S 48 AS 1477/15 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
48
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 48 AS 1477/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt. 2. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Der zulässige Antrag ist unbegründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch voraus, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Sowohl Anordnungsanspruch als auch Anordnungsgrund sind gem. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung (ZPO) glaubhaft zu machen. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens, etwa wenn eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht möglich ist, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden, welchem Beteiligten ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache eher zuzumuten ist. Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen. Insbesondere bei Ansprüchen, die darauf gerichtet sind, als Ausfluss der grundrechtlich geschützten Menschenwürde das soziokulturelle Existenzminimum zu sichern, ist ein nur möglicherweise bestehender Anspruch in der Regel vorläufig zu befriedigen (BVerfG, Beschl. v. 12.5.2005 – 1 BvR 569/05).

Zwischen den Beteiligten steht nicht in Streit, dass die Antragstellerin die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) erfüllt. Streitig ist allein, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eingreift.

Die Europarechtskonformität der Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist insoweit geklärt, als dass Unionsbürger von besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen der Grundsicherung ausgeschlossen werden dürfen (EuGH v. 11.11.2014 - C-333/13 - D1). Nunmehr hat Generalanwalt in seinen Schlussanträgen (EuGH v. 26.03.2015 - C-67/14 - A.) präzisiert, dass die in Art. 24 Abs. 2 der RL 2004/38 enthaltenen Beschränkungen bei der Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger eng ausgelegt werden und angesichts der Gleichbehandlungsbestimmungen in Gestalt der Art. 18 AEUV und Art. 4 VO 883/2004 berechtigt sein müssen. Unter Bezugnahme auf die Entscheidung "Brey" (Rn. 104; EuGH v. 19.09.2013 - C-140/12), aber auch die Entscheidungen "B." und "F." (EuGH v. 15.03.2005 - C-209/03 - B.; EuGH v. 18.11.2008 - C-158/07 - F.) sieht der Generalanwalt für die Gruppe von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die sich seit mehr als drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhalten und dort eine Beschäftigung ausgeübt haben einen automatischen Ausschluss von Leistungen als nicht gerechtfertigt an. Der Nachweis einer tatsächlichen Verbindung (mit dem Aufnahmestaat) müsse einen automatischen Ausschluss verhindern (vgl. Rn. 107). Bei der Prüfung dieser Verbindung sei ein Abstellen auf eine einzige Voraussetzung problematisch (vgl. Rn. 108 unter Verweis auf: EuGH v. 25.10.2012 - C-367/11 - ). Deshalb dürfen die Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat suchen, nachdem sie in den dortigen Arbeitsmarkt eingetreten waren (erneute Arbeitsuche), nicht von bestimmten "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" automatisch und ohne individuelle Prüfung ausgeschlossen werden. Neben Umständen, die sich aus dem familiären Kontext ergeben (wie der Schulausbildung der Kinder) ist die effektive und tatsächliche Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums ein weiterer Umstand, der das Bestehen einer solchen Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat belegen könne. Eine frühere Erwerbstätigkeit oder auch die Tatsache, dass der Betreffende nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen eine neue Arbeit gefunden hat, sei zu diesem Zweck ebenfalls zu berücksichtigen (vgl. Rn. 111).

Das Gericht nimmt an, dass der EuGH - wie auch im Fall D1 - den Schlussanträgen des Generalanwalts folgen wird.

