L 9 U 3368/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 11 U 2643/10
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 3368/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Juli 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Anerkennung ihrer Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKV).

Die 1959 geborene Klägerin schloss nach dreijähriger Lehrzeit im August 1977 eine Friseurlehre mit der Gesellenprüfung ab. Im Anschluss daran war sie bis zum Beginn von Mutterschutz und Erziehungsurlaub vom 06.09.1977 bis 20.10.1977 sowie vom 22.11.1977 bis 13.11.1978 als Friseurgeselle tätig. Nach ihren Angaben war sie ab Mai 1980 bis Dezember 1987 als Friseurin (unterbrochen durch Zeiten der Arbeitslosigkeit) und in der Zeit von Juni 1988 bis zum Beginn des Mutterschutzes am 21.10.1991 als Arbeiterin beschäftigt gewesen. Ab Juli 1997 führte sie - bis zum Auftreten der Erkrankung - ein eigenes Friseurgeschäft und war bei der Beklagten als Selbstständige versichert. Die Klägerin gab an, während ihrer Tätigkeiten im Friseursalon B., B. und im Haarstudio A. (Beschäftigungsverhältnisse von September 1974 bis November 1978) zu 60 % Frauen und zu 40 % Männer bedient zu haben. Haarfärbungen seien seit September 1974 durchgeführt worden. Sie habe nur beim Auftragen und überwiegend nur bei dunkler Haarfarbe Handschuhe getragen. Sie habe zwischen fünf und zehn Färbungen pro Tag durchgeführt. Ca. fünfmal täglich habe sie mit Brillantine und Pomade gearbeitet. Außerdem gab sie an, seit drei Jahren Gelegenheitsraucherin zu sein (Angaben vom 02.04.2007) bzw. ca. 15 bis 20 Zigaretten im Monat zu rauchen (Angaben vom 17.09.2007). Gegenüber der Beklagten hat die Klägerin in einem Telefongespräch vom 26.10.2007 angegeben, dass sie nicht regelmäßig geraucht habe. Die bisherigen Angaben seien nicht zutreffend. Sie habe vier Kinder, und in der Wohnung hätte sie schon deshalb nie geraucht. Sie sei nur "Genussraucherin", mal in Gesellschaft, aber nicht häufig.

Im November 2006 (Bericht vom 24.11.2006) stellte der Facharzt für Urologie Dr. R. multiple, teils solide, teils auch grob-papillare Tumore im Bereich der linken Harnblasen-Seitenwand, möglicherweise auch der Harnblasen-Kuppel, des Harnblasenbodens und auch im Bereich des Blasenausgangs fest. Die Weiterbehandlung erfolgte in der Abteilung Urologie und Kinderurologie des Kreiskrankenhauses S. Dort wurde am 11.12.2006 ein Harnblasentumor mittels TUR entfernt. Pathologisch-histologisch (Bericht des Pathologen Dr. M. vom 13.12.2006) hat es sich um ein mäßig differenziertes, nicht invasives, papillares Urothelkarzinom gehandelt. Während des stationären Aufenthaltes vom 18.01.2007 bis 17.03.2007 musste die Harnblase entfernt und ein T-Pouch (eine innere Harnableitung) angelegt werden. Die Harnableitung erfolgte zunächst über ein selbst katheterisierbares inkontinentes Nabelstoma, weshalb die Versorgung mit Urostomiebeuteln erforderlich war (Bericht Dr. R. vom 19.10.2007). Im Bericht von Prof. Dr. E. vom 30.03.2007 (Kreiskrankenhaus S.) wird nebenbefundlich ein Nikotinabusus von 20 Zigaretten pro Tag erwähnt. Vom 16.05.2007 bis 13.06.2007 befand sich die Klägerin in der Park-Therme B. zur medizinischen Rehabilitation.

Die Beklagte hat die Akten des Landratsamtes R. zur Klärung des Grades der Behinderung (GdB) beigezogen (Bescheid vom 15.05.2007: GdB 60 seit 01.12.2014, Bescheid vom 28.08.2009: GdB 100 seit 10.07.2009). Außerdem liegt in der Akte das Vorerkrankungsverzeichnis der A. mit Stand 21.08.2007 für die Zeit ab 15.12.2006 bzw. für die Zeit ab 03.06.1982 bis 30.09.1991 vor.

