L 9 R 1139/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 11 R 3037/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 R 1139/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 21. Februar 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.01.2012 hinaus streitig.

Die am 23.01.1975 geborene Klägerin stellte am 13.08.2009 erstmals einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, der durch die Beklagte nach Einholung eines Gutachtens bei dem Arzt für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S. vom 30.09.2009 (Bl. 57 ff des Gutachtensteils der Verwaltungsakte) mit Bescheid vom 26.10.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.03.2010 abgelehnt wurde. Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Mannheim (SG) (S 11 R 1./10) wurde der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 08.03.2011 gab er an, die Klägerin leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung; derzeit bestünden eine mittelschwer ausgeprägte Erschöpfungsdepression bei depressiver Entwicklung (Dysthymie) und selbstunsicherer Persönlichkeit sowie im Rahmen der depressiven Erschöpfung auftretende sozialphobische und agoraphobische Ängste mit Vermeidungsverhalten. Ferner bestehe der Verdacht auf eine mögliche Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ADS). Die Leistungsfähigkeit sei seit Beginn der Arbeitsunfähigkeit am 22.07.2008 gemindert. Die Minderung der Leistungsfähigkeit bestehe nicht dauerhaft. Eine erneute stationäre Maßnahme in einer psychosomatischen Fachklinik mit Schwerpunkt ADHS sei erfolgversprechend; die ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung sollte fortgeführt werden. Nach Ablauf eines weiteren Jahres müsste die bestehende Leistungsminderung wieder behoben sein. Die Beklagte anerkannte am 09.05.2011 ausgehend von einem Leistungsfall am 22.07.2008 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) volle Erwerbsminderung auf Zeit bis zum 31.01.2012 an und gewährte Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.02.2009 bis 31.01.2012. Die Klägerin nahm das Teilanerkenntnis zur Erledigung des Rechtsstreits an.

Am 10.11.2011 stellte die Klägerin einen Antrag auf Weitergewährung der ihr gewährten Rente über den 31.01.2012 hinaus, da sich ihr Gesundheitszustand nicht wesentlich verbessert habe.

Die Beklagte veranlasste hierauf eine Begutachtung der Klägerin durch den Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. B., der nach der Untersuchung der Klägerin am 17.02.2012 in seinem Gutachten vom 20.02.2012 angab, bei der Klägerin bestehe eine kombinierte vielschichtige Persönlichkeitsstörung. Unter Einbeziehung auch der Aktenlage sei eine anklingende phobische Symptomatik/vorbeschriebene Persönlichkeitsstörung festzustellen, die aber nicht mehr mit richtungsweisendem Vermeidungsverhalten einhergehe, offenkundig jetzt doch vorrangig über einen sekundären Krankheitsgewinn instrumentalisiert werde. Die beklagten Wirbelsäulenbeschwerden seien klinisch wie elektrophysiologisch ohne Anhalt für neurologische Komplikationen. Die Klägerin sei in der Lage, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes ebenso wie ihre erlernte Tätigkeit als Reisekauffrau vollschichtig auszuüben. Tätigkeiten mit besonderem Zeitdruck, in ständiger nervöser Anspannung, auf Leitern und Gerüsten sowie an unmittelbar gefährdenden Maschinen und Tätigkeiten mit Nach- oder Wechselschicht sollten ausgeschlossen bleiben. Auf Grundlage einer Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. H. vom 28.02.2012, die sich dem Gutachten von Dr. B. anschloss, lehnte die Beklagte die Weitergewährung der Rente über den 31.01.2012 hinaus mit Bescheid vom 12.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2012 ab. Es liege weder ein Zustand der teilweisen Erwerbsminderung, welcher ein Leistungsvermögen von weniger als sechs Stunden voraussetze, noch der vollen Erwerbsminderung, welcher ein Leistungsvermögen von weniger als drei Stunden täglich voraussetze, vor.

Mit der hiergegen am 19.09.2012 beim SG erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt; sie hat den Bericht der Kliniken des M.-Kreises GmbH, Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik, vom 05.01.2013 über den dortigen stationären Aufenthalt vom 05.10.2012 bis zum 13.12.2012 vorgelegt. Die Klägerin ist dort wegen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode, einem Hyperaktivitätssyndrom, einer selbstunsicher-vermeidenden Persönlichkeitsstörung und einer Panikstörung behandelt worden.

