Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 13 SB 5251/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 5245/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. November 2013 aufgehoben sowie der Bescheid des Beklagten vom 27. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2012 abgeändert und der Beklagte verurteilt, den GdB mit 50 seit 23. Januar 2012 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.
Die am 04.04.1963 geborene Klägerin beantragte am 23.01.2012 die Feststellung ihres GdB. Sie legte die Atteste der Anästhesistin und Sportmedizinerin Dr. A. vom 05.05.2009, 05.01.2010 und 17.10.2011 sowie des Internisten Dr. B. vom April 2011 vor. Dr. A. berichtete über einen Arbeitsunfall aus dem Jahr 2004, der eine Geheinschränkung, einen Morbus Sudeck, entzündliche Prozesse und eine lokale Dystrophie hervorgerufen habe. Seit 2005 erfolge eine engmaschige Schmerztherapie. Die Klägerin leide im linken oberen Sprunggelenk an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) beziehungsweise einem Morbus Sudeck sowie einer Osteochondrosis dissecans im Stadium 1 bis 2. Außerdem liege eine medikamentös eingestellte hereditäre Hypercholesterinämie und eine wegen einer Ende März 2011 erfolgten Tumorerkrankung mit nachfolgender Schilddrüsentotalentfernung medikamentös eingestellte Hypothyreose vor. Dr. B. berichtete, dass die Klägerin kurz nach dem Arbeitsunfall Opfer einer Vergewaltigung durch ihren ehemaligen Partner geworden sei. Dr. C. bewertete in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 09.03.2012 eine Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks, ein chronisches Schmerzsyndrom und eine depressive Verstimmung mit einem GdB von 30. Sodann gelangte im Zusammenhang mit dem am 28.02.2012 weiteren gestellten Antrag das Attest des Dr. B. vom 14.11.2011 zur Akte. Mit Bescheid vom 27.03.2012 stellte der Beklagte den GdB mit 30 seit 23.01.2012 fest.
Hiergegen legte die Klägerin unter Vorlage der Atteste von Dr. A. und Dr. B. vom 03.04.2012 Widerspruch ein. Dr. A. berichtete erneut über den Morbus Sudeck im linken oberen Sprunggelenk, eine schwere trophische Störung mit Atrophie, Polyneuropathie, akut gestörtem Gangbild, Überreizung der Hüftgelenke durch Fehlbelastung, rezidivierende Teilausfälle des Nervus Ischiadicus und einem schweren chronischen Schmerzsyndrom mit medizinisch indizierter Drogenabhängigkeit sowie eine durch die Dauerschmerzen, den Verlust der Arbeitsfähigkeit, die Vergewaltigung und die stressige Weiterbildung bedingte Major-Depression. Dr. B. berichtete über ein Cervix-Karzinom mit totaler Hysterektomie im Jahr 1992 und eine seither erforderliche Hormonersatztherapie. Dr. C. hielt in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.05.2012 an der bisherigen GdB-Bewertung fest. Dr. B. berichtete in dem Befundbericht vom 15.06.2012, dass eine regelmäßige hausärztliche und schmerztherapeutische Fachbehandlung erfolge. Eine psychiatrische Mitbehandlung sei zur Zeit nicht erforderlich. Auf Anfrage des Beklagten teilte die für die Opferentschädigungs-Ansprüche zuständige Behörde mit, dass die Klägerin dort keinen Antrag gestellt habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.08.2012 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 24.09.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben.
Das SG hat die Internistin Dr. D. unter dem 02.04.2013, Dr. A. unter dem 04.04.2013 und Dr. B. unter dem 08.04.2013 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Dr. D. hat unter Vorlage des Arztbriefs der Chirurgischen Klinik des Diakonie-Klinikums E. vom 01.04.2011 und ihres Arztbriefs vom 09.05.2011 über die durch die im März 2011 erfolgte Schilddrüsenoperation notwendig gewordene lebenslange Thyroxin-Substitution berichtet. Dr. A. hat einen Erschöpfungszustand beschrieben und sich der versorgungsärztlichen GdB-Beurteilung angeschlossen. Dr. B. hat sich bezüglich seines hausärztlichen/internistischen Fachgebietes ebenfalls der versorgungsärztlichen Beurteilung angeschlossen. Ergänzend hat Dr. B. in seinen Schreiben vom 26.04.2013 und 20.06.2013 ausgeführt, trotz der im Jahr 1992 erfolgten Totalhysterektomie wegen eines Krebses am Gebärmutterhals mit Notwendigkeit einer lebenslangen Hormonersatztherapie erfolge keine regelmäßige fachgynäkologische Behandlung. Außerdem bestehe bei der Klägerin seit Jahren eine Erschöpfungsdepression. Das gesamte Krankheitsbild der Klägerin, vor allem ihr chronisches Schmerzsyndrom, weswegen sie in schmerztherapeutischer Behandlung sei, sowie ihre orthopädischen und gynäkologischen Erkrankungen ließen es gerechtfertigt erscheinen, den GdB mit 50 festzustellen.
Mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei gesundheitlich im Bereich des linken Sprunggelenks sowie der Psyche und durch Schmerzen beeinträchtigt. Aus den damit verbundenen, nachgewiesenen Funktionseinschränkungen lasse sich zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt kein höherer GdB als 30 feststellen.
Hiergegen hat die Klägerin am 05.12.2013 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie hat ausgeführt, eine kurative Behandlung der Folgen des Arbeitsunfalls aus dem Jahr 2004 sei nicht mehr möglich. Wegen des Morbus Sudeck im Sprunggelenk sei aber eine dauerhafte Schmerztherapie erforderlich. Wegen des Dauerschmerzes und der Folgen einer Vergewaltigung sei eine Depressionssymptomatik ausgelöst worden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. November 2013 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 27. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den GdB mit mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat Dipl.-Psych. F. unter dem 27.03.2014 schriftlich als sachverständige Zeugin gehört. Sie hat ausgeführt, die Klägerin sei zwischen dem 19.11.2013 und dem 27.03.2014 insgesamt sechsmal zu Beratungsgesprächen im Frauenberatungs- und Therapiezentrum E. e.V. erschienen.