In seiner beratungsärztlichen Stellungnahme vom 19.05.2008 führte Privatdozent Dr. N., Facharzt für Arbeitsmedizin und Epidemiologe, aus, dass Haarfärbemittel bis Ende der 70er Jahre aromatische Amine enthalten hätten, die im Tierversuch krebserzeugend seien. Aufgrund gesetzlicher Regelungen seien diese Produkte in Europa seit 1980 nicht mehr verwendet worden. In einer epidemiologischen Studie aus den USA sei nach zehnjähriger Tätigkeit als Friseur ein etwa zweifach erhöhtes Risiko für ein Urothelzellkarzinom beobachtet worden. Deshalb betrachte man eine etwa zehnjährige, regelmäßige Exposition gegenüber Haarfärbemitteln als geeignet, die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit Nr. 1301 zu erfüllen. Die Klägerin sei seit 1974 bis zum 01.01.1980 insgesamt fünf Jahre als Friseurin tätig gewesen. Davon seien drei Jahre Lehrzeit gewesen. Regelmäßigen Kontakt zu Haarfärbemitteln mit im Tierversuch krebserzeugenden aromatischen Aminen habe die Klägerin also für zwei Jahre gehabt. Unregelmäßiger Kontakt sei für weitere drei Jahre belegt. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine Berufskrankheit Nr. 1301 seien nicht erfüllt.

Die von der Beklagten gehörte staatliche Gewerbeärztin Dr. G., der die Akten vorgelegt worden waren, wies darauf hin, dass nach ihren Unterlagen von einem fünffachen Risiko auszugehen sei. Ihres Erachtens könne man daraus schließen, dass unter Berücksichtigung eines über fünfjährigen beruflichen Kontaktes zu Haarfarben von einer wirksamen Exposition ausgegangen werden könne.

Privatdozent Dr. N. räumte daraufhin ein, dass das Risiko in der von ihm beschriebenen Publikation von G. fünf und das 90 % Konfidenzintervall 1,3 bis 19 betrage. Dies bedeute, dass das Risiko irgendeinen Wert haben könne "zwischen 1,3 und einem 90-fach erhöhten Risiko". Diese Studie sei nicht geeignet, eine Dosis-Wirkungs-Beziehung in der Form abzuleiten, dass unter Berücksichtigung dessen nach der Hälfte der Zeit beispielsweise ein um 2,5fach erhöhtes Risiko angenommen werden könne. Dafür sei das Konfidenzintervall einfach viel zu groß und die Anzahl der Friseure mit Harnblasenkrebs in der Studie viel zu klein. In der Zusammenfassung ergebe sich für ihn aufgrund der beigefügten Literatur keine neue Einschätzung. Das Argument, dass während der Friseurausbildung mehr Kontakt zu Haarfärbemitteln bestanden habe, könne er nicht teilen. Haare färben sei nicht regelhaft von Lehrlingen durchgeführt worden, sondern Lehrlinge hätten Haare waschen müssen. Das Haarefärben und die daran hängenden Arbeiten seien in der Regel den Friseuren mit mehr Berufserfahrung vorbehalten gewesen. Ferner gebe es Unklarheiten in der Akte bezüglich der Rauchanamnese. Die Angaben schwankten von 20 Zigaretten pro Tag und 20 Zigaretten pro Woche sowie 20 Zigaretten im Monat. Dabei sei allerdings festzuhalten, dass es sich bei der letzten Angabe um das momentane Rauchverhalten handele.

Dr. G. erwiderte hierauf (Stellungnahme vom 14.11.2008), dass gerade Auszubildende hauptsächlich mit Färben und Blondieren beschäftigt würden. Hierbei handele es sich um Auszubildende im zweiten und dritten Lehrjahr. Sie sei weiterhin der Ansicht, dass eine Begutachtung durch Prof. B. in D. oder Prof. D. in E. durchgeführt werden sollte.

Die Beklagte bat daraufhin den Facharzt für Urologie Dr. S. um eine beratungsärztliche fachurologischen Stellungnahme. Dieser kam unter dem 12.02.2009 zu dem Ergebnis, dass die haftungsausfüllende Kausalität zweifelsfrei gegeben sei. Die haftungsbegründende Kausalität könne noch nicht ausgeschlossen werden. Hierüber sollte erst nach Feststellung des Acetylierer-Status entschieden werden. Er empfehle, ein weiteres Gutachten einzuholen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11.09.2009 - nach Bestimmung des Acetylier-Status der Klägerin durch ihn - kam er unter Berücksichtigung, dass die Klägerin eine "langsame Acetyliererin" sei und in der Zusammenschau der Überlegungen (relativ kurze Expositionszeit, relativ hohe Expositionsmengen, deutlich verlängerte Latenzzeit) zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen zur Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 1301 gegeben seien. Er empfehle daher die Anerkennung dieser Berufskrankheit.

Privatdozent Dr. N. führte daraufhin unter dem 01.09.2009 aus, dass die Klägerin weniger als fünf Jahre exponiert gewesen sei. Damit sei entsprechend einer bislang nicht veröffentlichten systematischen Literaturanalyse zum Erkrankungsrisiko bei Friseuren ein erhöhtes Risiko von 1,3 zu erwarten. Dies erscheine ihm deutlich zu niedrig, um einen wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der Exposition und der Erkrankung herstellen zu können. Das Argument von Dr. S., die lange Latenzzeit spreche dafür, dass die kurze Expositionszeit für die Entstehung eines Urothelzellkarzinoms verantwortlich sei, sei empirisch nicht belegt, sondern rein spekulativ.

