Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 113 SB 2917/12
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 93/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2013 aufgehoben sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung ab 1. Juni 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens im vollen Umfang zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Der 1943 geborene Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, beantragte am 28. November 2011 einen höheren GdB und das Merkzeichen "G". Nach Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen, u.a. des Arztbriefs des Neurologen Dr. O vom 12. Juni 2012, stellte der Beklagte bei ihm mit Bescheid vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 einen GdB von 70 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. April 2013 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger hierauf keinen Anspruch habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren zunächst weiter verfolgt hat. Der Beklagte hat den Kläger versorgungsärztlich untersuchen lassen. Im Gutachten vom 27. Januar 2014 hat die Fachärztin für Anästhesiologie Dr. B die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneint.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Neurologie Dr. B vom 25. August 2014. Der Sachverständige hat dargelegt, dass bei dem Kläger eine – erstmals 2012 beschriebene – Gangstörung aufgrund einer diabetischen Polyneuropathie vorliege, die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Funktionell hinzuzurechnen sei die schmerzbedingte Einschränkung der Gehstrecke, deren Genese offen bleibe. Für diese beiden sich direkt auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren sei ein GdB von 50 angemessen.
In der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2015 hat der Kläger sein Begehren auf den Zeitraum ab Juni 2012 beschränkt.
Der Kläger beantragt bisher,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2013 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab 1. Juni 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 19. September 2014 der Ansicht, dass der Einschätzung des Sachverständigen insoweit nicht zu folgen sei, als dieser die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren mit einem GdB von 50 bewertet habe. Denn die Schmerzen seien entweder der Polyneuropathie zuzurechnen (und damit in dem hierfür anzusetzenden GdB von 30 enthalten) oder einer Claudicatio spinalis, für welche es aber keinen entsprechenden MRT-Befund gebe.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit sie aufrechterhalten wird, begründet. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab 1. Juni 2012.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2).
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 11 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. B im Gutachten vom 25. August 2014 wirken sich auf dessen Gehfähigkeit die diabetische Polyneuropathie und die Schmerzen in den Beinen unmittelbar aus. Aus den Ausführungen des Gutachters ergibt sich, dass diese beiden Faktoren funktionell dem in den AHP genannten Regelbeispiel der sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen, gleichzusetzen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Der 1943 geborene Kläger, bei dem ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, beantragte am 28. November 2011 einen höheren GdB und das Merkzeichen "G". Nach Auswertung der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen, u.a. des Arztbriefs des Neurologen Dr. O vom 12. Juni 2012, stellte der Beklagte bei ihm mit Bescheid vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 einen GdB von 70 fest, lehnte aber die Zuerkennung des Merkzeichens "G" ab.
Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung des Merkzeichens "G" begehrt. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 4. April 2013 mit der Begründung abgewiesen, dass der Kläger hierauf keinen Anspruch habe.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er sein Begehren zunächst weiter verfolgt hat. Der Beklagte hat den Kläger versorgungsärztlich untersuchen lassen. Im Gutachten vom 27. Januar 2014 hat die Fachärztin für Anästhesiologie Dr. B die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneint.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Neurologie Dr. B vom 25. August 2014. Der Sachverständige hat dargelegt, dass bei dem Kläger eine – erstmals 2012 beschriebene – Gangstörung aufgrund einer diabetischen Polyneuropathie vorliege, die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten sei. Funktionell hinzuzurechnen sei die schmerzbedingte Einschränkung der Gehstrecke, deren Genese offen bleibe. Für diese beiden sich direkt auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren sei ein GdB von 50 angemessen.
In der mündlichen Verhandlung vom 29. Januar 2015 hat der Kläger sein Begehren auf den Zeitraum ab Juni 2012 beschränkt.
Der Kläger beantragt bisher,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 4. April 2013 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 15. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. November 2012 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung ab 1. Juni 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er ist unter Bezugnahme auf die versorgungsärztliche Stellungnahme vom 19. September 2014 der Ansicht, dass der Einschätzung des Sachverständigen insoweit nicht zu folgen sei, als dieser die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Faktoren mit einem GdB von 50 bewertet habe. Denn die Schmerzen seien entweder der Polyneuropathie zuzurechnen (und damit in dem hierfür anzusetzenden GdB von 30 enthalten) oder einer Claudicatio spinalis, für welche es aber keinen entsprechenden MRT-Befund gebe.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit sie aufrechterhalten wird, begründet. Das Sozialgericht hat die Klage insoweit zu Unrecht abgewiesen.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab 1. Juni 2012.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).
Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2).
Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).
Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, jurisPR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 11 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.
Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. B im Gutachten vom 25. August 2014 wirken sich auf dessen Gehfähigkeit die diabetische Polyneuropathie und die Schmerzen in den Beinen unmittelbar aus. Aus den Ausführungen des Gutachters ergibt sich, dass diese beiden Faktoren funktionell dem in den AHP genannten Regelbeispiel der sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen, gleichzusetzen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
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