L 27 R 803/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 29 R 5631/06
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 R 803/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2010 geändert sowie die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 27. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2006 verurteilt, dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Dezember 2006 bis zum 31. Dezember 2011 eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren. Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten gerichtlichen Verfahrens zur Hälfte zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt im Berufungsverfahren noch eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.

Der 1951 geborene Kläger war nach Beendigung der allgemeinen Schulausbildung 1967 in einem Druckhaus, 1968 beim VEB Berlin tätig. Von Mai 1969 bis Oktober 1070 war er Soldat. Anschließend besuchte er eine Bildungseinrichtung zur Erwachsenenqualifizierung. Am 5. Februar 1974 schloss er die Ausbildung zum Facharbeiter für Holztechnik ab. Diesen Beruf übte er bis 1981 aus. Bei unterschiedlichen Arbeitgebern war der Kläger – mit Unterbrechungen – von 1982 bis 1997 als Zimmerer, vom 29. August bis zum 6. Dezember 1996 als Trockenbauer, vom 1. April bis 17. August 1998 als Bauhelfer und vom 23. März 1999 bis zum 14. Januar 2000 als Malerhilfsarbeiter beschäftigt. Vom 19. Februar bis zum 20. Juli 2001 besuchte der Kläger den Lehrgang "EDV im Handwerk". Im Rahmen einer Strukturanpassungsmaßnahme war er von Oktober 2001 bis Oktober 2001 als Handwerker tätig. Er arbeitete schließlich vom 8. August bis zum 5. September 2000 bei einer Zeitarbeitsfirma als Tischler. Danach war der Kläger arbeitslos. Seit dem 1. Januar 2012 bezieht der Kläger Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

Die 2000 und 2003 gestellten Rentenanträge des Klägers wurden – wie der Antrag auf medizinische Rehabilitation vom August 2008 – von der Beklagten bestandskräftig abgelehnt. Diesen Entscheidungen lag jeweils das Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dipl.-Med. P vom 6. Januar 2001, des Arztes für Innere Medizin Dr. R vom 17. April 2003 bzw. der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. N vom 16. Juli 2005 zu-grunde. Auf den weiteren Antrag des Klägers genehmigte die Beklagte im Hinblick auf dessen Alkoholerkrankung eine Entwöhnungsbehandlung, die vom 15. Februar bis zum 15. Mai 2006 durchgeführt wurde.

Am 29. Mai 2006 beantragte der Kläger erneut eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. In dem daraufhin veranlassten Gutachten vom 16. Juni 2006 diagnostizierte der Arzt für Innere Medizin Dr. T bei dem Kläger:

- mittelgradige depressive Episode, - Alkoholkrankheit, derzeit abstinent, - Schulterteilsteife beidseits, - Gonarthrose beidseits, - degeneratives Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom.

Der Gutachter stellte bei dem Kläger ein vollschichtiges Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten fest, die in wechselnder Körperhaltung ausgeübt werden könnten. Überkopfarbeiten, Heben und Tragen schwerer Lasten sowie häufiges Knien und Bücken seien zu vermeiden. An die Übernahme von Verantwortung und an die Um-stellungsfähigkeit könnten keine besonderen Anforderungen gestellt werden.

Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 26. Juni 2006 ab: Zwar seien die erforderliche Wartezeit und die weiteren versicherungsrechtlichen Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Jedoch liege bei dem vorhandenen Leistungsvermögen weder eine volle noch eine teilweise Erwerbsminderung bzw. Berufsunfähigkeit vor. Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbe-scheid vom 14. November 2006 zurück.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, weiter hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit begeht. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten die Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. L vom 7. Juli 2008 und des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. N vom 16. Mai 2011 mit ergänzender Stellungnahme vom 12. September 2011 eingeholt. Beide Sachverständige sind zu dem Schluss gelangt, das Leistungsvermögen des Klägers reiche für die volle übliche Arbeitszeit von täglich acht Stunden aus. Er könne täglich regelmäßig noch leichte körperliche Arbeiten verrichten.