Die staatliche Gewerbeärztin G., der die Unterlagen vorgelegt worden waren, hielt es (Stellungnahme vom 23.10.2009) für erforderlich, einen Spezialisten des beruflich bedingten Harnblasenkrebses, Herrn Prof. Dr. Dr. B., D., mit der Begutachtung zu beauftragen.

In dem daraufhin nach Aktenlage erstellten Gutachten vom 02.03.2010 verwies dieser zur Abschätzung des Risikos auf die größte, in Europa durchgeführte, Blasenkrebsstudie von Czene et al ... Hieraus ergebe sich insbesondere für die Zeit vor 1970 ein stark erhöhtes Risiko bei Friseuren, das um einen Faktor von 3,5 in Bezug auf das Harnblasenkarzinomrisiko der Gesamtbevölkerung höher liege. In der Zeit von 1970 bis 1979 habe sich dieses Risiko jedoch auf einen Wert von etwa 1,3 erniedrigt. Dies sei auch der Zahlenwert, der von Privatdozent Dr. N. aufgrund seiner Metaanalyse angegeben werde. Der Inhalt dieser Metaanalyse sei ihm aus anderen Gutachtenunterlagen bekannt. Die Auswirkung einer Exposition gegenüber Brillantine und Pomade sei für die 1970er Jahre mit Vorsicht zu bewerten, weil die Herstellung von Benzidin und benzidinabgeleiteten Farbstoffen im Jahre 1969/1970 in Deutschland eingestellt worden sei und die Klägerin ihre berufliche Tätigkeit erst im September 1974 begonnen habe. Zudem sei die Verwendung von Benzidinfarbstoffen in der Brillantine oder Pomade in der Literatur kaum zu belegen. Für die Bewertung des beruflich bedingten Gesamtrisikos sei zudem der Status des langsamen Acetylierers in Betracht zu ziehen. Dieser Umstand sei von Dr. S. sehr hoch bewertet worden. Gehe man nach den obigen Ausführungen und in Übereinstimmung mit der Angabe von Dr. N. von einem beruflich bedingten Risiko im vorliegenden Falle von 1,3 aus und berücksichtige zusätzlich den Einfluss des Status eines langsamen Acetylierers, so ergebe sich nach der Mehrzahl der dort angeführten Studien, dass gegenüber schnellen Acetylierern langsame Acetylierer bei gegebener Exposition gegenüber krebserzeugenden aromatischen Aminen etwa die doppelte Empfindlichkeit aufwiesen. Gehe man von einem beruflichen Risiko von 1,3 bezüglich der Gesamtbevölkerung aus, so würde der individuelle Status eines darin vertretenen langsamen Acetylierers ein Risiko von etwa 1,5 begründen. Dies läge jedoch immer noch sehr deutlich unter der Verdopplungsgrenze des Risikos von 2, bei welcher eine berufliche Kausalität als überwiegend wahrscheinlich zu betrachten sei. In der Sache sei daher der Auffassung von Dr. N. zuzustimmen, dass im vorliegenden Fall eine beruflich bedingte Kausalität nicht wahrscheinlich zu machen sei.

Die staatliche Gewerbeärztin G. empfahl in ihrem Schreiben vom 22.03.2010 eine Berufskrankheit gemäß Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV nicht anzuerkennen, weil die haftungsbegründende Kausalität nicht wahrscheinlich sei.

Mit Bescheid vom 23.04.2010 lehnte die Beklagte die Anerkennung der Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV ab. Sie bezog sich zur Begründung auf das Gutachten von Prof. Dr. Dr. B. Hiergegen hat die Klägerin am 09.06.2010 Widerspruch eingelegt und zur Begründung auf ihren behandelnden Urologen verwiesen, der ebenfalls die Auffassung vertrete, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Blasenkrebserkrankung und der beruflichen Tätigkeit vorliege. Mit Widerspruchsbescheid vom 27.07.2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 12.08.2010 Klage zum Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Das SG hat Dr. R. als sachverständigen Zeugen gehört, der ausgeführt hat, dass die zwischenzeitlich erfolgte weiterführende Diagnostik keinen Metastasennachweis und keinen Nachweis einer Tumorprogression ergeben habe. Die Klägerin habe sich vom 01.02.2010 bis 04.02.2010 im Kreiskrankenhaus S. mit den Diagnosen rezidivierende Makrohämaturie und Reflux-Ösophagitis in stationärer Behandlung befunden. Bis auf den Nachweis einer Reflux-Ösophagitis hätten sich weitgehend unauffällige Befunde gezeigt. Eine Harnwegsinfektion sei antibiotisch behandelt worden. Eine Aussage zum Kausalitätszusammenhang sei von ihm nicht gemacht worden und sei ihm auch nicht möglich.

