S 10 KR 435/13

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Chemnitz (FSS)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Chemnitz (FSS)
Aktenzeichen
S 10 KR 435/13
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Bei Patienten, die an Multipler Sklerose (MS) in Form der primär progredienten MS
leiden, ist die Behandlung mit dem Medikament Fampyra im Wege eines "off-label-use" auch dann indiziert, wenn keine Gehfähigkeit von mindestens 5 Meter vorliegt.

2. Dies resultiert daraus, daß diese Form der MS als "Seltene Erkrankung" einzuordnen ist mit der Folge, daß für die Wirksamkeit des Medikaments Fampyra auf die individuelle Datenlage abgestellt werden kann.

3. Dahingestellt bleiben kann deswegen sowohl die Frage, ob ein Systemmangel deshalb vorliegt, weil für die Behandlung dieser Form der MS mit dem Medikament Fampyra keine verwertbaren Studien vorliegen, als auch die Frage, ob ein Systemfehler darin liegt, daß der
G-BA die Behandlung der MS mit dem Medikament Fampyra auf diejenigen Patienten beschränkt, die noch über eine Gehfähigkeit von mindestens 5 Meter verfügen.
I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.05.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 verurteilt, dem Kläger ab 01.01.2015 die Kosten für das Medikament Fampyra zu erstatten.

II. Die Beklagte trägt die notwendig entstandenen außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Streitig ist die Kostenerstattung für das Medikament Fampyra.

Der am xx.xx.1973 geborene Kläger beantragte am 22.04.2013 die Kostenübernahme für das Medikament Fampyra. Er leide an Multipler Sklerose und profitiere von diesem Medikament.

Der Kläger legte die Einschätzung von Prof. Dr. med. Z. des Universitätsklinikums C., Zentrum für klinische Neurowissenschaften – Multiple Sklerose-Zentrum - vom 03.05.2013 vor. Der Kläger leide an einer progredienten Multiplen Sklerose. Es liege eine komplette Paraparese vor. Der Kläger sei rollstuhlpflichtig und in seiner Mobilität extrem auf die Funktion der oberen Extremität angewiesen. Einschränkungen im Bereich der oberen Extremität würden zur deutlichen Reduktion der jetzt noch aufrecht erhaltenen Mobilität des Patienten führen. Unter Medikation mit Fampyra seien die Beweglichkeit der oberen Extremität und die Kraftausprägung deutlich gebessert im Vergleich zur Situation ohne Fampyra.

Mit Schreiben vom 25.04.2013 an den Kläger wies die Beklagte darauf hin, dass das Arzneimittel Fampyra zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen Patienten mit Multipler Sklerose (MS) mit Gehbehinderung indiziert sei. Die erforderliche Gehbehinderung sei dann gegeben, wenn der Patient unfähig sei, selbst mit Hilfe mehr als 5 m zu gehen, weitgehend an den Rollstuhl gebunden ist, diesen selbst bewegt und ohne Hilfe transferiert. Im Fall des Klägers könne nur geprüft werden, ob im Wege eines Off-Label-Use das Medikament auch außerhalb dieser Zulassung durch die Beklagte zu finanzieren sei. Dazu sei u. a. erforderlich, dass aufgrund der Datenlage begründet Aussicht bestehe, mit dem betreffenden Präparat einen Behandlungserfolg zu erzielen, d. h. es müssten Studien vorliegen, die eine Zulassung im Therapiegebiet erwarten lassen.

Unter dem 24.05.2013 führt der Medizinische Dienst der Krankenkassen Sachsen (MDK) gutachterlich aus, dass derartige Studien nicht vorliegen. Erforderlich seien zulassungsreife Daten aus kontrollierten Studien der Phase III.

Dementsprechend lehnte die Beklagte mit streitigem Bescheid vom 29.05.2013 die Kostenübernahme für das Arzneimittel Fampyra ab.

Im Widerspruch vom 03.06.2013 weist der Kläger darauf hin, dass an seiner speziellen Form der MS, nämlich der primär progredienten MS, nur ca. 15 – 20 % der MS-Patienten leiden. Aufgrund dieser Zahlen könne nicht erwartet werden, dass es abgeschlossene Phase III-Studien gebe.