Mit Urteil vom 27. Mai 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Denn er verfüge nach den eingeholten Sachverständigengutachten über ein vollschichtiges Leistungsvermögen für körperlich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit stehe dem Kläger nicht schon deshalb zu, weil er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr als Zimmerer tätig sein könne. Vielmehr müsse er sich auf ungelernte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisen lassen. Denn die Kammer habe nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen einen Beruf der Stufe 3 des von dem Bundessozialgericht entwickelten Mehrstufenschemas habe aufgeben müssen. Es könne offen bleiben, ob der Kläger aufgrund seines formalen Berufsabschlusses und seiner Berufserfahrung wettbewerbsfähig als Zimmermann mit Facharbeiterabschluss gearbeitet habe. Jedenfalls habe sich der Kläger von diesem Beruf gelöst, da er nach März 1997 nicht mehr als Zimmerer beschäftigt gewesen sei, sondern sich den Tätigkeiten als Bauhelfer und Malerhelfer zugewandt habe.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren zunächst weiter verfolgt hat.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. C vom 5. November 2013. Der Sachverständige hat das Leistungsvermögen des Klägers als vollschichtig eingeschätzt. Körperlich kämen leichtere, geistig eher einfachere Arbeiten infrage. Der Kläger sei psychisch verlangsamt. Arbeiten mit Publikumsverkehr seien möglich, aber wohl eher ungünstig; wegen der Depressivität könne er nicht sehr kommunikativ sein.

Ferner hat der Senat das berufskundliche Gutachten des Diplom-Verwaltungswirts L vom 27. April 2014 eingeholt. Der Sachverständige hat hierbei ausgeführt: Mit der Abschlussprüfung als Facharbeiter für Holztechnik habe der Kläger die Facharbeiterebene erreicht. Auch die im weiteren Berufsverlauf ausgeübten Tätigkeiten als Zimmerer, Trockenbauer und Tischler ständen eng in Verbindung mit der ursprünglichen Ausbildung, so dass auch sie auf Facharbeiterebene verrichtet worden seien. Die Tätigkeiten als Bauhelfer und als Malerhilfsarbeiter seien als ungelernte bzw. einfach angelernte Arbeiten dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuzuordnen. Mit dem festgestellten Leistungsvermögen könne der Kläger keine der bislang ausgeübten Tätigkeiten verrichten. Auch könne er aufgrund der eingeschränkten Fingerfertigkeit keine gewerblichen Arbeiten unter wettbewerbsmäßigen Bedingungen ausüben, so dass lediglich einfache Wach- und Aufsichtsarbeiten in Betracht kämen, die nach dem Mehrstufenschema den ungelernten Tätigkeiten zuzuordnen seien.

In der mündlichen Verhandlung vom 18. Februar 2015 hat der Kläger erklärt, eine Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht mehr geltend zu machen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 27. Mai 2010 zu ändern und die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 26. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 2006 zu verurteilen, ihm für die Zeit vom 1. Dezember 2006 bis zum 31. Dezember 2011 Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise, das im Schriftsatz vom 25. Juli 2014 beantragte berufskundliche Sachverständigengutachten einzuholen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Sie ist der Ansicht, dass der Kläger keinen Berufsschutz als Facharbeiter geltend machen könne.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist in dem noch verfolgten Umfang begründet.

Insoweit hat das Sozialgericht die Klage zu Unrecht abgewiesen, da die Ablehnung der beantragten Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit durch Bescheid vom 18. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. April 2010 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt. Denn der Kläger hat hierauf nach § 240 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (SGB VI) einen Anspruch.

Zwischen den Beteiligten steht – zu Recht – außer Streit, dass der Kläger mit dem festgestellten Leistungsvermögen keine der bislang von ihm ausgeübten Tätigkeiten verrichten kann. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst allerdings nach § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Auf die ihm noch möglichen einfachen Wach- und Aufsichtsarbeiten, die, worauf der Sachverständige L hingewiesen hat, den ungelernten Tätigkeiten im Sinne des Mehrstufenschemas zuzuordnen, ohne dass es sich um die allereinfachsten des allgemeinen Arbeitsmarktes handelte, muss der Kläger sich jedoch nicht verweisen lassen. Denn dessen "bisheriger Beruf" im Sinne des § 240 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist dem eines Facharbeiters und nicht dem eines angelernten Arbeiters zuzuordnen.

Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen L hat der Kläger mit der Abschlussprüfung als Facharbeiter für Holztechnik die Facharbeiterebene erreicht. Auf diesem Niveau hat der Kläger auch die im weiteren Berufsverlauf ausgeübten Tätigkeiten als Zimmerer, Trockenbauer und Tischler verrichtet, da sie in enger Verbindung mit der ursprünglichen Ausbildung stehen.

