zum Nachteilsausgleich "G" getroffen hat, war die unmittelbar beim SG erhobene Klage unzulässig (so auch Urteil des Senats vom 29. April 2014 - L 6 SB 5248/13).

Soweit der Kläger die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft begehrt hat, hat das SG die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen, denn nach der vorgenommenen Beweiswürdigung ist noch nicht einmal ein GdB von mindestens 20 begründet gewesen.

Der Anspruch des Klägers auf Feststellung des GdB richtet sich nach den am 1. Juli 2001 in Kraft getretenen Vorschriften des Neunten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB IX) vom 19. Juni 2001 (BGBl. I S. 1046). Nach § 69 Abs. 1 S. 1 SGB IX stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Menschen sind nach § 2 Abs. 1 S. 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gem. § 69 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG (bis 30. Juni 2011 § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Von dieser Ermächtigung hat das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Gebrauch gemacht und die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) erlassen, um u.a. die maßgebenden Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG zu regeln (vgl. § 1 VersMedV). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellten und fortentwickelten, Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. In den VG wird ebenso wie in den AHP der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. November 1999 - B 9 V 25/98 R - SozR. 3-3100 § 30 Nr. 22). Hierdurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur das Vorliegen einer (unbenannten) Behinderung und den Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zu Grunde liegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeein-trächtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (vgl. BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R - SozR 3-3870 § 4 Nr. 24). Der Einzel-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar.

Liegen - wie im Falle des Klägers - mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Teil-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeein-trächtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet (vgl. hierzu und zum Folgenden: VG, Teil A, Nr. 3). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Teil-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und in wieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeein-trächtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Die Beziehungen der Funktionsbeeinträchtigungen zu einander können unterschiedlich sein: Die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Eine Funktionsbeeinträchtigung kann sich auf eine andere besonders nachteilig auswirken, vor allem dann, wenn Funktionsbeein-trächtigungen paarige Gliedmaßen oder Organe betreffen. Funktionsbeeinträchtigungen können sich überschneiden. Eine hinzutretende Gesundheitsstörung kann die Auswirkung einer Funktionsbeeinträchtigung aber auch nicht verstärken. Von Ausnahmefällen abgesehen, führen leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung (vgl. Teil A Nr. 7 Buchst. a Satz 1 der VG). Dies gilt auch dann, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Der Gesamt-GdB ist unter Beachtung der versorgungsmedizinischen Grundsätze nicht nach starren Beweisregeln, sondern auf Grund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der sachverständigen Gutachten in freier richterlicher Beweiswürdigung festzulegen (BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R - Juris).

Für das im Vordergrund der gesundheitlichen Beeinträchtigungen stehende chronische beidseitige Lymphödem ohne stärkere Umfangsvermehrung von mehr als 3 cm ist nur im Hinblick auf das Erfordernis einer Kompressionsbandage allenfalls ein Einzel-GdB von 10 nach Teil B Nr. 9.2.3 der VG gerechtfertigt. Gleiches gilt hinsichtlich der arteriellen Hypertonie bei fehlender Organbeteiligung (Teil B Nr. 9.3 VG). Die weiteren geltend gemachten Funktionseinschränkungen begründen keinen Einzel-GdB, nachdem der Kläger bis 100 Watt ohne Ischämie- oder Erschöpfungszeichen belastbar war (Teil B Nr. 9.1.1 VG), das Schlafapnoe-Syndrom keiner n-CPAP-Therapie bedarf (Teil B Nr. 8.7 VG) und die Reflux-Erkrankung keine stärkere Beeinträchtigung nach sich zieht (Teil B Nr. 10.1). Gleiches gilt für die Laktose-Intoleranz (Teil B Nr. 10.2 VG) wie die vergrößerten Nasenmuscheln (Teil B Nr. 6 VG). Die beginnende, aber korrigierbare Sehminderung begründet ebenfalls keinen Einzel-GdB von 10 (Teil B Nr. 4 VG). Hinsichtlich der medialen Gonarthrose Grad III rechts und Meniskopathie beidseits wird über Bewegungseinschränkungen und Reizerscheinungen nicht berichtet, so dass auch hierzu kein Einzel-GdB von mindestens 10 zu vergeben ist (Teil B Nr. 18.14 VG). Eine Depression ist ärztlicherseits nicht nachgewiesen. All dies hat das SG ausführlich begründet dargelegt. Der Senat sieht daher von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und schließt sich insoweit der ausführlich begründeten Entscheidung in vollem Umfang an (§ 153 Abs. 2 SGG).

Auch die Ermittlungen im Berufungsverfahren führen nicht zu einem anderen Ergebnis. Vielmehr hat der zuletzt den Kläger behandelnde Anstaltsarzt bestätigt, dass sich die Behinderungen insgesamt als geringfügig dargestellt haben und einer Medikation zugänglich waren, worunter sich die vom Kläger geäußerten Beschwerden größtenteils vollständig gebessert haben. Die ideopatische Faszialisparese (Schwellung des Nervs im knöchernen Faszialiskanal, wodurch die Funktion des Nervs gestört wird) schließlich hat nur von Anfang bis Mitte Oktober 2013 eine Behandlungsbedürftigkeit begründet und war danach bei Haftantritt nicht mehr auffällig, so dass es zu einer völligen Wiederherstellung der Funktion des Nervs gekommen ist.

Soweit der Kläger zuletzt vorgetragen hat, an einem Diabetes erkrankt zu sein, der mit Metformin eingestellt und behandelt wird, so begründet dies, solange keine Hypoglykämien ausgelöst werden, was er nicht behauptet hat, keinen GdB (Teil B Nr. 15.1 VG).

Die Berufung des Klägers ist deswegen insgesamt zurückzuweisen, wobei die Kostenent-scheidung auf § 193 SGG beruht.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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