Das SG hat im Rahmen der Beweisaufnahme die behandelnde Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. K. schriftlich als sachverständige Zeugin gehört. Diese hat unter dem 17.04.2013 angegeben, die Klägerin seit dem 20.10.2003 zu behandeln. Diese leide unter einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Panikstörung, einer generalisierten Angststörung und einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit Persistenz der Symptomatik im Erwachsenenalter. Das maßgebliche Leiden liege auf psychiatrischem Fachgebiet. Sie habe im Rahmen der Behandlung eine deutliche Befundverschlechterung bei der Konsultation am 20.09.2012 feststellen müssen. Diese Verschlechterung habe nach dem stationären Aufenthalt der Klägerin in den Kliniken des M.-Kreises GmbH deutlich gebessert werden können (Vorstellung am 18.12.2012). Es sei jedoch zu einer erneuten Verschlechterung nach einem Herzinfarkt mit Reanimation des Lebenspartners Ende Dezember 2012 gekommen. Dies habe sie anlässlich der Konsultation am 30.01.2013 bzw. 14.03.2013 feststellen können. Die Einschränkungen der Klägerin seien globaler Natur und beträfen jegliche, auch leichteste Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Panikstörung nicht in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu den Hauptverkehrszeiten zu benutzen.

Das SG hat dann eine Begutachtung der Klägerin bei dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Prof. Dr. G. veranlasst, der die Klägerin am 17. und 27.08.2013 ambulant untersucht hat. In seinem Gutachten vom 02.09.2013 hat er folgende Diagnosen angegeben: Dysthymia mit konstant wiederkehrender leichter ängstlich gefärbter Depression, leicht erhöhte Erschöpfbarkeit, Schlafstörungen und allgemeines Gefühl der Unzulänglichkeit. Konsistente Hinweise auf eine depressive Störung habe er nicht finden können. Zudem zweifle er an der Diagnose einer ADHS im Erwachsenenalter, da die Voraussetzung, wonach diese auch im Kindesalter vorgelegen haben müsse, äußerst zweifelhaft sei. Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit hat er angegeben, der Klägerin könnten ohne Gefährdung ihrer Gesundheit leichte bis mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten bis 10 kg in der Ebene zugemutet werden. Nicht möglich seien hingegen schwere Arbeiten, Tätigkeiten mit besonderer Anforderung an Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit, besonderer Verantwortung für Menschen und Maschinen, Publikumsverkehr und Arbeiten in Nacht- und Wechselschicht. Sofern die Tätigkeiten diesen Einschränkungen entsprächen, sei ihr ein acht Stunden tägliches Leistungsvermögen zu bescheinigen. Es bestünden keine besonderen unerlässlichen Arbeitsbedingungen und die Wegefähigkeit sei gegeben. Dem Gutachten von Dr. B. sei daher im Ergebnis zuzustimmen. Dieser Gesundheitszustand bestehe mindestens seit 2008 unverändert.

Mit Schreiben vom 25.09.2013 ist die Klägerin dem Gutachten mehrseitig (über 100 Anmerkungen) entgegengetreten. Im Wesentlichen macht sie geltend, der Gutachter habe sich nicht gewissenhaft mit ihrem Einzelfall auseinandergesetzt und ihre Angaben während der Begutachtungssituation nicht zutreffend wiedergegeben. Die Darstellung sei an vielen Stellen deutlich verkürzt und daher auch sinnentstellend.