Am 07.05.2014 ist der Rechtsstreit mit den Beteiligen erörtert worden.
Sodann hat der Senat von Amts wegen das Gutachten der Psychotherapeutin und Sozialmedizinerin Dr. M.-N. vom 15.09.2014 eingeholt. Ihr gegenüber hat die Klägerin über eine im Jahr 1991 erfolgte Unterleibstotaloperation wegen Gebärmutterhalskrebs, eine Behandlung durch Chemotherapie und Bestrahlungen wegen eines im Jahr 1998 diagnostizierten und bisher rezidivfrei verlaufenen Non-Hodgkin-Lymphoms, einen im Jahr 2004 erlittenen Arbeitsunfall mit Sprunggelenksfraktur und Achillessehnenverletzung und eine in dieser hilflosen Situation erfolgten Vergewaltigung durch den ehemaligen Lebenspartner berichtet. Seither habe sie sich sozial zurückgezogen. Eine ambulante Psychotherapie erfolge nicht. Die Schmerzen im Sprunggelenk hätten mit Schwellneigung angehalten. Deswegen sei sie in schmerztherapeutischer Behandlung. Im Jahr 2011 sei eine Schilddrüsenentfernung erfolgt. Sie habe zwei Kinder und sei geschieden. Sie lebe in dem G.-H.-Haus für wohnsitzlose Frauen in einer "Mini"-Wohnung. Seit dem Arbeitsunfall sei sie arbeitslos. Sie leide an einer "managebaren" Dauerdepression. Nach der Vergewaltigung sei sie depressiv geworden, was sich nur teilweise gebessert habe. Sie habe sich sozial abgekapselt und sei seither keine Männerbeziehung mehr eingegangen. Wenn ein Mann ihr näherkomme, bekomme sie Panik. Dies sei anfänglich, zum Beispiel auch bei in einem Bus anwesenden Männern, dauernd der Fall gewesen. Jetzt geschehe dies noch, wenn ihr ein Mann im Haus zu nahe komme. Die Angst steige dann auf, sie werde starr und hilflos. Sie sei antriebslos, traurig und mutlos. Seit der Vergewaltigung habe sie immer wieder Suizidgedanken. Der Krieg mit den Ämtern habe ihr den Boden weggezogen. Sie wolle eigentlich ihre Ruhe haben, aber sie müsse nach einer Wohnung und Arbeit suchen. Der soziale Rückzug sei sehr ausgeprägt, was ihr Sorge mache. Sie müsse sich richtig dazu zwingen, raus zu gehen. Sie habe Schmerzen im linken Fußgelenk, seit sich nach dem Arbeitsunfall ein Morbus Sudeck entwickelt habe. Es bestehe eine Schwellneigung. Sie habe einen Schongang und dadurch eine Fehlhaltung der Wirbelsäule und Rückenschmerzen, besonders nachts in Ruhe. Bei Schwellung stelle sich auch eine Taubheit ein. Es würden auch Teilchen im und am Gelenk reiben. Sie sei wegen des Sprunggelenks in Schmerztherapie. Schmerzfrei sei sie nicht. Sie sei jedoch schmerzerträglich eingestellt. Sie sei dadurch jedoch insgesamt gedämpft. Sie besuche einmal in der Woche eine im Haus angebotene Malgruppe und einmal im Monat eine Handarbeitsgruppe. Ferner habe sie eine gute Freundin. Zum Vater habe sie nur telefonisch Kontakt. Mit beiden Töchtern stehe sie auch in Kontakt. Nach dem Aufstehen mache sie ihre Morgentoilette, frühstücke und mache sauber. Danach habe sie viele Termine und begebe sich auf Wohnungssuche. Ferner suche sie eine Arbeit als Pflegedienstleitung. Sie nehme Arzttermine wahr und zwinge sich vor die Tür. Sie koche, kaufe ein und wasche. Abends lese sie oder schaue sie fern. Die Sachverständige hat eine histrionische Persönlichkeitsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Wegen dieser nehme sie zahlreiche stark wirksame, auch abhängig machende Substanzen. Das umfängliche Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung finde sich jetzt nicht. Deutliche depressive Symptome hätten sich nicht finden lassen. Die anhaltende Symptomatik der psychischen Erkrankungen, besonders die schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, beeinträchtigten die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin wesentlich. Sie sei in der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihres Berufs und ihres Lebens stark eingeschränkt, leide unter den Folgen und habe sich sozial zurückgezogen. Eine sozialarbeiterische Begleitung sei sinnvoll und notwendig. Die bestehenden Behandlungsmöglichkeiten würden sowohl psychopharmakologisch als auch psychotherapeutisch nicht ausgeschöpft, was an der fehlenden Krankheitseinsicht und eingeschränkten Selbstwahrnehmung, die wiederum krankheitsbedingt sei, liege. Nach dem Ergebnis der jetzigen Untersuchung finde sich in der histrionischen Persönlichkeitsstörung mit querulatorischen Anteilen eine schwere Störung. Diese sei mit einem GdB von 60 zu bewerten. Es bestünden mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten mit erheblicher Beeinträchtigung der sozialen Funktionen und der Integration, was sich an der sozialen Lage der Klägerin mit Arbeits- und Wohnungslosigkeit zeige. Der Klägerin sei es aufgrund ihrer psychischen Störungen trotz guter Ausbildung in einem gefragten Berufsfeld nicht möglich, einen Arbeitsplatz zu finden. Auch die Wohnungssuche sei hierdurch sehr erschwert. Das Lymphom sei rezidivfrei. Der Hormonstatus könne medikamentös reguliert werden, so dass keine GdB-Bewertung in Frage komme. Dem Gutachten ist ein Bericht des Dipl.-Päd. K. vom 14.11.2011 beigefügt worden, in dem berichtet worden ist, dass die Klägerin bei Schwankungen ihrer körperlichen und seelischen Verfassung recht ordentlich habe stabilisiert werden können.