Mit Gerichtsbescheid vom 20.07.2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kammer sei gestützt auf das Gutachten von Prof. Dr. Dr. B. nicht zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einwirkungen der genannten Schadstoffe ausreichend gewesen seien, das Harnblasenkarzinom zu verursachen.

Gegen den ihren Bevollmächtigten am 29.07.2011 zugestellten Gerichtsbescheid haben diese am 09.08.2011 Berufung eingelegt. Nachdem eine Berufungsbegründung nicht vorgelegt und die Bevollmächtigten der Klägerin das Mandat niedergelegt hatten, wurde mit den Beteiligten der Sach- und Streitstand erörtert (vgl. Niederschrift vom 14.08.2012). Unter dem 24.10.2012 hat sich erneut die V. gGmbH für die Klägerin legitimiert.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 20. Juli 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Juli 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Harnblasenkrebserkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen und ihr Versicherungsleistungen nach den gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen eines wissenschaftlich begründeten arbeitsmedizinischen Zusammenhangsgutachtens nach Aktenlage bei Prof. Dr. T.,. In seinem Gutachten vom 04.02.2015 hat Prof. Dr. T. ausgeführt, dass eine berufliche Gefährdung für eine Berufskrankheit 1301 nur für den Zeitraum von 1974 bis ca. 1977 bzw. 1978 zu diskutieren sei. Die berufliche Gefährdung beziehe sich dabei ausschließlich auf solche Produkte, die früher Benzidin enthalten hätten. Für die anderen in Haarfärbemitteln enthaltenen aromatischen Amine werde zwar derzeit eine krebserzeugende Wirkung diskutiert, ein wissenschaftlich gesicherter Nachweis für den Menschen liege derzeit aber noch nicht vor. Eine Gefährdung durch Benzidin im Friseurhandwerk sei ausschließlich durch den Hautkontakt mit den Produkten möglich. Eine inhalative Aufnahme sei auf Grund der Arbeitsweise auszuschließen, weil Benzidin nicht verdampfe oder als Staub auftrete. Berücksichtige man die Angabe der Klägerin, dass sie zu 60 % Frauen bedient habe, erscheine die Angabe von fünf bis zehn Haarfärbungen pro Tag vergleichsweise hoch angesetzt, da Haarfärbungen bei Männern eher die Ausnahme gewesen seien. Darüber hinaus sei zu berücksichtigen, dass die Klägerin angegeben habe, nur beim Auftragen und überwiegend nur bei dunklen Haarfärbungen Handschuhe getragen zu haben. Daraus sei zu folgern, dass die Haut zu einem gewissen Teil geschützt gewesen sei und somit kein Kontakt zu kritischer Haarfarbe bestanden habe. Damit sei die Gefährdung durch Benzidin zwar vermindert, jedoch nicht ausgeschlossen. Im Allgemeinen werde davon ausgegangen, dass schwarze Haarfarben ein vergleichsweise höheres Krebsrisiko verursachten. Hieraus wäre zu folgern, dass die Verwendung von Handschuhen bei der Anwendung von dunklen Haarfarben den Hautkontakt verhindert habe und somit eine mögliche Exposition vermindert gewesen sei. Die Höhe der täglichen Expositionen sei nicht bekannt und lasse sich auch retrospektiv nicht mehr ermitteln. Aus diesem Grund könne das Risiko nur anhand der Erfahrungen entsprechender epidemiologischer Studien bei Friseuren abgeschätzt werden. Im wissenschaftlichen Schrifttum würden zur Frage des Harnblasenkrebsrisikos bei Friseuren zahlreiche Studienergebnisse publiziert, die eine Verdopplung des Erkrankungsrisikos nur bei solchen Beschäftigten bestätigten, die im Zeitraum vor 1980 für mindestens zehn Jahre regelmäßig als Friseur gearbeitet hätten. Unter Berücksichtigung dessen lasse sich ein signifikant erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko bereits wegen der kürzeren Beschäftigungsdauer von maximal sechs Jahren nicht begründen. Unter Berücksichtigung der Statistiken der DGUV zur Berufskrankheit Nr. 1301 sei zu folgern, dass die relativ kurze Einwirkungsdauer und die lange Interimszeit eher gegen als für die Annahme einer Berufskrankheit sprechen. Bei synoptischer Würdigung sei davon auszugehen, dass ein Ursachenzusammenhang zwischen der früheren Tätigkeit der Klägerin als Friseurin und dem Auftreten der Harnblasenkrebserkrankung zwar möglich sei, eine wesentliche Mitursache als rechtliche Voraussetzung sich jedoch nicht wahrscheinlich machen lasse, weil die Gefährdungsdauer im Vergleich zu den allgemeinen arbeitsmedizinischen Erfahrungen relativ kurz gewesen und eine außergewöhnliche berufliche Gefährdung, insbesondere in der Lehrzeit, nicht zu begründen sei. Schließlich ergebe sich das auch aus der Angabe der Klägerin, bei der Verwendung der als kritisch anzusehenden "dunklen Haarfärbemittel" Handschuhe getragen zu haben. Ferner sei davon auszugehen, dass Haarfärbungen in der Regel nicht von Lehrlingen durchgeführt worden seien. Dem Ergebnis der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. könne aus arbeitsmedizinischer Sicht nicht gefolgt werden. Dieser stütze die Bestätigung der "haftungsbegründenden Kausalität" auf die Tatsache, dass die Klägerin eine langsame Acetyliererin sei. Diese Schlussfolgerung sei unbegründet, weil es keinen wissenschaftlichen Konsens darüber gebe, dass ein langsamer Acetylierer ein allgemein erhöhtes Risiko für Harnblasenkrebs habe. Ein weiterer gravierender Mangel im Gutachten sei die fehlende bzw. unzureichende Gefährdungsanalyse auf der Basis der arbeitstechnischen und arbeitsmedizinischen Sachverhalte, die beispielweise im Report 1 aus 2014 der DGUV bzw. in der Veröffentlichung von B. und G. (2007) ausführlich beschrieben seien.