Mit Urteil vom 21.02.2014 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.09.2012 verurteilt, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit über den 31.01.2012 hinaus für die Dauer von drei Jahren zu gewähren. Die - näher dargelegten - Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGBVI) seien insoweit gegeben. Unstreitig seien die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die streitgegenständliche Leistung erfüllt. Die Klägerin sei darüber hinaus auch voll erwerbsgemindert. Eine Erwerbsminderung der Klägerin, d.h. ein Absinken ihrer beruflichen und körperlichen Leistungsfähigkeit auf ein Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von weniger als sechs Stunden lasse sich aus dem Gutachten des Dr. S., dem Krankheitsverlauf seither und schließlich dem persönlichen Eindruck der Klägerin sowohl im Rahmen der Prozessführung als auch in der mündlichen Verhandlung gewinnen. Ob und inwieweit hierbei von einem Leistungsvermögen von unter drei oder von drei bis unter sechs Stunden täglich auszugehen sei, könne aufgrund der ohnehin lediglich befristeten Rentengewährung dahinstehen. Denn ausgehend von der Rechtsprechung zur "konkreten Betrachtungsweise" und dem nach wie vor als verschlossen geltenden Teilzeitarbeitsmarkt, sei auch bei einem über drei- jedoch unter sechsstündigen Restleistungsvermögen eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren, die jedoch als sog. Arbeitsmarktrente stets befristet werden müsse. Bei der Klägerin liege nach wie vor die bereits von Dr. S. in seinem Gutachten vom 08.03.2011 diagnostizierte rezidivierende depressive Störung vor, welche zeitweise zu einer mittelschwer ausgeprägten Erschöpfungsdepression führe. Ob und inwieweit weiterhin eine mögliche Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung im Erwachsenenalter bei der Klägerin zu sichern sei, könne dabei dahinstehen, da die fortdauernde depressive Erkrankung in ihren Auswirkungen die Klägerin derzeit immer noch daran hindere, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit von Wirtschaftswert nachzugehen. Soweit Prof. Dr. G. in seinem Gutachten vom 09.07.2013, das im Ergebnis dem Gutachten im Verwaltungsverfahren von Dr. B. zustimmte, lediglich von einer bei der Klägerin vorliegenden Dysthymia mit konstant wiederkehrender leichter ängstlich-gefärbter Depression bei leicht erhöhter Erschöpfbarkeit und allgemeinem Gefühl der Unzulänglichkeit ausgegangen sei, vermögen dies angesichts des Gutachtens von Dr. Schubert sowie den von der Klägerin vorgelegten medizinischen Unterlagen und auch der sachverständigen Zeugenbefragung nicht zu überzeugen. Prof. Dr. G. habe im Ergebnis auch angegeben, der von ihm festgestellte Gesundheitszustand bestehe unverändert seit dem Jahr 2008. Er habe sich in keiner Weise mit dem Gutachten von Dr. S. auseinandergesetzt, welches bereits für denselben Zeitraum wesentliche Aussagen und gegenläufige Diagnosen enthalte. Gleichermaßen sei auch Dr. B. unter Außerachtlassung der Feststellungen und Ausführungen des Dr. S. zu diesem Ergebnis gelangt. Das Wesen einer depressiven rezidivierenden Störung liege auch darin, dass diese in unterschiedlicher Ausprägung anhaltend immer wiederkehrend auftrete. Eine entsprechende immer wiederkehrende Symptomatik lasse sich sowohl aus den medizinischen Unterlagen im ersten Rentenverfahren der Klägerin als auch im aktuellen Rentenverfahren ableiten. Neben dem bereits im Jahr 2009 ausgestellten Bescheid des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis, mit dem ein Grad der Behinderung von 50 u.a. auch aufgrund der seelischen Störung, Depression und Persönlichkeitsstörung festgestellt worden sei, finde sich im Befundbericht des Zentralinstituts für seelische Gesundheit Mannheim vom 06.11.2008 bereits die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung gegenwärtig mittelgradiger Episode bei generalisierter Angststörung, sozialer Phobie, Agoraphobie und Panikstörung. Im Wesentlichen gleiche Diagnosen habe auch Dr. K. im seinerzeitigen Verfahren genauso wie im aktuellen Rentenverfahren gegenüber dem Gericht mitgeteilt. Bei dieser Sachlage erscheine es jedenfalls mehr als unwahrscheinlich, dass ohne entsprechende therapeutische Maßnahmen eine derart starke Besserung bei der Klägerin eingetreten sein soll, zumal der Zeitraum zwischen dem Gutachten Dr. S., das zur Gewährung einer - rückwirkenden - Rente wegen Erwerbsminderung im ersten Rentenverfahren im Mai 2011 geführt hatte und dem Zeitpunkt des Weiterbewilligungsantrags vom November 2011 weniger als ein halbes Jahr gelegen habe. Auch der gesamte persönliche Eindruck, den die Klägerin sowohl im Rahmen der Verfahren als auch persönlich während der mündlichen Verhandlung gemacht habe, lasse nicht den Schluss zu, dass diese bereits in der Lage sei, einer Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von wirtschaftlichem Wert nachzugehen. Sie habe sich zwar mittlerweile durchringen können, eine verhaltenstherapeutische Behandlung anzugehen und damit zur Besserung ihres Gesundheitszustandes beizutragen, gleichwohl hätten die Ereignisse der letzten beiden Jahre nicht dazu geführt, ihr die notwendige Ruhe zu verschaffen, eine entsprechende Besserung herbeizuführen. Bei konsequenter Therapie und Gewährung einer stationären Maßnahme in einer psychosomatischen Fachklinik (gegebenenfalls zu Lasten der Beklagten) könne die Klägerin die notwendigen Fortschritte machen, die es ihr als noch relativ junger Person ermöglichten, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zurückzukehren. Entsprechend sei die Rente zu befristen gewesen, ausgehend von der Weiterbewilligung zum 01.02.2012 folglich mit Ablauf zum 31.01.2015. Nach dem Abschluss des erstinstanzlichen Klageverfahrens verbleibe noch fast ein Jahr, das die Klägerin nutzen könne, bevor ein gegebenenfalls zu stellender Weiterbewilligungsantrag erneut eine Spirale der Begutachtungen, Krankheitsverteidigung und Enttäuschung auslöse.