Maßgebend ist in der Regel die letzte, nicht nur vorübergehend vollwertig ausgeübte versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit (vgl. BSG, Urteil vom 5. August 2004 – B 13 RJ 7/04 R –, juris) – jedenfalls dann, wenn diese die qualitativ höchste ist (BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 53, 66; Urteil vom 18. Januar 1995 – 5 RJ 18/94 – juris). Auf die Beschäftigung des Klägers bei einer Zeitarbeitsfirma als Tischler vom 8. August bis zum 5. September 2000 kann deshalb nicht abgestellt werden, da sie einen zeitlichen Umfang von weniger als einem Monat aufwies und damit nur vor-übergehend ausgeübt wurde. Ebenso wenig kann die im Rahmen einer Strukturanpassungsmaßnahme von Oktober 2001 bis Oktober 2001 ausgeübte Tätigkeit als Handwerker herangezogen werden. Denn durch die Ausübung einer lediglich befristeten Beschäftigung – beispielsweise im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme – löst sich der Versicherte grundsätzlich nicht von seinem bisherigen Beruf (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 130 und SozR 3-2600 § 45 Nr. 1).

Zwar sind die Tätigkeiten der Kläger vom 1. April bis 17. August 1998 als Bauhelfer bzw. vom 23. März 1999 bis zum 14. Januar 2000 als Malerhilfsarbeiter als ungelernte bzw. einfach angelernte Arbeiten zu qualifizieren. Eine zuletzt ausgeübte geringerwertige Tätigkeit ist aber dann unbeachtlich, wenn die vorangegangene höherwertige Tätigkeit aus gesundheitlichen Gründen aufgegeben wurde (vgl. BSG SozR Nr. 33 zu § 1246 RVO). Nach der Überzeugung des Senats war dies bei dem Kläger der Fall. Denn seit 1994 bestand bei ihm nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. N im Gutachten vom 26. Januar 2010 eine Alkoholabhängigkeit im Sinne eines Delta-Alkoholismus nach Jellinek (sog. "Spiegeltrinken"), von der er sich trotz mehrmaliger Entzugsbehandlungen erst 2007 befreien konnte. Dass der Kläger von dem Bestreben beherrscht wurde, seine Blutalkoholkonzentration im Tagesverlauf konstant zu halten, zeigt sich deutlich in dem häufigen Wechsel des Arbeitgebers. Der krankheitsbedingte soziale Abstieg manifestierte sich schließlich darin, dass der Kläger – weil ihm wegen seiner Alkoholerkrankung keine Verantwortung mehr übertragen werden konnte – Hilfsarbeitertätigkeiten annehmen musste. Vorliegend ist weiter zu berücksichtigen, dass ein neuer Hauptberuf auf einer anderen sozialen Ebene nur dann angenommen werden darf, wenn er dem Erwerbsleben des Versicherten sein Gepräge gegeben hat (vgl. BSG SozR 2600 § 45 Nr. 34, SozR 2200 § 1246 Nr. 63, 158 und SozR 3-2600 § 45 Nr. 1). Dies ist bei Tätigkeiten, die jeweils für einen Zeitraum von unter einem Jahr ausgeübt wurden, erkennbar nicht der Fall.

Dem hilfsweise gestellten Beweisantrag der Beklagten ist nicht zu folgen. Der Facharbeiterstatus des Klägers ist nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen L eindeutig geklärt. Entgegen der Ansicht der Beklagten steht außer Frage, dass es sich bei den Tätigkeiten als Facharbeiter für Holztechnik, als Zimmerer, als Trockenbauer und als Tischler um eigenständige Berufe handelt. Dies hat der Sachverständige in seinem Gutachten auch nicht bestritten. Entscheidend ist, dass der Kläger – wovon der Senat nach den Ausführungen des Sachverständigen überzeugt ist – diese Tätigkeiten auf Facharbeiterniveau verrichtete. Der Beklagte hat nicht dargelegt, dass durch eine weitere berufskundliche Begutachtung hiervon abweichende Erkenntnisse gewonnen werden könnten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang in der Sache.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht gegeben sind.
Rechtskraft
Aus
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