Dr. L. hat in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.01.2015 ausgeführt, der GdB-Bewertung der Dr. M.-N. könne nicht gefolgt werden. Zu ergänzen sei ein Verlust der Gebärmutter sowie der Eierstöcke mit einem Einzel-GdB von 10. Eine ambulante Psychotherapie werde nicht durchgeführt, da auch die behandelnde Schmerztherapeutin hierzu nicht geraten habe. Unter der derzeitigen Behandlung würden auch opiathaltige Medikamente angegeben, eine Wirkspiegelbestimmung sei nicht erfolgt. Des Weiteren werde bezüglich des Arbeitsunfalls mitgeteilt, dass nach Gerichtsverfahren eine Verletztenrente nicht zuerkannt worden sei. Bis auf ein Benzodiazepin bei Bedarf zur Nacht würden Psychopharmaka in der Medikamentenanamnese nicht aufgeführt. Unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befundes könne eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen nicht abgeleitet werden. Auch ein vermehrter sozialer Rückzug sei nicht erkennbar. Der Tagesablauf sei strukturiert. Berücksichtige man die Schmerzsymptomatik, so sei unter zusammenfassender Bewertung ein Einzel-GdB von 30 weiterhin vertretbar. Ein höherer Einzel-GdB ergebe sich jedoch nicht, da weder eine enge fachpsychiatrische Behandlung noch eine Psychotherapie oder eine entsprechende Pharmakotherapie erfolge, so dass von einem wesentlich höheren Leidensdruck, als er mit einem Einzel-GdB von 30 berücksichtigt worden sei, nicht angenommen werden könne. So werde auch im Gutachten ausgeführt, dass sich bei der Untersuchung deutliche depressive Symptome nicht gefunden hätten. Die Verhaltensstörung sei in dem Einzel-GdB von 30 ausreichend hoch berücksichtigt. Auch würden noch therapeutische Ressourcen gesehen, indem die analgetische Therapie mittels Psychotherapie unterstützt beziehungsweise modifiziert werde. Da bezüglich einer Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks objektive Messwerte nicht vorlägen, sei davon auszugehen, dass insgesamt ein GdB von 30 vorliege.
Der Senat hat die in dem unfallversicherungsrechtlichen Rechtsstreit angefallenen Akten beigezogen. Darin enthalten ist unter anderem das Gutachten des Dr. O., Chefarzt der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des P.-Krankenhauses, vom 02.06.2009 zu der Frage der Unfallursächlichkeit eines Knöchelbruchs, einer Osteochondrosis dissecans, von Erkrankungen an der Achillessehne und einer Schmerzproblematik.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, zum 01.03.2015 eine Wohnung gefunden zu haben. Zum Tagesablauf befragt, hat sie angegeben, nach dem Aufstehen und Frühstücken ihren Haushalt zu erledigen, Ärzte aufzusuchen und Einkäufe durchzuführen. Nachmittags suche sie beispielsweise Bibliotheken auf und schreibe Bewerbungen. Das Aufrechterhalten dieses Tagesablaufs falle ihr nicht leicht, da sie unter Schmerzen leide. So träten auch Zeiten von drei bis fünf Tagen auf, in denen sie sich nur im Bett oder auf der Coach aufhalten oder nur auf Krücken gehen könne. Hierdurch sei sie auch psychisch beeinträchtigt. Sie stehe in laufender 14tägiger schmerztherapeutischer sowie regelmäßiger hausärztlicher Behandlung und werde sozialtherapeutisch betreut. Ihr sei auch schon das Antidepressivum Mirtapezin verordnet worden. Derzeit stehe sie im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie suche eine Arbeitsstelle als Pflegedienstleiterin ohne körperliche Pflegearbeiten. Sie habe einen kleinen Bekanntenkreis und habe nur telefonischen Kontakt zu ihrem in Rheinland-Pfalz lebenden Vater und ihren in Q. und den USA lebenden beiden Töchtern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG vom 18.11.2013, mit dem die auf die Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 27.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.2012 und auf Verurteilung des Beklagten, den GdB mit mindestens 50 festzustellen, gerichtete Klage abgewiesen worden ist. Die Klägerin erstrebt neben der Aufhebung dieses Gerichtsbescheides des SG die Abänderung dieses Bescheides des Beklagten und dessen Verpflichtung, bei ihr den GdB mit mindestens 50 festzustellen. Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Feststellung des GdB ist § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist hierbei gemäß § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX nur dann zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der Fassung ab 15.01.2015 (BGBl. II S. 15) wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden, indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der Fassung ab 15.01.2015 (BGBl. II S. 15), dass - soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist - die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der Fassung ab 01.07.2011 (BGBl. I S. 2904) erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I 2904), 14.07.2010 (BGBl. I 928), 17.12.2010 (BGBl. I 2124), 28.10.2011 (BGBl. I 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I 2122) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - nach den den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. a in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind. Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist bei der Klägerin der Gesamt-GdB mit 50 festzustellen.