Gegen das ihr am 05.03.2014 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 06.03.2014 Berufung eingelegt und zur Begründung ausgeführt, das SG habe trotz der eindeutigen und auch mehrfach bestätigten Gutachtenlage die Beklagte zu einer weiteren Gewährung von Rente bei voller Erwerbsminderung für die Dauer von drei Jahren verurteilt. In den Urteilsgründen habe sich das SG nur auf die "eigene Wahrnehmung" der Darstellung der Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung gestützt. Damit habe es die dieser Feststellung zwingend vorausgehende notwendige Fach- und Sachkunde durch einen medizinischen Facharzt missachtet. Weder das Gericht noch die Beklagte seien aufgrund ihrer subjektiven Wahrnehmungen berechtigt, einem sachverständigen Zeugen (Mediziner) hier vorzugreifen bzw. dessen (mehrfache) Meinung zu ignorieren und mit eigener zu ersetzen. Wenn das Gericht Zweifel an den Feststellungen der Sachverständigen habe, so müssten diese im Zuge einer weiteren Beweisaufklärung ausgeräumt werden. Dies sei hier nicht geschehen. Vielmehr sei ohne entsprechende medizinische Fachkunde ein Urteil gegenüber der Beklagten ausgebracht worden, welches so keinen Bestand haben könne. Bei diesem Sachverhalt sei das Urteil von einer tiefgreifenden Rechtswidrigkeit erschüttert.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 21. Februar 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Das angefochtene Urteil sei rechtmäßig und überzeugend. Allein Dr. S. habe in seinem Gutachten vom 08.03.2011 den Verlauf der Erkrankung der Klägerin im Längsschnitt zutreffend gutachterlich gewürdigt. Dies habe das SG erkannt. Prof. Dr. G. habe sich mit dem Gutachten von Dr. S. nicht auseinandergesetzt. Auch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. W. habe in ihrer Stellungnahme vom 25.03.2011 zum Gutachten von Dr. S. darauf hingewiesen, dieses Gutachten sei "sehr plausibel". Dass sich die Beklagte hieran nun nicht mehr gebunden fühlen möchte, sei nicht nachvollziehbar. Die Klägerin habe zwischenzeitlich am 26.03.2014 eine Psychotherapie begonnen. Ferner ist eine handschriftliche Stellungnahme der Klägerin vom 11.05.2014 vorgelegt worden, wegen deren Inhalts im Einzelnen auf Bl. 23 bis 25 der Gerichtsakte Bezug genommen wird.

Der Senat hat im Rahmen der Beweisaufnahme den Chefarzt der Klinik für Allgemeinpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Psychiatrischen Zentrums Nordbaden Prof. Dr. S. mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. In seinem Gutachten vom 03.03.2015 hat der Gutachter nach Exploration und Untersuchung der Klägerin am 30.01.2015 und 13.02.2015 angegeben, die Klägerin leide auf psychiatrischem Fachgebiet unter einer rezidivierenden depressiven Störung bei gegenwärtig leichtgradiger depressiver Episode und einer ängstlich vermeidenden Persönlichkeitsstörung. Gesundheitsstörungen des neurologischen Fachgebiets seien nicht festzustellen gewesen. Aufgrund der auf psychiatrisch-psychotherapeutischem Fachgebiet vorliegenden Gesundheitsstörungen liege eine Minderung der psychovegetativen Stressbelastbarkeit, der sozialen Kompetenzen sowie der körperlichen Belastbarkeit vor. Die festgestellten Gesundheitsstörungen führten zu diversen qualitativen Leistungsdefiziten. Das Ausdauerleistungsvermögen der Klägerin sei durch diese Gesundheitsstörungen jedoch nicht beeinträchtigt. Im Rahmen der Begutachtung hätten sich keine Hinweise auf Störungen basaler Motivations- oder Antriebsfunktionen ergeben. Die Klägerin sei dazu in der Lage, berufliche Tätigkeiten, die qualitativen Leistungsdefiziten Rechnungen tragen, vollschichtig, d.h. bis zu acht Stunden an fünf Tagen pro Woche abzuleisten. Diese Leistungsbeurteilung entspreche nicht der leistungsbezogenen Selbsteinschätzung der Klägerin, die sich in dieser Hinsicht jedoch nicht realistisch selbst einschätze. Die Klägerin sei in der Lage, Wegstrecken von mehr als 500 Metern in jeweils weniger als 20 Minuten zurückzulegen. Es hätten sich keinerlei Gesundheitsstörungen ergeben, die gegen eine entsprechende Wegeleistung zu Fuß sprechen würden. Die Klägerin selbst habe angegeben, zur Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der Lage zu sein, dies jedoch ungern zu tun.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten sowie der Gerichtsakten beider Instanzen und der Akte des SG Az. S 11 R 1./10 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist zulässig; Berufungsausschließungsgründe liegen nicht vor (§ 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG)).

Die Berufung ist auch begründet. Gegenstand der Klage ist der Bescheid der Beklagten vom 12.03.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.09.2012, mit dem die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung über den 31.01.2012 hinaus abgelehnt hat. Dieser Bescheid erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Gemäß § 43 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie teilweise erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben - bei im Übrigen identischen Tatbestandsvoraus¬setzungen - Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Gemäß § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Eine volle Erwerbsminderung liegt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann vor, wenn der Versicherte täglich mindestens drei bis unter sechs Stunden erwerbstätig sein kann, der Teilzeitarbeitsmarkt aber verschlossen ist (Gürtner in Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Stand September 2013, § 43 SGB VI, Rdnr. 58 und 30 ff.).