Der Senat hat die Ergebnisse einer prospektiven EPIC-Kohorte, veröffentlicht im IPA-Journal 01/2013 (Prof. Dr. A. et al., "Aromatische Amine und Blasenkrebsrisiko - welche Rolle spielt der Acetyliererstatus) durch Übersendung an die Beteiligten in das Verfahren eingeführt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entschieden hat, ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 SGG liegen nicht vor.

Das SG und die Beklagte haben zu Recht entschieden, dass eine Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV nicht vorliegt. Hierdurch wird die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 23.04.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2010, mit dem die Beklagte im Verfügungssatz die Feststellung der bei der Klägerin vorliegenden Harnblasenerkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV und die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung abgelehnt hat. Mit der Ablehnung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung hat die Beklagte aber nicht über eine konkrete Leistung - z. B. Verletztengeld oder Verletztenrente - entschieden. Bei sachgerechter Auslegung ist daher das Begehren der Klägerin im Hinblick auf die im Ausgangsbescheid erfolgte Ablehnung einer Berufskrankheit als Anfechtungs- und Feststellungsklage bzw. Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu sehen (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 20.03.2007 - B 2 U 19/06 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 23; Urteil vom 15.02.2005 - B 2 U 1/04 R - SozR 4-2700 § 8 Nr. 12; Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg, Urteil vom 29.09.2008 - L 1 U 2116/08 - und vom 12.05.2009 - L 9 U 1415/08 -, zur Zulässigkeit der Verpflichtungsklage: BSG, Urteil vom 18.06.2013 - B 2 U 3/12 R -, in Juris).

Versicherungsfälle der gesetzlichen Unfallversicherung sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten (§ 7 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch - SGB VII -). Berufskrankheiten sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als Berufskrankheiten bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs. 1 Satz 1 SGB VII).

Wie das BSG in seiner Entscheidung vom 02.04.2009 (B 2 U 9/08 R = SGb 2009, 355) ausgeführt hat, lassen sich aus der gesetzlichen Formulierung bei einer Berufskrankheit, die in der BKV aufgeführt ist (sog. Listen-Berufskrankheit), im Regelfall folgende Tatbestandsmerkmale ableiten:

Die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) muss zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt haben (Einwirkungskausalität), und die Einwirkungen müssen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (unter Hinweis auf BSG vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R - BSGE 96, 291 = SozR 4-2700 § 9 Nr. 7, jeweils Rn. 15; BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils Rn. 13 ff.). Ebenso wie die haftungsausfüllende Kausalität zwischen Gesundheits(-erst-)schaden und Unfallfolge beim Arbeitsunfall (vgl. nur BSG vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, jeweils Rn. 10) ist die haftungsausfüllende Kausalität zwischen der berufsbedingten Erkrankung und den Berufskrankheitenfolgen, die dann ggf. zu bestimmten Versicherungsansprüchen führen, bei der Berufskrankheit keine Voraussetzung des Versicherungsfalles.

Für die hier maßgebliche Berufskrankheit Nr. 1301 ist demnach zu fordern, dass bei der Klägerin eine der dort genannten Erkrankungen (Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege) mit Gewissheit festgestellt werden kann, dass sie im Rahmen einer gesetzlich unfallversicherten Tätigkeit der Einwirkung von aromatischen Aminen ausgesetzt war und dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, dass die genannte Erkrankung durch diese Einwirkung (wesentlich) verursacht worden ist.