Im Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" beträgt der Einzel-GdB der Klägerin 50. Die Sachverständige Dr. M.-N. hat überzeugend dargelegt, dass die Klägerin an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit querulatorischen Anteilen und einer somatoformen Schmerzstörung leidet. Diese Erkrankungen bedingen eine nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 mit einem GdB von 50 zu bewertende schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Die Sachverständige hat dargelegt, dass die Klägerin zahlreiche stark wirksame, auch abhängig machende Substanzen zu sich nimmt und die anhaltende Symptomatik der psychischen Erkrankungen, besonders die schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, ihre Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Dass die Klägerin in der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihres Berufs und ihres Lebens stark eingeschränkt ist, unter den Folgen leidet und sich sozial zurückgezogen hat, hat die Sachverständige für den Senat schlüssig und gut nachvollziehbar begründet. So lebte die seit dem Jahr 2004 arbeitslose, geschiedene Klägerin in einer kleinen Wohnung eines Hauses für wohnsitzlose Frauen. Zwar hat sie nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung inzwischen eine andere Wohnung gefunden. Sie lebt aber mit Ausnahme ihres telefonischen Kontakts zu ihrem Vater und zu ihren beiden Töchtern, von Gesprächen mit einer guten Freundin sowie der Wahrnehmung diverser Arzttermine weiterhin sozial isoliert und ist alleinstehend. Sie wirkte in der gutachterlichen Untersuchungssituation antriebslos, traurig sowie mutlos und hat sich nach ihren Angaben gegenüber der Sachverständigen immer wieder mit Suizidgedanken getragen. Wegen der aufgrund der somatoformen Schmerzstörung empfundenen Schwellneigung hat sie einen Schongang und dadurch eine Fehlhaltung der Wirbelsäule und Rückenschmerzen entwickelt, befindet sie sich in einer Schmerztherapie und nimmt dauerhaft Schmerzmedikamente. Damit handelt es sich um mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, die der Sachverständigenbeirat annimmt, wenn eine sich in den meisten Berufen im Sinne einer verminderten Einsatzfähigkeit auswirkende sowie durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung zu erheblichen familiären Problemen führende psychische Veränderung vorliegt (Beiratsprotokoll vom 18./19.03.1998, vergleiche Wendler in Schwerbehindertenrecht, VdK-Kommentar, 3. Auflage, Stand Januar 2006, zu AHP Nr. 26.3, S. 144). Auch die Sachverständige hat bei ihrer Bewertung auf die soziale Lage der Klägerin mit Arbeits- und Wohnungslosigkeit abgestellt und zutreffend dargelegt, dass es der Klägerin aufgrund ihrer psychischen Störungen trotz guter Ausbildung in einem gefragten Berufsfeld nicht möglich gewesen ist, einen Arbeitsplatz zu finden, und hierdurch auch die Wohnungssuche sehr erschwert ist. Zwar ist die Klägerin inzwischen nicht mehr wohnungslos. Dennoch folgt der Senat nicht der versorgungsärztlichen Einschätzung des Dr. L., unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befundes könne eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen nicht abgeleitet werden. Zwar wird tatsächlich keine ambulante Psychotherapie durchgeführt. Allerdings hat die Klägerin in jüngster Vergangenheit bei Dipl.-Psych. F. an Beratungsgesprächen des Frauen- und Beratungszentrums E. teilgenommen und steht bei Dr. A. in laufender schmerztherapeutischer Behandlung, so dass von einem wesentlichen Leidensdruck eben doch ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass nach Ansicht des Senat die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung auf die mangelnde Krankheitseinsicht der Klägerin zurückzuführen und damit gerade Bestandteil ihres Krankheitsbildes ist. Dass ein vermehrter sozialer Rückzug nicht erkennbar sei, trifft - wie oben dargelegt - nicht zu. Zwar kann der Tagesablauf durchaus als "strukturiert" bezeichnet werden, allerdings ist dieser lediglich von Aufstehen, Machen der Morgentoilette, Frühstücken, Saubermachen, Wahrnehmen von Arztterminen, Arbeitsuche, Kochen, Waschen und Einkaufen, Aufsuchen von Bibliotheken und Schreiben von Bewerbungen sowie am Abend Lesen und Fernsehen, also den eher elementaren Dingen des alltäglichen Lebens geprägt. Auch hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat den Eindruck erweckt, dass sie ihr Leben "im Griff" hat. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dies Ausdruck der vorhandenen histrionischen Persönlichkeitsstörung ist. Zu den diagnostischen Kriterien gehören u.a. dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten, Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, verführerisch ist die Erscheinung. Ferner sind bei der Klägerin querulatorische Züge vorhanden, was zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit Ämtern und gerichtlichen Verfahren geführt hat. Diese psychische Erkrankung (F60.4 ICD-10-GM 2015) führt zu ganz erheblichen sozialen Problemen, sowohl im Arbeitsumfeld als auch privat. Ferner ist die Realitätswahrnehmung beeinträchtigt, sowohl was andere, die eigene Person als auch Situationen betrifft und es findet sich eine verminderte geistig-seelische Belastbarkeit. Allerdings hält es der Senat entgegen der Einschätzung der Sachverständigen aufgrund des Eindrucks der Klägerin in der mündlichen Verhandlung für ausreichend, ihre psychische Erkrankung im unteren Bereich des von den VG, Teil B, Nr. 3.7 eröffneten GdB-Rahmens zwischen 50 und 70 einzustufen.
Ferner liegt bei der Klägerin, insoweit von Dr. L. zutreffend bewertet, wegen des Verlustes der Gebärmutter sowie der Eierstöcke im Funktionssystem "Geschlechtsorgane" nach den VG, Teil B, Nr. 14.2 und 14.3 ein Einzel-GdB von 10 vor.
Unter Berücksichtigung der dargelegten Einzel-GdB-Werte (Einzel-GdB 50 für das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" und Einzel-GdB 10 für das Funktionssystem "Geschlechtsorgane") beträgt der Gesamt-GdB 50.
Nach alledem waren auf die Berufung der Klägerin der angegriffene Gerichtsbescheid aufzuheben sowie die streitgegenständlichen Bescheide abzuändern und der Beklagte zu verurteilen, den GdB mit 50 seit 23.01.2012, dem Datum der Antragstellung, festzustellen. Da die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50, mithin auch einen weitergehenden GdB beantragt hat, war die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin mit ihrem Begehren weitgehend erfolgreich gewesen ist.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Der Beklagte trägt drei Viertel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.