Das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung der Antragstellerin mit D., insbesondere mit dem d. Arbeitsmarkt kann vorliegend nicht festgestellt werden. Die 1956 geborene Antragstellerin, die über keinen Schul- und Berufsabschluss verfügt, nicht lesen und schreiben kann, in ihrem Heimatland P. nicht berufstätig gewesen ist und die sich seit dem 10.11.2010 in D. aufhält, war zunächst im Rahmen eines Mini-Jobs in der Zeit vom 01.05.2011 bis zum 30.09.2011 für ein Gehalt in Höhe von 400.- EUR beschäftigt. Parallel hierzu nahm sie in der Zeit vom 30.08.2011 bis zum 25.10.2011 an einem Integrationskurs teil, der offenbar wegen Arbeitsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit bis zu 6 Monaten nicht fortgesetzt wurde. Der Aufforderung des Antragsgegners am 25.02.2013, die fehlenden Sprachkenntnisse durch Fortsetzung des abgebrochenen Kurses zu verbessern, ist die Antragstellerin nicht nachgekommen. Den Beratungsvermerken zu Folge ist nach Aushändigung einer Liste mit Anbietern im Raum Wandsbek an die Antragstellerin eine bis Anfang April 2013 vereinbarte Rückmeldung nicht erfolgt. Eine weitere geringfügige Beschäftigung als Reinigungskraft in einem Pizza-Service erfolgte erst wieder in der Zeit vom 10.05.2014 bis zum 15.10.2014, mithin 3 ½ Jahre nach der letzten geringfügigen Beschäftigung, nachdem der Antragsgegner die Weitergewährung von Leistungen unter Bezugnahme auf § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II abgelehnt hatte. Seither ist die Antragstellerin keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgegangen.

Das Bestehen einer Verbindung mit dem d. Arbeitsmarkt kann vorliegend auch nicht durch eine effektive Beschäftigungssuche belegt werden. Es kann dahingestellt werden, ob hinsichtlich der Äußerungen der Antragstellerin, sich in der Erwerbsfähigkeit stark eingeschränkt zu sehen, Zweifel an der Absicht wieder in Arbeit gelangen zu wollen, angebracht ist. Es ist jedenfalls nicht erkennbar, dass die geschilderten Bemühungen in Form von persönlichen Anfragen um eine Beschäftigung als Reinigungskraft mit einer konkreten Erfolgsaussicht verbunden wären; dies vor dem Hintergrund der bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen, der Unkenntnis der d. Sprache und der Schriftsprache überhaupt, der fehlenden Berufsausbildung und der geringen Berufserfahrung. Der Umstand, dass die Antragstellerin innerhalb von 4 ½ Jahren Aufenthalt in D. allein 8 ½ Monate geringfügig beschäftigt gewesen ist, zeigt dies.

Eine Verbindung zu D., die sich aus einem familiären Kontext ergibt, ist gleichfalls nicht ersichtlich. Eine vergleichbare Sachlage mit der im Fall A. (EuGH v. 26.03.2015 a.a.O.) bestehenden, bei dem ein Schulbesuch der Kinder der dortigen Klägerin diese zum Aufenthalt in D. berechtigte, ist in der (Mit)-Betreuung der behinderten Tochter der Nichte der Antragstellerin nicht zu sehen. Weil auch der im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch stehende Ehemann nur über ein von der Antragstellerin abgeleitetes Aufenthaltsrecht verfügt, führ auch die Sorge für den an Parkinson leidenden Ehemann nicht zu einer anderen Betrachtung.

Ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 FreizügG/EU (in der Fassung vom 2.12.2014) wegen vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall steht gegenwärtig nicht fest.

Der Umstand, dass arbeitsuchende EU-Ausländer, die bereits eine Verbindung zum d. Arbeitsmarkt geschaffen haben, nicht ohne Weiteres vom Leistungsbezug ausgeschlossen werden können und eine Regelung, die auch diesen Personenkreis ohne weitere Einzelfallprüfung von Leistungen ausschließt, als unverhältnismäßig anzusehen ist, führt nicht dazu, dass die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II insgesamt als europarechtswidrig angesehen werden muss. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist vielmehr geltungserhaltend dahingehend auszulegen, dass sie jedenfalls auf die Arbeitsuchenden ohne Verbindung zum Arbeitsmarkt anwendbar bleibt. Eine etwaige Kollision mitgliedsstaatlichen Rechts mit dem EU-Recht führt nicht zu einer Unanwendbarkeit der gesamten Vorschrift, sondern macht diese innerstaatliche Vorschrift nur unanwendbar, soweit sie gegen das Unionsrecht verstößt (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. April 2015 – L 2 AS 2388/14 B ER –, juris).

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe musste abgelehnt werden, weil die beab¬sichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg versprach (§ 73a SGG in Verbindung mit § 114 ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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