Das Vorliegen eines Harnblasenkarzinoms, ein mäßig differenziertes, nicht invasives, papilläres Urothelkarzinom, ist durch die Berichte des Krankenhauses S. vom 28.12.2006 und des Pathologen Dr. M. vom 13.12.2006 unstreitig. Dabei handelt es sich auch um einen Krebs der Harnwege im Sinne der Berufskrankheit Nr. 1301 der Anlage 1 zur BKV, was zwischen den Beteiligten ebenfalls unstreitig ist und von keinem der gehörten Sachverständigen in Zweifel gezogen wird.

Während ihrer seinerzeit gem. § 539 Abs. 1 Nr. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO; heute: § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII) versicherten Beschäftigung als Auszubildende im Friseurhandwerk (September 1974 bis August 1977) bzw. ihrer ebenfalls versicherten Beschäftigungen als Friseurgesellin (06.09.1977 bis 20.10.1977 und 22.11.1977 bis 13.11.1978) war die Klägerin u.a. Benzidin ausgesetzt. Dabei handelt es sich um ein aromatisches Amin, das, wie Prof. Dr. T. ausgeführt hat, wissenschaftlich belegt und gesichert für den Menschen krebserzeugend ist.

Ein Ausmaß der Einwirkungen kann jedoch, abgesehen von der zeitlichen Dauer, nicht hinreichend abgeschätzt werden. Mit den Ausführungen von Prof. Dr. T. steht für den Senat nur fest, dass es im Zeitraum von September 1974 bis zum Beginn des Mutterschutzes im November 1978, also über vier Jahre und zwei Monate hinweg, während der Tätigkeit des Haarefärbens zu einem Kontakt mit dem oder den krebserzeugenden aromatischen Aminen gekommen sein muss. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass nach den Feststellungen beider Sachverständiger (Prof. Dr. Dr. B. [dessen Gutachten der Senat im Rahmen des Urkundenbeweises verwertet], Prof. Dr. T.) bzw. der von der Beklagten beigezogenen beratungsärztlichen Stellungnahmen von Privatdozent Dr. N. und Dr. S., die der Senat als qualifizierten Beteiligtenvortrag wertet, für die spätere Tätigkeiten der Klägerin ab 1980 als Friseurin (und für eine kurze Zeit als Arbeiterin) von keiner Gefährdung durch aromatische Amine mehr auszugehen ist. Nicht nachgewiesen ist darüber hinaus, dass die Klägerin auch im Umgang mit Brillantine und Pomade (nach ihren Angaben fünfmal täglich) aromatischen Aminen ausgesetzt war, weil die Herstellung von Benzidin und Benzidin-abgeleiteten Farbstoffen im Jahr 1969/1970 eingestellt worden ist und sich die Verwendung von Benzidinfarbstoffen in Brillantine oder Pomade in der Literatur nicht belegen lässt, worauf bereits Prof. Dr. Dr. B. verwiesen hat.

Zur Abschätzung des Erkrankungsrisikos ist unter Berücksichtigung der Ausführungen von Prof. Dr. T. und dem BK-Report 1/2014 darüber hinaus zu berücksichtigen, dass keine gesicherten Erkenntnisse über den Einsatz von aromatischen Aminen und deren Einsatzkonzentrationen in früheren Friseurprodukten vorliegen. Die Höhe der täglichen Exposition ist nicht bekannt und kann - wie Prof. Dr. T. ausgeführt hat - auch retrospektiv nicht mehr ermittelt werden. Ferner ist der Umgang mit aromatischen Aminen im Friseurhandwerk im Vergleich zu anderen industriellen Arbeitsplätzen zwar regelmäßig und unter Umständen langfristig gewesen; dabei waren allerdings nur kleine Körperflächen betroffen, meist die Fingerspitzen und eventuell die Handinnenflächen. Darüber hinaus ist eine inhalative Aufnahme aufgrund der Arbeitsweise auszuschließen, weil Benzidin nicht verdampft oder als Staub auftritt. Bezogen auf die konkrete Tätigkeit der Klägerin ist zudem festzuhalten, dass der Senat mit Prof. Dr. Dr. B. und Prof. Dr. T. die Angaben der Klägerin, schon vom ersten Lehrjahr an täglich fünf bis zehn Haarfärbungen vorgenommen zu haben (bei einem Anteil zu bedienender Frauen von 60 % der Kundschaft), für überhöht hält. Auch die staatliche Gewerbeärztin Dr. G. hatte angegeben, dass Auszubildende erst im zweiten und dritten Lehrjahr mit dem Färben und Blondieren betraut wurden. Die Dauer der Einwirkung ist daher unter Berücksichtigung der Lehrzeit mit deutlich weniger als vier Jahren und zwei Monaten anzunehmen. Im Rahmen der Quantifizierung der Einwirkung ist auch einzustellen, dass die Klägerin - entgegen der damaligen Gepflogenheiten - zumindest bei dunklen Haarfarben Handschuhe getragen hat. Insoweit weist Prof. Dr. T. darauf hin, dass schwarze Haarfarben ein vergleichsweise höheres Krebsrisiko haben, die Klägerin einer Gefährdung deswegen jedenfalls nicht im selben Maße wie andere Friseure ausgesetzt war.