Die Klägerin ist, an diesem gesetzlichen Maßstab orientiert, zur Überzeugung des Senats nicht erwerbsgemindert; sie ist in der Lage, zumindest leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten.

Der Senat stützt seine Überzeugung im Wesentlichen auf das im Berufungsverfahren durch Prof. Dr. S. eingeholte Gutachten, das im Ergebnis die Gutachten von Dr. B., das im Wege des Urkundenbeweises verwertbar ist, und von Prof. Dr. G. bestätigt. Nicht anzuschließen vermochte sich der Senat für den hier streitigen Zeitraum ab 01.02.2012 dem Gutachten von Dr. S. vom 08.03.2011.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht für den Senat fest, dass die Klägerin unter einer rezidivierenden depressiven Störung bei gegenwärtig leichtgradiger depressiver Episode sowie unter einer ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsstörung leidet. Hinzu kommen Wirbelsäulenbeschwerden, die nicht mit einem sensomotorischen Defizit verbunden sind. Diese zuletzt durch Prof. Dr. S. genannten Diagnosen lassen sich mit dem von ihm im Rahmen von zwei Begutachtungsterminen am 30.01.2015 und am 13.02.2015 erhobenen Befunden in Einklang bringen. Im Rahmen dieser Untersuchungen ergaben sich Hinweise auf Beeinträchtigungen im Bereich der Affektivität sowie klinisch relevante Auffälligkeiten im Bereich der Persönlichkeitsentwicklung. Soweit Prof. Dr. S. die Authentizität der Beschwerdeschilderung zur Diskussion stellt, gelangt er aber nachvollziehbar zu dem Ergebnis, dass sich wesentliche Diskrepanzen zwischen den dargestellten Beschwerden und den erhobenen Befunden im Rahmen der körperlichen Untersuchung nicht ergaben. Die durch Prof. Dr. S. durchgeführten Tests sprachen gegen klinisch relevante Verdeutlichungstendenzen. Es ergaben sich auch keine Hinweise auf klinisch relevante negative Antwortverzerrungen oder instruktionswidrige Anstrengungsminderleistungen. Prof. Dr. S. verneint dementsprechend Hinweise auf aggravatorisches oder simulatorisches Verhalten. Die von Prof. Dr. S. erhobenen Befunde sind für den Senat daher überzeugend. Für ihn steht in klinischer Hinsicht die depressive Symptomatik im Vordergrund. Diese zeigte sich in einer subdepressiv herabgeminderten Stimmungslage; festzustellen war ein herabgemindertes Selbstwerterleben, deutliche Insuffizienzgefühle sowie Freudlosigkeit. Auf Beschwerdeebene passten zur depressiven Symptomatik die sexuelle Alibidinie, (medikamentös kompensierte) Ein- und Durchschlafstörungen sowie eine soziale Rückzugsneigung und Interessenreduktion. Anhand der erhobenen Befunde gelangt der Gutachter aber nachvollziehbar zu der Einschätzung, dass eine gravierende depressive Symptomatik zum Zeitpunkt seiner Begutachtungen nicht festzustellen war. Auf Befundebene stellte sich eine unauffällige Antriebslage dar mit unauffälligem Ausdrucksverhalten. Es zeigten sich weder formalgedankliche noch kognitive Störungen; bei durchschnittlich guter Auffassungs- und Konzentrationsleistung fanden sich keine Hinweise auf mnestische Funktionsdefizite in Bezug auf das Kurz- oder Langzeitgedächtnis. Auch fehlte es an Zeichen verstärkt ausgeprägter motorischer oder kognitiver Ermüdung. Zeichen gravierender Depressivität, wie Ich-Störung, Wahnerleben oder Wahrnehmungsstörungen, konnten durch Prof. Dr. S. klar ausgeschlossen werden. Die Einordnung der Erkrankung als leichtgradige depressive Episode ist für den Senat nachvollziehbar. Zwar ergaben sich in der Selbstbeschreibung mittels des Beck-Depressionsinventars II (BDI-II) 33 Wertungspunkte, was formal für ein schwer ausgeprägtes depressives Erleben spricht. Diesem subjektiven Erleben stand die strukturierte Erfassung der Depressivität mittels der Hamilton-Depression-Scale entgegen, wo die