L 1 KR 117/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 182 KR 2359/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 117/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2014 und der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in der Gestalt des Bescheides vom 30. März 2011 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2012 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die Infusion des von ihm auf eigene Kosten angeschafften Medikaments Neurium600 (Wirkstoff: Alpha-Liponsäure) als Sachleistung zu gewähren. Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt noch die Infusion eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels durch einen Vertragsarzt als Sachleistung. Die Übernahme der Kosten des Arzneimittels ist nicht im Streit.

Der 1942 geborene schwerbehinderte Kläger ist Mitglied der beklagten Krankenkasse. Er ist chronisch krank und leidet u. a. an einer diabetischen Polyneuropathie. Eine Behandlung erfolgte in der Vergangenheit mit dem Arzneimittel Neurium600 (Wirkstoff: Alpha-Liponsäure, Ethylenbis(azan)-Salz). Dabei handelt es sich um eine Lösung, die mittels einer Infusion in den Körper eingebracht wird. Neurium600 ist apothekenpflichtig, jedoch seit dem 1. April 2004 nicht mehr verschreibungspflichtig.

Die Beklagte hat die Kosten der entsprechenden ärztlichen Leistung (Beratung und Infusion) in der Vergangenheit übernommen. Noch mit Schreiben vom 26. Juli 2010 hat sie dem Kläger mitgeteilt, dass diese ärztlichen Leistungen bei medizinischer Notwendigkeit eine Vertragsleistung seien und über die Versichertenkarte abgerechnet werden könnten.

Unter Vorlage eines Schreibens seines behandelnden Arztes Dipl.-Med. RB. K vom 4. Oktober 2010 teilte der Kläger mit, dass der Arzt nicht mehr bereit sei, die Infusion als Kassenleistung zu erbringen. In dem Schreiben des Arztes heißt es, dass sich die Berliner Krankenkassenverbände insoweit "eindeutig positioniert" hätten. Die "Applikation eines Arzneimittels (sei) keine Kassenleistung, wenn das Arzneimittel selbst nicht zu Kassenlasten verordnungsfähig" sei. Dies bestätige die Richtigkeit seiner Vorgehensweise. Er biete dem Kläger jedoch an, die Infusionsserie über 10 Tage zu einem reduzierten Gebührenrahmen von insgesamt 69,90 EUR (anstelle 118,90 EUR) durchzuführen.

Daraufhin teilte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Februar 2011 mit, dass die Feststellung dieses Arztes "vollkommen zutreffend" sei. Die Applikation von nicht verordnungsfähigen Arzneimitteln stelle keine Kassenleistung dar.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Mit weiterem Bescheid vom 30. März 2011 lehnte die Beklagte erneut die begehrte ärztliche Leistung ab. Sie führte aus, dass "unstreitig" sei, dass die in Frage stehende "Injektionslösung" nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden dürfe, da es sich um ein nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel handele. Eine "intravenöse Injektion" sei ausschließlich vom Arzt vorzunehmen; die ärztliche Tätigkeit sei also unbedingt erforderlich, um das Arzneimittel in den Körper zu bringen. Die ärztliche Tätigkeit und das Arzneimittel bildeten somit eine untrennbare Einheit. Da das zu applizierende Arzneimittel von der Versorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen sei, könne deshalb auch die ärztliche Leistung nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht werden.

Nachdem der Kläger seinen Widerspruch ausdrücklich aufrecht hielt, wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 12. Dezember 2012 zurück. Sie führte aus, dass nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung ausgeschlossen seien. Der Gemeinsame Bundesausschuss habe in Arzneimittelrichtlinien festgelegt, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel bei der Behandlung von schwerwiegenden Erkrankungen als Therapiestandard gelten. Bei der Infusionstherapie mit Neurium600 handele es sich um eine unkonventionelle Methode, für die der Gemeinsame Bundesausschuss noch keine Empfehlung abgegeben habe.

Hiergegen hat der Kläger am 20. Dezember 2012 Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass zwar das Arzneimittel mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure seit dem 1. Januar 2004 nicht mehr zu Lasten der Beklagten verordnungsfähig sei. Dies gelte jedoch nicht für die mit der Behandlung verbundenen ärztlichen Leistungen (Beratung und Infusion). Die Beklagte habe in den Jahren nach 2004 die Kosten der entsprechenden ärztlichen Leistungen auch immer getragen. Es sei gerade nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen, dass mit der Abschaffung der Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung auch die entsprechenden notwendigen ärztlichen Leistungen nicht mehr abrechenbar seien.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 13. März 2014 abgewiesen. Es hat das Begehren des Klägers als ein auf die Erstattung bzw. auf die Freistellung der Kosten für die streitbefangenen ärztlichen Behandlungen sowie auf ein die Gewährung der entsprechenden ärztlichen Leistungen für die Zukunft als Sachleistung gerichtetes Begehren verstanden und insoweit ausgeführt, dass, da bereits das Arzneimittel nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterliege, dies auch für die damit verbundene "untrennbare intravenöse Injektion als ärztliche Leistung" gelten müsse.

Gegen diesen am 19. März 2014 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 9. April 2014, mit der er im Wesentlichen sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2014 und den Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in der Gestalt des Bescheides vom 30. März 2011 sowie des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die Infusion des von ihm auf eigene Kosten beschafften Arzneimittels Neurium600 (Alpha-Liponsäure) als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der angefochtene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin sei nicht zu beanstanden.