Die am 04.04.1963 geborene Klägerin beantragte am 23.01.2012 die Feststellung ihres GdB. Sie legte die Atteste der Anästhesistin und Sportmedizinerin Dr. A. vom 05.05.2009, 05.01.2010 und 17.10.2011 sowie des Internisten Dr. B. vom April 2011 vor. Dr. A. berichtete über einen Arbeitsunfall aus dem Jahr 2004, der eine Geheinschränkung, einen Morbus Sudeck, entzündliche Prozesse und eine lokale Dystrophie hervorgerufen habe. Seit 2005 erfolge eine engmaschige Schmerztherapie. Die Klägerin leide im linken oberen Sprunggelenk an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) beziehungsweise einem Morbus Sudeck sowie einer Osteochondrosis dissecans im Stadium 1 bis 2. Außerdem liege eine medikamentös eingestellte hereditäre Hypercholesterinämie und eine wegen einer Ende März 2011 erfolgten Tumorerkrankung mit nachfolgender Schilddrüsentotalentfernung medikamentös eingestellte Hypothyreose vor. Dr. B. berichtete, dass die Klägerin kurz nach dem Arbeitsunfall Opfer einer Vergewaltigung durch ihren ehemaligen Partner geworden sei. Dr. C. bewertete in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 09.03.2012 eine Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks, ein chronisches Schmerzsyndrom und eine depressive Verstimmung mit einem GdB von 30. Sodann gelangte im Zusammenhang mit dem am 28.02.2012 weiteren gestellten Antrag das Attest des Dr. B. vom 14.11.2011 zur Akte. Mit Bescheid vom 27.03.2012 stellte der Beklagte den GdB mit 30 seit 23.01.2012 fest.
Hiergegen legte die Klägerin unter Vorlage der Atteste von Dr. A. und Dr. B. vom 03.04.2012 Widerspruch ein. Dr. A. berichtete erneut über den Morbus Sudeck im linken oberen Sprunggelenk, eine schwere trophische Störung mit Atrophie, Polyneuropathie, akut gestörtem Gangbild, Überreizung der Hüftgelenke durch Fehlbelastung, rezidivierende Teilausfälle des Nervus Ischiadicus und einem schweren chronischen Schmerzsyndrom mit medizinisch indizierter Drogenabhängigkeit sowie eine durch die Dauerschmerzen, den Verlust der Arbeitsfähigkeit, die Vergewaltigung und die stressige Weiterbildung bedingte Major-Depression. Dr. B. berichtete über ein Cervix-Karzinom mit totaler Hysterektomie im Jahr 1992 und eine seither erforderliche Hormonersatztherapie. Dr. C. hielt in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15.05.2012 an der bisherigen GdB-Bewertung fest. Dr. B. berichtete in dem Befundbericht vom 15.06.2012, dass eine regelmäßige hausärztliche und schmerztherapeutische Fachbehandlung erfolge. Eine psychiatrische Mitbehandlung sei zur Zeit nicht erforderlich. Auf Anfrage des Beklagten teilte die für die Opferentschädigungs-Ansprüche zuständige Behörde mit, dass die Klägerin dort keinen Antrag gestellt habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 29.08.2012 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.
Hiergegen hat die Klägerin am 24.09.2012 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben.
Das SG hat die Internistin Dr. D. unter dem 02.04.2013, Dr. A. unter dem 04.04.2013 und Dr. B. unter dem 08.04.2013 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Dr. D. hat unter Vorlage des Arztbriefs der Chirurgischen Klinik des Diakonie-Klinikums E. vom 01.04.2011 und ihres Arztbriefs vom 09.05.2011 über die durch die im März 2011 erfolgte Schilddrüsenoperation notwendig gewordene lebenslange Thyroxin-Substitution berichtet. Dr. A. hat einen Erschöpfungszustand beschrieben und sich der versorgungsärztlichen GdB-Beurteilung angeschlossen. Dr. B. hat sich bezüglich seines hausärztlichen/internistischen Fachgebietes ebenfalls der versorgungsärztlichen Beurteilung angeschlossen. Ergänzend hat Dr. B. in seinen Schreiben vom 26.04.2013 und 20.06.2013 ausgeführt, trotz der im Jahr 1992 erfolgten Totalhysterektomie wegen eines Krebses am Gebärmutterhals mit Notwendigkeit einer lebenslangen Hormonersatztherapie erfolge keine regelmäßige fachgynäkologische Behandlung. Außerdem bestehe bei der Klägerin seit Jahren eine Erschöpfungsdepression. Das gesamte Krankheitsbild der Klägerin, vor allem ihr chronisches Schmerzsyndrom, weswegen sie in schmerztherapeutischer Behandlung sei, sowie ihre orthopädischen und gynäkologischen Erkrankungen ließen es gerechtfertigt erscheinen, den GdB mit 50 festzustellen.
Mit Gerichtsbescheid vom 18.11.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt, die Klägerin sei gesundheitlich im Bereich des linken Sprunggelenks sowie der Psyche und durch Schmerzen beeinträchtigt. Aus den damit verbundenen, nachgewiesenen Funktionseinschränkungen lasse sich zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt kein höherer GdB als 30 feststellen.
Hiergegen hat die Klägerin am 05.12.2013 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie hat ausgeführt, eine kurative Behandlung der Folgen des Arbeitsunfalls aus dem Jahr 2004 sei nicht mehr möglich. Wegen des Morbus Sudeck im Sprunggelenk sei aber eine dauerhafte Schmerztherapie erforderlich. Wegen des Dauerschmerzes und der Folgen einer Vergewaltigung sei eine Depressionssymptomatik ausgelöst worden.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. November 2013 aufzuheben, den Bescheid des Beklagten vom 27. März 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. August 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, den GdB mit mindestens 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat Dipl.-Psych. F. unter dem 27.03.2014 schriftlich als sachverständige Zeugin gehört. Sie hat ausgeführt, die Klägerin sei zwischen dem 19.11.2013 und dem 27.03.2014 insgesamt sechsmal zu Beratungsgesprächen im Frauenberatungs- und Therapiezentrum E. e.V. erschienen.
Am 07.05.2014 ist der Rechtsstreit mit den Beteiligen erörtert worden.