Im Widerspruchsbescheid vom 19.07.2013 verwies die Beklagte noch darauf, dass eine zulassungsfremde Anwendung eines Arzneimittels zu Lasten der Krankenversicherung auf Fälle beschränkt bleiben müsse, in denen einerseits ein unabweisbarer und anders nicht zu befriedigender Bedarf an der Arzneimitteltherapie besteht und andererseits die therapeutische Wirksamkeit und Unbedenklichkeit der Behandlung hinreichend belegt sind.

Dagegen hat der Kläger am 08.08.2013 Klage erhoben.

Das Gericht hat medizinische Unterlagen beigezogen.

Mit Schreiben vom 09.01.2014 an Herrn Prof. Z. (vgl. oben) hat das Gericht angefragt, wie häufig bzw. selten pro 100 000 Einwohner die Form der MS auftrete, an der der Kläger erkrankt ist sowie, ob es zu dieser Form laufende bzw. schon abgeschlossene Studien gebe, was die Behandlung mit Fampyra angehe.

Prof. Z, hat mit Schreiben vom 28.01.2014 darauf hingewiesen, dass der Kläger an einer primär progredienten MS leide, was etwa 10 % der Verlaufsformen der MS darstelle. Es könne von einer Häufigkeit von 1: 8000 ausgegangen werden. Bei dem Medikament Fampyra handele es sich um eine Substanz, die durch eine Blockade von Ionenkanälen die Leitung von Nervenfasern wieder verbessert. Es sei weder pathophysiologisch, noch mechanistisch erklärbar, weshalb das Medikament Fampyra lediglich auf einen bestimmten Behinderungsbereich eingeschränkt wurde. Beim Kläger konnte eindeutig gezeigt werden, dass er bezüglich der Funktion der oberen Extremität auch von dem Medikament profitiert. Es habe eine eindeutige therapeutische Response gegeben.

Mit Schriftsatz vom 26.05.2014 verwies die Beklagte darauf, dass für die Seltenheit einer Erkrankung nicht auf das Verhältnis von Erkrankungen pro Einwohner abgestellt werden könne, sondern darauf, ob eine Singularität vorliege, welche eine medizinische Erforschung unmöglich mache.

In der mündlichen Verhandlung am 25.03.2015 verweist der Kläger darauf, dass das Problem bei der MS darin bestehe, dass die Immunzellen des Körpers die Umhüllung der Nervenbahnen angreifen und es dadurch zu einem Kaliumverlust komme. Durch das Medikament Fampyra werde der Kaliumverlust reduziert. Dieser Effekt sei selbstverständlich nicht auf die Nervenbahnen der Beine beschränkt. Es liege nicht in seiner Verantwortung, dass zu der Form der MS, an der er leide, noch keine Studien durchgeführt worden seien.

Der Kläger beantragt:

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 29.05.2013 und des Widerspruchsbescheides vom 19.07.2013 verurteilt, mir ab 01.01.2015 die Kosten für das Medikament Fampyra zu erstatten.

2. Die Beklagte trägt meine außergerichtlichen Kosten.

Die Vertreterin der Beklagten beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat die Akten der Beklagten beigezogen. Auf diese, die Prozessakte sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung wird zur Ergänzung des Tatbestandes verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und insgesamt zulässig.

Die Klage ist auch begründet. Der Kläger leidet an einer seltenen Erkrankung. Bei seltenen Erkrankungen gibt es typischerweise keine entsprechenden Studien. Nach der individuellen Datenlage ist das Medikament Fampyra beim Kläger wirksam.

Gemäß § 11 Abs. 1 Nr. 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Leistungen zur Behandlung einer Krankheit.

Gemäß § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V umfasst die Krankenbehandlung auch die Versorgung mit Arzneimitteln.

Hat die Krankenkasse eine Leistung zu Unrecht abgelehnt und sind dadurch Versicherten für die selbst beschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese von der Krankenkasse in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war (§ 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V).

Im vorliegenden Fall resultiert der Kostenerstattungsanspruch des Klägers aus der letztgenannten Vorschrift, denn die Beklagte hat die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra zu Unrecht abgelehnt.

Grundsätzlich sind die Krankenkassen nicht leistungspflichtig, wenn ein Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes eingesetzt werden soll.

Ausnahmsweise kann die Leistungspflicht der Krankenkassen bei einem "Off-Label-Use" (Anwendung eines Arzneimittels außerhalb des Anwendungsgebietes, für das das Arzneimittel zugelassen ist) gegeben sein.