erzielten 12 Wertungspunkte für eine eher geringfügig ausgeprägte depressive Symptomatik spricht. Prof. Dr. S. weist nachvollziehbar darauf hin, dass auch der klinische Längsschnitt, nach dem seit 2004 depressive Stimmungslagen beschrieben werden, für die Einordnung als leichtgradige Depressivität und gegen eine Dysthymia spricht. Diese diagnostische Einschätzung steht auch in Übereinstimmung mit der Mehrzahl der vorliegenden fachpsychiatrischen Gutachten und Einschätzungen. Hinsichtlich der von Prof. Dr. G. diagnostizierten Dysthymia weist Prof. Dr. S. überzeugend darauf hin, dass diese Diagnose die hinreichend präzise beschriebenen, wiederkehrenden auch schwergradigen depressiven Episoden nicht ausreichend berücksichtigt. Neben der leichten depressiven Episode besteht bei der Klägerin eine ängstlich-vermeidende Persönlichkeitsstörung, die Prof. Dr. S. anhand der klinischen Auffälligkeiten anhand der Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung nachvollziehbar darstellt und herleitet. Die in der Vergangenheit geschilderten spezifischen Angststörungen - wie generalisierte Angststörung, Panikstörung, soziale Phobie etc. - konnten im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. S. nicht bestätigt werden. Die Klägerin hat zwar auch weiterhin von anflutenden Angstgefühlen berichtet, die sich aber nicht zu einer Panikattacke steigerten, da sie dies im Griff habe. Nicht bestätigt werden konnte im Rahmen der Begutachtung durch Prof. Dr. S. die von Dr. K. angegebene Diagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit Persistenz der Symptomatik in das Erwachsenenalter. Diese Diagnose wird, worauf auch Prof. Dr. S. hinweist, durch die Mehrzahl der nachfolgenden Behandlungsberichte bestätigt. Für den Senat überzeugend führt aber Prof. Dr. S. aus, dass sich im Rahmen der Befunderhebung keinerlei Hinweise auf aktuelle Impulsivität oder Hyperaktivität ergaben und auch eine Unaufmerksamkeit nicht nachweisbar war. Im Aufmerksamkeits- und Konzentrationstest d2-R zeigte die Klägerin im Vergleich zu ihrer Altersklasse eine durchschnittliche Tempoleistung und eine überdurchschnittliche Sorgfaltsleistung, insgesamt ergab sich eine durchschnittliche Konzentrations-Gesamtleistung. Zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Prof. Dr. S. konnte eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung nach den Kriterien des DSM-V und der ICD-10 definitiv nicht bestätigt werden. Auch äußert Prof. Dr. S. nachvollziehbar Zweifel am Vorliegen einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptomatik in Kindheit und Jugend, welche grundsätzlich auch Voraussetzung für den Nachweis dieser Gesundheitsstörung ist. Die Klägerin hat zwar in der temporären Gymnasialzeit eine nachlassende Leistung gezeigt, in Grund- und Realschule aber ein gutes Leistungsverhalten. Impulsives, hyperaktives und unaufmerksames Verhalten in Kindheit und Jugend war auf Nachfragen auszuschließen. Prof. Dr. S. setzt sich auch insoweit ausführlich mit den Vorgutachten und den Stellungnahmen der behandelnden Ärzte auseinander. Er weist zutreffend darauf hin, dass sich in dem Gutachten von Dr. S. vom 30.09.2009 zwar die Diagnose einer Aufmerksamkeitsstörung ohne aktuelle klinische Symptomatik findet, der psychische Untersuchungsbefund aber keinerlei Auffälligkeiten im Hinblick auf eine aktuelle manifeste Symptomatik enthält. Auch Dr. S. spricht allein von einer möglichen Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ADS) und führt aus, dass Aufmerksamkeit, Konzentration und Ausdauer während der vielstündigen Exploration und Untersuchung nicht auffällig beeinträchtigt gewesen seien. In den Gutachten von Dr. B. und Prof. Dr. G. wird eine ADHS nicht diagnostiziert.