Sodann hat der Senat von Amts wegen das Gutachten der Psychotherapeutin und Sozialmedizinerin Dr. M.-N. vom 15.09.2014 eingeholt. Ihr gegenüber hat die Klägerin über eine im Jahr 1991 erfolgte Unterleibstotaloperation wegen Gebärmutterhalskrebs, eine Behandlung durch Chemotherapie und Bestrahlungen wegen eines im Jahr 1998 diagnostizierten und bisher rezidivfrei verlaufenen Non-Hodgkin-Lymphoms, einen im Jahr 2004 erlittenen Arbeitsunfall mit Sprunggelenksfraktur und Achillessehnenverletzung und eine in dieser hilflosen Situation erfolgten Vergewaltigung durch den ehemaligen Lebenspartner berichtet. Seither habe sie sich sozial zurückgezogen. Eine ambulante Psychotherapie erfolge nicht. Die Schmerzen im Sprunggelenk hätten mit Schwellneigung angehalten. Deswegen sei sie in schmerztherapeutischer Behandlung. Im Jahr 2011 sei eine Schilddrüsenentfernung erfolgt. Sie habe zwei Kinder und sei geschieden. Sie lebe in dem G.-H.-Haus für wohnsitzlose Frauen in einer "Mini"-Wohnung. Seit dem Arbeitsunfall sei sie arbeitslos. Sie leide an einer "managebaren" Dauerdepression. Nach der Vergewaltigung sei sie depressiv geworden, was sich nur teilweise gebessert habe. Sie habe sich sozial abgekapselt und sei seither keine Männerbeziehung mehr eingegangen. Wenn ein Mann ihr näherkomme, bekomme sie Panik. Dies sei anfänglich, zum Beispiel auch bei in einem Bus anwesenden Männern, dauernd der Fall gewesen. Jetzt geschehe dies noch, wenn ihr ein Mann im Haus zu nahe komme. Die Angst steige dann auf, sie werde starr und hilflos. Sie sei antriebslos, traurig und mutlos. Seit der Vergewaltigung habe sie immer wieder Suizidgedanken. Der Krieg mit den Ämtern habe ihr den Boden weggezogen. Sie wolle eigentlich ihre Ruhe haben, aber sie müsse nach einer Wohnung und Arbeit suchen. Der soziale Rückzug sei sehr ausgeprägt, was ihr Sorge mache. Sie müsse sich richtig dazu zwingen, raus zu gehen. Sie habe Schmerzen im linken Fußgelenk, seit sich nach dem Arbeitsunfall ein Morbus Sudeck entwickelt habe. Es bestehe eine Schwellneigung. Sie habe einen Schongang und dadurch eine Fehlhaltung der Wirbelsäule und Rückenschmerzen, besonders nachts in Ruhe. Bei Schwellung stelle sich auch eine Taubheit ein. Es würden auch Teilchen im und am Gelenk reiben. Sie sei wegen des Sprunggelenks in Schmerztherapie. Schmerzfrei sei sie nicht. Sie sei jedoch schmerzerträglich eingestellt. Sie sei dadurch jedoch insgesamt gedämpft. Sie besuche einmal in der Woche eine im Haus angebotene Malgruppe und einmal im Monat eine Handarbeitsgruppe. Ferner habe sie eine gute Freundin. Zum Vater habe sie nur telefonisch Kontakt. Mit beiden Töchtern stehe sie auch in Kontakt. Nach dem Aufstehen mache sie ihre Morgentoilette, frühstücke und mache sauber. Danach habe sie viele Termine und begebe sich auf Wohnungssuche. Ferner suche sie eine Arbeit als Pflegedienstleitung. Sie nehme Arzttermine wahr und zwinge sich vor die Tür. Sie koche, kaufe ein und wasche. Abends lese sie oder schaue sie fern. Die Sachverständige hat eine histrionische Persönlichkeitsstörung und eine somatoforme Schmerzstörung diagnostiziert. Wegen dieser nehme sie zahlreiche stark wirksame, auch abhängig machende Substanzen. Das umfängliche Bild einer posttraumatischen Belastungsstörung finde sich jetzt nicht. Deutliche depressive Symptome hätten sich nicht finden lassen. Die anhaltende Symptomatik der psychischen Erkrankungen, besonders die schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, beeinträchtigten die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit der Klägerin wesentlich. Sie sei in der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihres Berufs und ihres Lebens stark eingeschränkt, leide unter den Folgen und habe sich sozial zurückgezogen. Eine sozialarbeiterische Begleitung sei sinnvoll und notwendig. Die bestehenden Behandlungsmöglichkeiten würden sowohl psychopharmakologisch als auch psychotherapeutisch nicht ausgeschöpft, was an der fehlenden Krankheitseinsicht und eingeschränkten Selbstwahrnehmung, die wiederum krankheitsbedingt sei, liege. Nach dem Ergebnis der jetzigen Untersuchung finde sich in der histrionischen Persönlichkeitsstörung mit querulatorischen Anteilen eine schwere Störung. Diese sei mit einem GdB von 60 zu bewerten. Es bestünden mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten mit erheblicher Beeinträchtigung der sozialen Funktionen und der Integration, was sich an der sozialen Lage der Klägerin mit Arbeits- und Wohnungslosigkeit zeige. Der Klägerin sei es aufgrund ihrer psychischen Störungen trotz guter Ausbildung in einem gefragten Berufsfeld nicht möglich, einen Arbeitsplatz zu finden. Auch die Wohnungssuche sei hierdurch sehr erschwert. Das Lymphom sei rezidivfrei. Der Hormonstatus könne medikamentös reguliert werden, so dass keine GdB-Bewertung in Frage komme. Dem Gutachten ist ein Bericht des Dipl.-Päd. K. vom 14.11.2011 beigefügt worden, in dem berichtet worden ist, dass die Klägerin bei Schwankungen ihrer körperlichen und seelischen Verfassung recht ordentlich habe stabilisiert werden können.