Der Berichterstatter hat am 25. Juli 2014 mit den Beteiligten einen Erörterungstermin durchgeführt. Der Kläger hat erklärt, dass er seit 2008 keine intravenöse Infusion von Neurium (Alpha-Liponsäure) erhalten habe. Er habe seitdem ausschließlich Tabletten genommen. Diese bekämen ihm aber nicht. Der Kläger hat weiter erklärt, dass er versucht habe, die Leistungen über die Versichertenkarte zu erhalten. Die von ihm konsultierten Ärzte hätten es aber abgelehnt, die begehrte intravenöse Infusion über die Versichertenkarte bzw. die elektronische Gesundheitskarte abzurechnen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, auf die Gerichtsakte und auf die den Kläger betreffende Verwaltungsakte der Beklagten, die dem Senat vorgelegen haben und die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 10. Februar 2011 in der Gestalt des Bescheides vom 30. März 2011 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2012 ist rechtswidrig. Der Kläger hat einen Anspruch auf die begehrte ärztliche Leistung als Sachleistung.

Die Klage ist zulässig, insbesondere fehlt ihr nicht ein Rechtsschutzbedürfnis. Der Kläger kann die begehrte Leistung nicht auf einem einfacheren Weg, insbesondere durch Abrechnung über die Versichertenkarte bzw. die elektronische Gesundheitskarte erlangen. Er hat insofern glaubhaft vorgetragen, dass die von ihm konsultierten Ärzte nicht bereit sind, die begehrte Leistung über die Versicherten- bzw. die elektronische Gesundheitskarte abzurechnen. Sie stützen sich hier offensichtlich auf eine Verlautbarung der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin aus dem Jahre 2009, nach der die Applikation eines Arzneimittels nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden könne, wenn das Arzneimittel selbst nicht verordnungspflichtig ist. Diese Auffassung vertritt auch die Beklagte. Der Kläger ist damit nicht in der Lage, sich diese Leistung über die Versicherten- bzw. die elektronische Gesundheitskarte zu verschaffen.

Rechtsgrundlage der begehrten Leistung ist § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr.1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Krankenbehandlung umfasst die ärztliche Behandlung (§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V). Dazu gehören alle Maßnahmen der ambulanten medizinischen Versorgung, also regelmäßig nur Maßnahmen mit Behandlungs- und Therapiecharakter, die einen eindeutigen Krankheitsbezug aufweisen (Lang in Becker/Kingreen, SGB V, 4. Auflage 2014, § 27 Rdnr. 38). Die Infusion und die Infusionstherapie eines Arzneimittels gehören zu diesen Leistungen der ärztlichen Behandlung. Denn sie sind im einheitlichen Bewertungsmaßstab (Stand I. Quartal 2015) unter der Ziffer 02100 (Infusion) und 02101 (Infusionstherapie) als allgemeine diagnostische und therapeutische Gebührenordnungsposition aufgeführt.

Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass das zu applizierende Arzneimittel Neurium600 mit dem Wirkstoff Alpha-Liponsäure als nicht verschreibungspflichtiges Arzneimittel nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der Fassung des GKV-Modernisierungsgesetztes (GMG) vom 14. November 2003 (BGBl. I, 2190) mit Wirkung vom 1. April 2004 von der Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen ist und sich der Kläger dieses Arzneimittel deshalb auf eigene Kosten beschaffen muss.

Der Umfang der von der gesetzlichen Krankenversicherung nach § 27 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB V als Sachleistung zu erbringenden ärztlichen Behandlung ist durch die Neuregelung des § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V zum 1. April 2004 nicht beschränkt worden. Die Änderung dieser Vorschrift durch das GMG lässt nicht darauf schließen, dass auch der Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherung bei der ärztlichen Behandlung eingeschränkt werden sollte (Urteil des BSG vom 25. August 2009 – B 3 KR 25/08 R –, zitiert nach juris).

Die Herausnahme nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel von der Medikamentenversorgung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung bedeutet nur, dass diese Arzneimittel selbst aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung herausgenommen werden. Nach der Begründung zum GMG (BT-Drs. 15/1525 S. 75) sollten mit dieser Einschränkung der Versorgung die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gesenkt werden. Nur die Anschaffung der Medikamente, nicht jedoch die Kosten der notwendigen Verabreichung, sollten aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung sollte gestrichen werden (BSG a. a. O.).

Soweit die Beklagte und auch das Sozialgericht zur Stützung ihrer Rechtsauffassung die Rechtsprechung des BSG zitieren, nach der bei der Abrechenbarkeit von ärztlichen Leistungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich von dem therapeutischen Gesamtkonzept des behandelnden Arztes auszugehen sei und nicht von der jeweils einzelnen medizinischen Maßnahme (Beratung, Infusion, Arzneimittel usw.), und daher im vorliegenden Fall, da bereits das Arzneimittel nicht der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung unterfällt, dies auch für die damit untrennbar verbundenen ärztlichen Leistungen gelten müsse (Urteil des BSG vom 16. September 1997 -1 RK 28/95 -, zitiert nach juris), vermag dies nicht zu überzeugen. Diese Rechtsprechung kann nicht auf den vorliegenden Sachverhalt übertragen werden. Bei dem zitierten Urteil des BSG handelt es sich um eine Entscheidung, die zu dem Komplex neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ergangen ist. Um die Abrechenbarkeit einer derartigen Behandlungsmethode streiten die Beteiligten hier aber gerade nicht. Im Streit ist eine ärztliche Leistung (Infusion), die unstreitig zum Leistungskatalog des Vertragsarztes gehört (s.o.) und die auch unstreitig zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden kann. Streitig ist, ob insoweit ein Leistungsausschluss gegeben ist, weil das medizinisch erforderliche Arzneimittel aus der Medikamentenversorgung zu Lasten der gesetzlichen Versicherung herausgenommen worden ist, aber nur mittels einer notwendigen ärztlichen Leistung in den Körper des Versicherten eingebracht werden kann. Diese Fallgruppe hat das BSG (a. a. O.) entschieden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 sind nicht gegeben.
Rechtskraft
Aus
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