Ausgehend von den genannten Gesundheitsstörungen ist Prof. Dr. S. für den Senat überzeugend zu der Einschätzung gelangt, dass die Klägerin Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vollschichtig, d. h. bis zu acht Stunden an fünf Tagen pro Woche, arbeiten kann. Der Senat hat auch keine Zweifel am Durchhalte- und Ausdauerleistungsvermögen der Klägerin. Die von der Klägerin gegenüber Prof. Dr. S. geschilderte schnelle Erschöpfung sowie das schlechte Durchhaltevermögen konnten nicht bestätigt werden. Die Klägerin zeigte im Rahmen der beiden mehrstündigen, kognitiv wie emotional fordernden Explorationssitzungen ein gutes Durchhaltevermögen. Im Rahmen der Begutachtung ergaben sich keine Hinweise auf Störungen basaler Motivations- und Antriebsfunktionen, wie z. B. primär geminderter Antrieb oder pathologisch erhöhte Ermüdbarkeit.

Der Senat konnte sich daher nicht davon überzeugen, dass die Klägerin über den 31.01.2012 hinaus voll erwerbsgemindert war. Dem Gutachten von Dr. S. vom 08.03.2011 kommt für den hier streitigen Zeitraum keine Aussagekraft zu, unabhängig davon, ob die durch ihn erhobenen Befunde die angenommene Leistungseinschränkung begründen, woran Prof. Dr. S. zweifelt. Dr. S. hat in seinem Gutachten keine dauerhafte Leistungsminderung angenommen. Er ging vielmehr davon aus, dass die zum Zeitpunkt seiner Begutachtung bestehende Leistungsminderung nach Ablauf eines weiteren Jahres und Durchführung einer psychotherapeutischen Behandlung behoben sein müsste. Dass nach dem 31.01.2012 keine Leistungsminderung in rentenrelevantem Ausmaß mehr bestand, wird durch die Gutachten von Dr. B., Prof. Dr. G. und Prof. Dr. S., denen der Senat folgt, bestätigt. Prof. Dr. S. geht davon aus, dass der aktuell durch ihn festzustellende Gesundheitszustand seit der Änderung der privaten Lebensumstände mit Trennung aus zweiter Partnerschaft Anfang/Mitte 2014 besteht. Rückblickend ergeben sich für ihn hinsichtlich der Angsterkrankung keine Hinweise dafür, dass diese zu irgendeinem Zeitpunkt quantitativ leistungsmindernd relevant gewesen wäre. Hinsichtlich der Phasen der schweren depressiven Episode, die hier für den stationären Aufenthalt in der M.-Klinik GmbH vom 05.10. bis 31.12.2012 dokumentiert ist, führt Prof. Dr. S. zutreffend aus, dass diese allein zu einer Arbeitsunfähigkeit führten. Ein langes Bestehen einer schweren depressiven Episode, das eine Erwerbsunfähigkeit begründen könnte, ist für den Senat nicht nachgewiesen. Dagegen spricht das Gutachten von Dr. B. vom 17.02.2012, das Gutachten von Prof. Dr. G. vom 02.09.2013 sowie die auch durch Dr. K. bestätigte Befundbesserung bei der Untersuchung am 18.12.2012.

Die durch Prof. Dr. S. angegebenen qualitativen Leistungseinschränkungen, denen sich der Senat anschließt, sind durch das Erfordernis einer leichten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erfasst. Aufgrund der bei der Klägerin vorliegenden Gesundheitsstörungen besteht eine Minderung der Fähigkeit zur Bewältigung psychovegetativer Stressbelastungen. Berufliche Tätigkeiten, die mit erhöhter Stressbelastung, z. B. durch erhöhten Zeitdruck, wie Akkord- und Fließbandarbeit, oder unphysiologischer psychovegetativer Belastung, z. B. durch Nachtarbeit, einhergehen, sind auszuschließen. Dies gilt auch für Tätigkeiten mit hoher Verantwortung für Personen und Sachwerte oder Tätigkeiten, die andauernd hohe Anforderungen an das Aufmerksamkeits- und Konzentrationsvermögen stellen, wie z. B. Arbeiten an gefährlichen laufenden Maschinen, verantwortungsvolle Kontrollarbeiten etc ... Aufgrund der vorliegenden Persönlichkeitsstörung sind darüber hinaus Tätigkeiten, die die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Gestaltung interpersoneller Kontakte erfordern, auszuschließen. Ferner sind körperlich schwere und anhaltende mittelschwere Tätigkeiten sowie Arbeiten unter Wirbelsäulenzwangshaltungen, Überkopfarbeiten, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten zu vermeiden. Die vorliegenden Einschränkungen können damit zwar das Spektrum der für die Klägerin in Betracht kommenden Tätigkeiten einschränken, sie begründen aber keine Zweifel an der normalen betrieblichen Einsatzfähigkeit für leichtere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes. Ein Rentenanspruch kann vorliegend somit auch nicht auf die Grundsätze einer schweren spezifischen Leistungsbeeinträchtigung oder einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen gestützt werden. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt eine volle Erwerbsminderung ausnahmsweise selbst bei einer mindestens sechsstündigen Erwerbsfähigkeit vor, wenn der Arbeitsmarkt wegen besonderer spezifischer Leistungseinschränkungen als verschlossen anzusehen ist. Dem liegt zugrunde, dass eine Verweisung auf die verbliebene Erwerbsfähigkeit nur dann möglich ist, wenn nicht nur die theoretische Möglichkeit besteht, einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten (vgl. BSG, SozR 2200 § 1246 Nr. 110). Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist bei Versicherten mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. Eine Verweisungstätigkeit braucht erst dann benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Hinsichtlich der vorhandenen qualitativen Beschränkungen hängt das Bestehen einer Benennungspflicht im Übrigen daher entscheidend von deren Anzahl, Art und Umfang ab, wobei zweckmäßigerweise in zwei Schritten - einerseits unter Beachtung der beim Restleistungsvermögen noch vorhandenen Tätigkeitsfelder, andererseits unter Prüfung der "Qualität" der Einschränkungen (Anzahl, Art und Umfang) - zu klären ist, ob hieraus eine deutliche Verengung des Arbeitsmarktes resultiert (vgl. BSG SozR 3-2600 § 43 Nrn. 17 und 21; SozR a.a.O. § 44 Nr. 12; BSG, Urteil vom 09.09.1998 - B 13 RJ 3./97 R - Juris). Eine spezifische Leistungseinschränkung liegt nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 27.04.1982 - 1 RJ 132/80 - SozR 2200 § 1246 Nr. 90) jedenfalls dann nicht vor, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne schweres Heben und Tragen von Gegenständen, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag. Der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit bedarf es nicht, wenn Tätigkeiten wie das Verpacken leichter Gegenstände, einfache Prüfarbeiten oder die leichte Bedienung von Maschinen noch uneingeschränkt möglich sind. Ausgehend hiervon liegt bei der Klägerin unter Berücksichtigung der bereits beschriebenen qualitativen Einschränkungen weder eine besondere spezifische Leistungsbeeinträchtigung noch eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor, nachdem der Klägerin noch weite Teile des Arbeitsmarktes für leichte Tätigkeiten offen stehen. Nach der Einschätzung von Prof. Dr. S., der der Senat folgt, sind der Klägerin körperlich leichte, kognitiv eher unkomplexe Tätigkeiten in Produktion, Logistik und Dienstleistung, etwa das Verpacken leichter Industrie- oder Handelserzeugnisse, Montier- oder Sortierarbeiten oder vergleichbare Hilfsarbeiten zumutbar.