Dr. L. hat in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 22.01.2015 ausgeführt, der GdB-Bewertung der Dr. M.-N. könne nicht gefolgt werden. Zu ergänzen sei ein Verlust der Gebärmutter sowie der Eierstöcke mit einem Einzel-GdB von 10. Eine ambulante Psychotherapie werde nicht durchgeführt, da auch die behandelnde Schmerztherapeutin hierzu nicht geraten habe. Unter der derzeitigen Behandlung würden auch opiathaltige Medikamente angegeben, eine Wirkspiegelbestimmung sei nicht erfolgt. Des Weiteren werde bezüglich des Arbeitsunfalls mitgeteilt, dass nach Gerichtsverfahren eine Verletztenrente nicht zuerkannt worden sei. Bis auf ein Benzodiazepin bei Bedarf zur Nacht würden Psychopharmaka in der Medikamentenanamnese nicht aufgeführt. Unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befundes könne eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen nicht abgeleitet werden. Auch ein vermehrter sozialer Rückzug sei nicht erkennbar. Der Tagesablauf sei strukturiert. Berücksichtige man die Schmerzsymptomatik, so sei unter zusammenfassender Bewertung ein Einzel-GdB von 30 weiterhin vertretbar. Ein höherer Einzel-GdB ergebe sich jedoch nicht, da weder eine enge fachpsychiatrische Behandlung noch eine Psychotherapie oder eine entsprechende Pharmakotherapie erfolge, so dass von einem wesentlich höheren Leidensdruck, als er mit einem Einzel-GdB von 30 berücksichtigt worden sei, nicht angenommen werden könne. So werde auch im Gutachten ausgeführt, dass sich bei der Untersuchung deutliche depressive Symptome nicht gefunden hätten. Die Verhaltensstörung sei in dem Einzel-GdB von 30 ausreichend hoch berücksichtigt. Auch würden noch therapeutische Ressourcen gesehen, indem die analgetische Therapie mittels Psychotherapie unterstützt beziehungsweise modifiziert werde. Da bezüglich einer Funktionsbehinderung des linken Sprunggelenks objektive Messwerte nicht vorlägen, sei davon auszugehen, dass insgesamt ein GdB von 30 vorliege.
Der Senat hat die in dem unfallversicherungsrechtlichen Rechtsstreit angefallenen Akten beigezogen. Darin enthalten ist unter anderem das Gutachten des Dr. O., Chefarzt der Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie des P.-Krankenhauses, vom 02.06.2009 zu der Frage der Unfallursächlichkeit eines Knöchelbruchs, einer Osteochondrosis dissecans, von Erkrankungen an der Achillessehne und einer Schmerzproblematik.
Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, zum 01.03.2015 eine Wohnung gefunden zu haben. Zum Tagesablauf befragt, hat sie angegeben, nach dem Aufstehen und Frühstücken ihren Haushalt zu erledigen, Ärzte aufzusuchen und Einkäufe durchzuführen. Nachmittags suche sie beispielsweise Bibliotheken auf und schreibe Bewerbungen. Das Aufrechterhalten dieses Tagesablaufs falle ihr nicht leicht, da sie unter Schmerzen leide. So träten auch Zeiten von drei bis fünf Tagen auf, in denen sie sich nur im Bett oder auf der Coach aufhalten oder nur auf Krücken gehen könne. Hierdurch sei sie auch psychisch beeinträchtigt. Sie stehe in laufender 14tägiger schmerztherapeutischer sowie regelmäßiger hausärztlicher Behandlung und werde sozialtherapeutisch betreut. Ihr sei auch schon das Antidepressivum Mirtapezin verordnet worden. Derzeit stehe sie im Bezug von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Sie suche eine Arbeitsstelle als Pflegedienstleiterin ohne körperliche Pflegearbeiten. Sie habe einen kleinen Bekanntenkreis und habe nur telefonischen Kontakt zu ihrem in Rheinland-Pfalz lebenden Vater und ihren in Q. und den USA lebenden beiden Töchtern.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte, nach § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin ist begründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Aufhebung des Gerichtsbescheides des SG vom 18.11.2013, mit dem die auf die Abänderung des Bescheides des Beklagten vom 27.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.08.2012 und auf Verurteilung des Beklagten, den GdB mit mindestens 50 festzustellen, gerichtete Klage abgewiesen worden ist. Die Klägerin erstrebt neben der Aufhebung dieses Gerichtsbescheides des SG die Abänderung dieses Bescheides des Beklagten und dessen Verpflichtung, bei ihr den GdB mit mindestens 50 festzustellen. Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf Feststellung des GdB ist § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX).
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Aus dieser Definition folgt, dass für die Feststellung einer Behinderung sowie Einschätzung ihres Schweregrades nicht das Vorliegen eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes entscheidend ist, sondern es vielmehr auf die Funktionsstörungen ankommt, die durch einen regelwidrigen Zustand verursacht werden. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Eine Feststellung ist hierbei gemäß § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX nur dann zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der Fassung ab 15.01.2015 (BGBl. II S. 15) wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden, indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der Fassung ab 15.01.2015 (BGBl. II S. 15), dass - soweit noch keine Verordnung nach § 70 Abs. 2 SGB IX erlassen ist - die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der Fassung ab 01.07.2011 (BGBl. I S. 2904) erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AHP) getretene Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I 2904), 14.07.2010 (BGBl. I 928), 17.12.2010 (BGBl. I 2124), 28.10.2011 (BGBl. I 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I 2122) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann - nach den den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. a in der Regel ausgehend von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB - in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind. Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen. Darüber hinaus sind vom Tatsachengericht die rechtlichen Vorgaben zu beachten. Rechtlicher Ausgangspunkt sind stets § 2 Abs. 1 in Verbindung mit § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX; danach sind insbesondere die Auswirkungen nicht nur vorübergehender Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend (BSG, Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R - juris).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist bei der Klägerin der Gesamt-GdB mit 50 festzustellen.