Schließlich kommen aber auch - ebenfalls nicht quantifizierbare - außerberufliche Ursachen in Betracht. Neben dem Inhalationsrauchen sind hier rezidivierende Harnblasenentzündungen, zu denen es regelmäßig in der Kindheit der Klägerin gekommen sein soll (vgl. Ausführungen Dr. S.), Virusinfektionen, intensiver Kaffeekonsum und - aufgrund von epidemiologischen Studien belegt - in der Umwelt vorkommende aromatische Amine, denen ein signifikanter Anteil für die Entstehung von Urothelkrebs in der Allgemeinbevölkerung zukommt, zu nennen. Diese werden vorwiegend mit der Nahrung aufgenommen (so Prof. Dr. T. in dessen Gutachten). Nach den aktuell zur Verfügung stehenden Krebszahlen erkrankten im Jahr 2010 15.600 Menschen an Blasenkrebs (vgl. Robert Koch Institut, Zentrum für Krebsregisterdaten, http://www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebs in Deutschland/kid 2013/krebs in deutschland 2013.html), wobei Männer ein größeres Risiko haben, an Blasenkrebs zu erkranken als Frauen. Bei dem Harnblasenkarzinom handelt es sich um den zweithäufigsten Urogenitaltumor, das Erkrankungsrisiko bis 75 Jahre beträgt für den Mann 2-3 % und 0,5-1 % für die Frau (vgl. http://www.urologielehrbuch.de/harnblase.html, Dr. Manski, Stand 2015, unter Harnblasenkarzinom). Jährlich erkranken in Deutschland 15.000 Menschen. Bezogen auf die Neuerkrankungsrate liegt der Blasenkrebs bei Männern an 5. und bei Frauen an 11. Stelle der Krebsstatistik. Die Inzidenz ist steigend (30 % innerhalb von 15 Jahren). Das Durchschnittsalter bei Diagnose liegt bei 65 Jahren, weniger als 1 % der Harnblasenkarzinome treten bei Patienten unter 40 Jahren auf (vgl. Dr. Manski a.a.O.).

Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 1. HS SGB VII sind Berufskrankheiten solche Krankheiten, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Hieraus und aus dem oben Ausgeführten ergibt sich, dass sich tatsächlich aus der Exposition eine signifikante Erhöhung des normalen statistischen Risikos ergeben muss. Bei der Formulierung des Tatbestandes der Berufskrankheit Nr. 1301 hat der Verordnungsgeber auf die Angabe eines konkreten Belastungsgrenzwerts verzichtet. Der Verzicht auf die Angabe konkreter Belastungsarten und Belastungsgrenzwerte bei der Formulierung von Berufskrankheiten-Tatbeständen geschah vielfach bewusst, um bei der späteren Rechtsanwendung Raum für die Berücksichtigung neuer, nach Erlass der Verordnung gewonnener oder bekannt gewordener Erkenntnisse zu lassen (BSG, Urteil vom 27.06.2006 - B 2 U 20/04 R -, in Juris Rn. 18 ff. m.w.N.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 07.09.2010 – L 1 U 2869/09 – in Juris Rn. 38).

Bei einzelnen Berufskrankheiten, insbesondere wenn es sich um Krebserkrankungen mit langen Latenzzeiten ohne nachvollziehbare Noxeneinlagerungen und ohne Brückenbefunde - wie hier - handelt, können Schlussfolgerungen über die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nur als generelle Aussagen, gestützt auf epidemiologisch-statistische Risikoabschätzungen ohne konkrete Bezugnahme auf beobachtete Umstände des Einzelfalls getroffen werden. Die Kausalitätsprüfung im Einzelfall muss also im Wesentlichen an den Erkenntnissen ausgerichtet werden, die für die Einführung des Berufskrankheiten-Tatbestands maßgebend waren und setzt grundsätzlich den epidemiologischen Nachweis einer sog. Risikoverdoppelung (relatives Risiko )2) in Bezug auf die fragliche Erkrankung voraus. Sofern die Expositionsbedingungen für eine Risikoverdoppelung in einem Erkrankungsfall vollständig erfüllt sind, spricht statistisch eine mehr als 50-prozentige Wahrscheinlichkeit dafür, dass die berufliche Exposition Ursache der Erkrankung ist. Umstände des Einzelfalls können diese abstrakte Schlussfolgerung in Frage stellen, z. B. eine ungewöhnlich lange oder kurze Latenzzeit oder konkurrierende unversicherte Noxen, wie z. B. das Rauchen (vgl. Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl., S. 68).