Die Klägerin ist darüber hinaus auch in der Lage, einen Arbeitsplatz aufzusuchen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gehört zur Erwerbsfähigkeit auch das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (BSG, Urteile vom 09.08.2001 - B 10 LW 1./00 R – SozR 3-5864 § 13 Nr. 2 m. w. N. und vom 28.08.2002 - B 5 RJ 1./02 R - Juris). Denn eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich. Das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität ist deshalb Teil des nach § 43 SGB VI versicherten Risikos (BSG, Urteile vom 17.12.1991 - 13/5 RJ 73/90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10, vom 09.08.2001 - B 10 LW 1./00 R - SozR 3-5864 § 13 Nr. 2 und vom 14.03.2002 - B 13 RJ 2./01 R - Juris); das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach einem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, vier Mal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand zu Fuß bewältigen und zwei Mal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z. B. Gehstützen) und Beförderungsmöglichkeiten zu berücksichtigen (BSG, Urteile vom 17.12.1991 - 1./5 RJ 7./90 - SozR 3-2200 § 1247 Nr. 10, vom 19.11.1997 - 5 RJ 1./97 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 10 und vom 30.01.2002 - B 5 RJ 3./01 R - Juris). Dazu gehört auch die zumutbare Benutzung eines vorhandenen, ggf. im Rahmen der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 16 SGB VI, § 33 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 8 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX)) subventionierten Kraftfahrzeugs (vgl. BSG, Urteile vom 19.11.1997 - 5 RJ 1./97 - SozR 3-2600 § 44 Nr. 10, vom 30.01.2002 - B 5 RJ 3./01 R und vom 14.03.2002 - B 13 RJ 2./01 R - Juris). Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, bestehen nicht; bei der Klägerin liegen keine Erkrankungen vor, die sich auf die Gehfähigkeit derart auswirken, dass es ihr nicht mehr möglich wäre, viermal täglich eine Strecke von 500 Metern in einem zumutbaren Zeitaufwand zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Der Klägerin ist es nach der Einschätzung von Prof. Dr. S., der der Senat auch insoweit folgt, auch möglich, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Die durch die Klägerin geschilderte Neigung zur Vermeidung des Kontakts mit Menschengruppen resultiert aus der Kombination von depressiver Störung und Persönlichkeitsstörung und ist durchaus nachvollziehbar, stellt aber nach der überzeugenden Auffassung von Prof. Dr. S. kein unüberwindbares Hemmnis dar. Soweit Dr. K. ausführt, die Klägerin sei aufgrund ihrer Panikstörung nicht in der Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wird dies durch das Gutachten von Prof. Dr. S. nicht bestätigt. Die Klägerin selbst hat gegenüber Prof. Dr. S. angegeben, öffentliche Verkehrsmittel benutzen zu können, auch wenn sie dies ungern tue.

Nachdem die Klägerin nach dem 01.02.1961 geboren ist, hat sie - unabhängig von ihren gesundheitlichen Einschränkungen - auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung nach § 240 Abs. 1 SGB VI.

Die Klägerin hat daher keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung, weswegen der Senat das angefochtene Urteil aufhebt und die Klage insgesamt abweist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei war für den Senat im Rahmen des ihm eingeräumten Ermessens ausschlaggebend, dass die Beklagte keinen berechtigten Anlass zur Klageerhebung gegeben hat und die Rechtsverfolgung der Klägerin insgesamt ohne Erfolg geblieben ist.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
Saved