L 13 SB 139/13

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 5 SB 55/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 SB 139/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 7. Mai 2013 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 21. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2009 in der Fassung des angenommenen Teilanerkenntnisses vom 26. März 2015 verpflichtet, bei dem Kläger mit Wirkung ab September 2013 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist. Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Gerichtsverfahrens zu 1/3 zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Bei dem 1962 geborenen Kläger war 2006 ein Gesamt-GdB von 40 festgestellt worden. Der Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 9. Juli 2008, mit dem er auch das Merkzeichen "G" geltend machte, lehnte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen mit Bescheid vom 21. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2009 ab. Dem legte er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

- spinale Muskelatrophie (Einzel-GdB von 40), - Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Einzel-GdB von 10), - Funktionsbehinderung beider Kniegelenke (Einzel-GdB von 10).

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Potsdam hat der Kläger zunächst die Zuerkennung eines höheren GdB als 40 und das Merkzeichen "G" begehrt. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der behandelnden Ärzte das Gutachten des Ortho-päden und Chirurgen Dr. T vom 11. Mai 2011 eingeholt, der den Gesamt-GdB auf 40 eingeschätzt und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" verneint hat.

Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist die Neurologin PD Dr. F gehört worden. Im Gutachten vom 24. Januar 2013 hat sie einen Gesamt-GdB von 60 angenommen und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" bejaht.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat der Kläger sein Begehren auf die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" beschränkt.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 7. Mai 2013 abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, dass der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 habe. Insbesondere die spinale Muskelatrophie bedinge nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. T lediglich einen Einzel-GdB von 30, da deren Auswirkungen noch nicht als mittelgradig anzusehen seien. Der abweichenden Bewertung der Neurologin Dr. F werde nicht gefolgt, da dem Gutachten keine Untersuchungsbefunde zu entnehmen seien. Mangels Schwerbehinder-teneigenschaft des Klägers lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" nicht vor.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Klägers. Hierzu hat er den Arztbrief des Neurologen PD Dr. A vom 8. November 2013 und den Entlassungsbericht der Klinik H vom 29. Oktober 2013, in welcher der Kläger vom 19. September bis 10. Oktober 2013 stationär behandelt worden ist, vorgelegt.

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. S vom 29. April 2014. Der Sachverständige hat dargelegt, dass sich die bei dem Kläger bestehende muskuläre Erkrankung kontinuierlich verschlechtert habe. Diese Gesundheitsstörung sei mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten, wobei der genaue Zeitpunkt nicht eindeutig eingeschätzt werden könne. Vorgeschlagen werde die Anerkennung ab Mitte 2013. Von diesem Zeitpunkt an lägen auch die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" vor.

In der mündlichen Verhandlung vom 26. März 2015 hat der Beklagte erklärt, bei dem Kläger mit Wirkung ab September 2013 einen GdB von 50 anzuerkennen. Der Kläger hat dieses Teilanerkenntnis angenommen. Im Übrigen verfolgt er sein in erster Instanz geltend gemachtes Begehren weiter.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 7. Mai 2013 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 21. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2009 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung vom 1. Juli 2013 einen Grad der Behinderung von 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Er hält an seinen Entscheidungen fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung des Klägers ist zum Teil begründet.

1. Der Kläger kann die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 erst ab dem 1. September 2013 beanspruchen.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) zu bewerten, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in der Fassung von 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Form einer Rechtsverordnung in Kraft getreten, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. S hat sich die Muskelerkrankung des Klägers – und auch seine Mobilität – deutlich verschlechtert. Im Gegensatz zu den früheren Begutachtungen sind die funktionellen Beeinträchtigungen, die bei dem Kläger als Folge der muskulären Dystrophie/Atrophie bestehen, nunmehr erheblich. Auf Grund des Gesamtbildes, vor allem unter Berücksichtigung des pathologischen Gangbildes des Klägers und dessen erhöhter Erschöpfbarkeit, hat der Gutachter einen GdB von 50 vorgeschlagen. Dieser Bewertung hat der Beklagte sich in seinem Teilanerkenntnis zu Recht angeschlossen, und zwar mit Wirkung ab 1. September 2013. Hinsichtlich des noch streitigen Zeitraums vom 1. Juli 2013 bis zum 31. August 2013 hat der Senat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass bei dem Kläger ein höherer Einzel-GdB als 40 vorgelegen hat. Der Sachverständige Dr. S hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der genaue Zeitpunkt, von dem an die fortschreitende Muskelerkrankung einen Einzel-GdB von 50 bedingt, nicht eindeutig eingeschätzt werden könne.