Solche medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse hat Prof. Dr. T. mit den von ihm wiedergegebenen Meta-Analysen, die Auskunft über ein Risiko für Harnblasenkrebs bei Friseuren geben, dargestellt. Er bestätigt aufgrund dieser Studien die bereits von Prof. Dr. Dr. B. vertretene Auffassung, eine berufliche Verursachung könne für das Entstehen des Blasenkarzinoms nicht hinreichend wahrscheinlich gemacht werden. Der Senat sieht keinen Grund, dies zu beanstanden. Danach ist aufgrund der vorliegenden epidemiologischen Studien (nach Auswertung von 100 Einzelstudien in der Meta-Analyse von Takkouche et. al. [2009] bzw. von Harling et. al. [2010] - 42 Studien) von einer Verdopplung des Erkrankungsrisikos nur bei solchen Beschäftigten auszugehen, die im Zeitraum vor 1980 für mindestens 10 Jahre regelmäßig als Friseur gearbeitet haben. Der Senat sieht angesichts der in ihrem Ausmaß nicht weiter bestimmbaren beruflichen Einwirkungen und unter Berücksichtigung der vergleichsweise kurzen Beschäftigungszeit von nur vier Jahren und zwei Monaten, in die zudem noch die Lehrzeit fiel und für die sich der Senat auch nicht von einem Umfang von fünf bis zehn Haarfärbungen pro Tag überzeugen konnte, sowie aufgrund des Kontaktes mit den Haarfärbemitteln nur im Bereich der Finger und der Handinnenflächen sowie des zusätzlichen Schutzes durch das Tragen von Handschuhen bei dem Auftragen von dunklen Haarfärbemitteln keine hinreichende Gefährdung, weswegen sich ein ursächlicher Zusammenhang auch nicht mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit begründen lässt. Dies steht in Übereinstimmung mit den vorliegenden gutachterlichen bzw. fachärztlichen Äußerungen. Denn insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass selbst die staatliche Gewerbeärztin G. nach Vorlage des Gutachtens von Prof. Dr. Dr. B. und nach zahlreichen Einwendungen im Hinblick auf die Äußerungen von Privatdozent Dr. N. die Anerkennung einer Berufskrankheit Nr. 1301 nicht mehr vorgeschlagen hat.

Soweit Dr. S. ausgehend von einer überdurchschnittlichen Expositionsmenge im Rahmen der von ihm in Übereinstimmung mit den Ausführungen von Privatdozent Dr. N., Prof. Dr. Dr. B. und Prof. Dr. T. als kurz beurteilten Expositionszeit bei einer - seiner Auffassung nach - hierzu nicht im Widerspruch stehenden Latenzzeit nur unter Berücksichtigung der individuellen Stoffwechselleistung von einem wahrscheinlichen Zusammenhang ausgeht, kann ihm nicht gefolgt werden. Der Senat hat schon - wie Prof. Dr. Dr. B. und Prof. Dr. T. - Zweifel an der Annahme einer überdurchschnittlichen Expositionsmenge, wie oben bereits ausgeführt wurde. Die von Dr. S. - im Wesentlichen - aber auf den Status der Klägerin als "langsame Acetyliererin" gestützte Kausalvermutung entspricht nicht mehr dem Stand der medizinischen Wissenschaft, worauf Prof. Dr. T. in seinem Gutachten hingewiesen und was durch den Artikel von Prof. Dr. A. et. al im IPA-Journal (01/2013, S. 18 ff.) "Aromatische Amine und Blasenkrebsrisiko - welche Rolle spielt der Acetyliererstatus", den der Senat den Beteiligten vor der Entscheidung zugeleitet hat, belegt wird. In der vom IPA durchgeführten Auswertung ergaben sich gerade keine klaren Hinweise auf eine Effektmodifikation durch den Acetyliererstatus. Darüber hinaus ergab sich aus diesen neueren Studien, dass in beruflich nicht spezifisch belasteten Kollektiven keine überzeugenden Hinweise dafür vorliegen, dass langsame Acetylierer im Vergleich zu schnellen Acetylierern per se ein erhöhtes Harnblasenkrebsrisiko haben. Damit ist aber das entscheidende Argument für die Anerkennung als Berufskrankheit, das Dr. S. angeführt hat, widerlegt und nicht (mehr) zu berücksichtigen, weshalb sich insoweit nichts Weiteres für einen beruflich bedingten Ursachenzusammenhang ableiten lässt.

Dass und in welchem Umfang die Klägerin Raucherin gewesen ist und ob die Latenzzeit für oder gegen den Ursachenzusammenhang spricht (Prof. Dr. T. vertritt im Gegensatz zu Dr. S. die Auffassung, dass die kurze Einwirkungsdauer und die lange Interimszeit eher gegen die Annahme als Berufskrankheit sprechen), braucht der Senat unter Berücksichtigung der oben gemachten Ausführungen deshalb nicht weiter zu beleuchten.

Nachdem das SG die Klage zu Recht abgewiesen hat, war die Berufung zurückzuweisen.

Hierauf und auf § 193 SGG beruht die Kostenentscheidung.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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