Im Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" beträgt der Einzel-GdB der Klägerin 50. Die Sachverständige Dr. M.-N. hat überzeugend dargelegt, dass die Klägerin an einer histrionischen Persönlichkeitsstörung mit querulatorischen Anteilen und einer somatoformen Schmerzstörung leidet. Diese Erkrankungen bedingen eine nach den VG, Teil B, Nr. 3.7 mit einem GdB von 50 zu bewertende schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten. Die Sachverständige hat dargelegt, dass die Klägerin zahlreiche stark wirksame, auch abhängig machende Substanzen zu sich nimmt und die anhaltende Symptomatik der psychischen Erkrankungen, besonders die schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung, ihre Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Dass die Klägerin in der Gestaltung ihrer Beziehungen, ihres Berufs und ihres Lebens stark eingeschränkt ist, unter den Folgen leidet und sich sozial zurückgezogen hat, hat die Sachverständige für den Senat schlüssig und gut nachvollziehbar begründet. So lebte die seit dem Jahr 2004 arbeitslose, geschiedene Klägerin in einer kleinen Wohnung eines Hauses für wohnsitzlose Frauen. Zwar hat sie nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung inzwischen eine andere Wohnung gefunden. Sie lebt aber mit Ausnahme ihres telefonischen Kontakts zu ihrem Vater und zu ihren beiden Töchtern, von Gesprächen mit einer guten Freundin sowie der Wahrnehmung diverser Arzttermine weiterhin sozial isoliert und ist alleinstehend. Sie wirkte in der gutachterlichen Untersuchungssituation antriebslos, traurig sowie mutlos und hat sich nach ihren Angaben gegenüber der Sachverständigen immer wieder mit Suizidgedanken getragen. Wegen der aufgrund der somatoformen Schmerzstörung empfundenen Schwellneigung hat sie einen Schongang und dadurch eine Fehlhaltung der Wirbelsäule und Rückenschmerzen entwickelt, befindet sie sich in einer Schmerztherapie und nimmt dauerhaft Schmerzmedikamente. Damit handelt es sich um mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten, die der Sachverständigenbeirat annimmt, wenn eine sich in den meisten Berufen im Sinne einer verminderten Einsatzfähigkeit auswirkende sowie durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung zu erheblichen familiären Problemen führende psychische Veränderung vorliegt (Beiratsprotokoll vom 18./19.03.1998, vergleiche Wendler in Schwerbehindertenrecht, VdK-Kommentar, 3. Auflage, Stand Januar 2006, zu AHP Nr. 26.3, S. 144). Auch die Sachverständige hat bei ihrer Bewertung auf die soziale Lage der Klägerin mit Arbeits- und Wohnungslosigkeit abgestellt und zutreffend dargelegt, dass es der Klägerin aufgrund ihrer psychischen Störungen trotz guter Ausbildung in einem gefragten Berufsfeld nicht möglich gewesen ist, einen Arbeitsplatz zu finden, und hierdurch auch die Wohnungssuche sehr erschwert ist. Zwar ist die Klägerin inzwischen nicht mehr wohnungslos. Dennoch folgt der Senat nicht der versorgungsärztlichen Einschätzung des Dr. L., unter Berücksichtigung des psychopathologischen Befundes könne eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen nicht abgeleitet werden. Zwar wird tatsächlich keine ambulante Psychotherapie durchgeführt. Allerdings hat die Klägerin in jüngster Vergangenheit bei Dipl.-Psych. F. an Beratungsgesprächen des Frauen- und Beratungszentrums E. teilgenommen und steht bei Dr. A. in laufender schmerztherapeutischer Behandlung, so dass von einem wesentlichen Leidensdruck eben doch ausgegangen werden kann. Hinzu kommt, dass nach Ansicht des Senat die fehlende Inanspruchnahme fachpsychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung auf die mangelnde Krankheitseinsicht der Klägerin zurückzuführen und damit gerade Bestandteil ihres Krankheitsbildes ist. Dass ein vermehrter sozialer Rückzug nicht erkennbar sei, trifft - wie oben dargelegt - nicht zu. Zwar kann der Tagesablauf durchaus als "strukturiert" bezeichnet werden, allerdings ist dieser lediglich von Aufstehen, Machen der Morgentoilette, Frühstücken, Saubermachen, Wahrnehmen von Arztterminen, Arbeitsuche, Kochen, Waschen und Einkaufen, Aufsuchen von Bibliotheken und Schreiben von Bewerbungen sowie am Abend Lesen und Fernsehen, also den eher elementaren Dingen des alltäglichen Lebens geprägt. Auch hat die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat den Eindruck erweckt, dass sie ihr Leben "im Griff" hat. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dies Ausdruck der vorhandenen histrionischen Persönlichkeitsstörung ist. Zu den diagnostischen Kriterien gehören u.a. dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten, Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, verführerisch ist die Erscheinung. Ferner sind bei der Klägerin querulatorische Züge vorhanden, was zu zahlreichen Auseinandersetzungen mit Ämtern und gerichtlichen Verfahren geführt hat. Diese psychische Erkrankung (F60.4 ICD-10-GM 2015) führt zu ganz erheblichen sozialen Problemen, sowohl im Arbeitsumfeld als auch privat. Ferner ist die Realitätswahrnehmung beeinträchtigt, sowohl was andere, die eigene Person als auch Situationen betrifft und es findet sich eine verminderte geistig-seelische Belastbarkeit. Allerdings hält es der Senat entgegen der Einschätzung der Sachverständigen aufgrund des Eindrucks der Klägerin in der mündlichen Verhandlung für ausreichend, ihre psychische Erkrankung im unteren Bereich des von den VG, Teil B, Nr. 3.7 eröffneten GdB-Rahmens zwischen 50 und 70 einzustufen.
Ferner liegt bei der Klägerin, insoweit von Dr. L. zutreffend bewertet, wegen des Verlustes der Gebärmutter sowie der Eierstöcke im Funktionssystem "Geschlechtsorgane" nach den VG, Teil B, Nr. 14.2 und 14.3 ein Einzel-GdB von 10 vor.
Unter Berücksichtigung der dargelegten Einzel-GdB-Werte (Einzel-GdB 50 für das Funktionssystem "Gehirn einschließlich Psyche" und Einzel-GdB 10 für das Funktionssystem "Geschlechtsorgane") beträgt der Gesamt-GdB 50.
Nach alledem waren auf die Berufung der Klägerin der angegriffene Gerichtsbescheid aufzuheben sowie die streitgegenständlichen Bescheide abzuändern und der Beklagte zu verurteilen, den GdB mit 50 seit 23.01.2012, dem Datum der Antragstellung, festzustellen. Da die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50, mithin auch einen weitergehenden GdB beantragt hat, war die Berufung im Übrigen zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt, dass die Klägerin mit ihrem Begehren weitgehend erfolgreich gewesen ist.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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