Die Wirbelsäulenfunktionsstörung bei Verschleiß und der Kniegelenkverschleiß sind nach den Feststellungen des Sachverständigen, denen der Senat folgt, jeweils mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Der im streitbefangenen Zeitraum höchste Einzel-GdB von 40 für die muskuläre Erkrankung ist danach nicht heraufzusetzen. Denn die übrigen Funktionsbehinderungen des Klägers wirken sich nicht erhöhend aus, da sie jeweils nur mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten sind.

2. Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" ab 1. September 2013. Für den Zeitraum davor kommt die Zuerkennung des Merkzeichens schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger nicht schwerbehindert war.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Alternativ können sie nach § 3a Abs. 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz eine Ermäßigung der Kraftfahrzeugsteuer um 50 v. H. beanspruchen. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX).

Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Dem Kläger ist es nach den gutachterlichen Feststellungen nicht möglich, diese Strecke in der genannten Zeit zurückzulegen.

Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann. Das Gesetz fordert in § 145 Abs. 1 Satz 1, § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX darüber hinaus, dass Ursache der beeinträchtigten Bewegungsfähigkeit eine Behinderung des schwerbehinderten Menschen sein und diese Behinderung dessen Gehvermögen einschränken muss (sog. "doppelte Kausalität", siehe Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 7/06 R –, SozR 4-3250 § 146 Nr. 1). Hierzu hatte das Bundessozialgericht die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) herangezogen, die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten (so BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2). Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts gaben die AHP an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen mussten, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter infolge einer Einschränkung des Gehvermögens "in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist". Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass das menschliche Gehvermögen keine statische Messgröße ist, sondern von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird. Darunter sind neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also Körperbau und etwaige Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens (ökonomische Beanspruchung der Muskulatur, Gehtempo und Rhythmus) sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, zu nennen. Von diesen Faktoren filterten die AHP all jene heraus, die nach dem Gesetz außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des schwerbehinderten Menschen im Straßenverkehr nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung seines Gehvermögens, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen (vgl. BSG, Urteil vom 13. August 1997, a.a.O.).

Diese Grundsätze gelten auch auf der Grundlage der in der Anlage zu der am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" weiter, und zwar unabhängig davon, ob – wie überwiegend vertreten wird (so Dau, juris PR-SozR 4/2009, Anm. 4; Oppermann, in: Hauck/Noftz, GK SGB, Loseblattwerk Stand: 2013, Rn. 36a zu § 69 SGB IX; LSG Baden-Württemberg, seit Urteil vom 23. Juli 2010 – L 8 SB 3119/08 – in ständiger Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Januar 2014 – L 8 SB 2723/13 –; LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –; offen gelassen von: LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Oktober 2013 – L 10 SB 154/12 –; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 – L 11 SB 12/08 –) – die Vorschriften über die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" in Teil D Nr. 1d bis 1f der Anlage zu § 2 VersMedV mangels gesetzlicher Ermächtigungsgrundlage nichtig sind. Denn die in den AHP aufgestellten Kriterien wurden über Jahre hinweg sowohl von der Verwaltung als auch von den Gerichten in ständiger Übung angewandt, weshalb die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" als gewohnheitsrechtlich anerkannt zu betrachten sind (so auch LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 16. Dezember 2009 – L 10 SB 39/09 –). Hinzu kommt, dass mit ihrer Verrechtlichung durch die VersMedV keine Änderung des Rechtszustandes beabsichtigt war, da sie materiell die Regelungen zum Merkzeichen "G" unverändert aus den AHP übernommen hat.

Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die ortsübliche Wegstrecke "infolge einer Einschränkung des Gehvermögens" (§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) nicht möglich. Denn nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Dr. S wirken sich die aus der muskulären Erkrankung folgende Gesundheitsstörung – mit den genannten Regelbeispielen vergleichbar – auf die Gehfähigkeit des Klägers unmittelbar aus.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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