Zum Off-Label-Use macht das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 08.11.2011, Az.: B 1 KR 19/10 R, in den Rdnrn. 16 und 17 die folgenden grundsätzlichen Ausführungen:

"Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl. z. B. BSGE 97, 112 = SozR 4-2500, § 31 Nr. 5, Rdnr. 17 f – Ilomedin). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl. BSGE 95, 132 Rdnr. 20 = SozR 4-2500, § 31 Nr. 3 Rdnr. 27 m.w.N. – Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagens s. BSG SozR 4-2500, § 27 Nr. 10 Rdnr. 24 m.w.N. – Neuropsychologische Therapie).

Von hinreichenden Erfolgsaussichten ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies kann nur angenommen werden, wenn entweder (a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch-relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder (b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse von gleicher Qualität veröffentlicht sind. Soweit man aus der früheren Rspr des Senats (BSGE 89, 184, 192 = SozR 3-2500, § 31 Nr. 8 S. 36) ein unterschiedliches Schutzniveau vor und während laufender Zulassungsverfahren ableiten kann, gibt der Senat diese Rspr klarstellend auf. Außerhalb und während eines Zulassungsverfahrens muss die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich entsprechen. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrunde liegt und in das Leistungsrecht der GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht (vgl. BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr. 5, Rdnr. 24 – Ilomedin; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 6 SozR 4-2500 § 31 Br, 6 Rdnr. 16 – restless legs/Cabaseril; BSG SozR 4-2500 § 31 Nr. 15 Rdnr. 34 ADHS/Methylphenidat). Dies bedeutet, dass der während und außerhalb eines Zulassungsverfahrens zu erbringende wissenschaftliche Nachweis durch Studien erbracht werden muss, die die an eine Phase III-Studie zu stellenden qualitativen Anforderungen erfüllen."

Es gibt jedoch Erkrankungen, die einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten aufgrund der Seltenheit der Erkrankung nicht zugänglich sind. Das Bundessozialgericht verweist dazu in seiner Entscheidung vom 19.10.2004, Az.: B 1 KR 27/02 R, unter Rdnr. 32 auf Art. 3 Abs. 1 EWG-Verordnung 141/2000 vom 16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden. Danach liegt ein solches Leiden vor, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Personen daran erkranken.

Nach dieser Definition leidet der Kläger an einer seltenen Erkrankung, denn nach der Darstellung von Prof. Z. im Schriftsatz vom 28.01.2014 kann bei der Verlaufsform der MS, an der der Kläger leidet, von einer Häufigkeit von 1: 8000 ausgegangen werden.

Bei einer seltenen Erkrankung kann für die Prüfung der Datenlage beim Off-Label-Use nicht auf die Ergebnisse von kontrollierten klinischen Studien oder Erkenntnissen von gleicher Qualität abgestellt werden, denn solche Informationen sind bei einer seltenen Erkrankung typischerweise nicht vorhanden.

Abzustellen ist damit nach Ansicht des Gerichts auf die Datenlage im konkreten Einzelfall.

Hierzu orientiert sich das Gericht wiederum an den Ausführungen von Prof. Z. im Schriftsatz vom 28.01.2014, wonach die Medikation mit Fampyra beim Kläger eine eindeutige therapeutische Response im Bereich der oberen Extremität zur Folge hatte.

Das Vorliegen der Voraussetzungen 1 und 2 des Off-Label-Use sind nicht streitig.

Der Klage war schon deshalb wie tenoriert stattzugeben.

Es konnte daher dahinstehen, ob ein Systemmangel daran liegt, dass zur primär progredienten MS in der bei dem Kläger vorliegenden Ausprägung noch keine Studien zur Anwendung des Medikaments Fampyra vorliegen.

Ebenso konnte dahinstehen, ob in der Beschränkung der Zulassung von Fampyra auf MS-Patienten, die noch eine Mindestgehfähigkeit besitzen, ein Systemversagen liegt (vgl. Urteil des BSG v. 02.09.2014, Az.: B 1 KR 3/13 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung wird zugelassen, denn die Rechtssache hat grundsätzliche Bedeutung zum Anwendungsbereich des Medikaments Fampyra, § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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