L 8 SB 976/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SB 2533/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 976/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13.02.2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger gegen den Beklagten einen Anspruch auf (Erst-)Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100 (statt 90) seit 07.10.2010 hat.

Der am 14.11.1960 geborene Kläger, deutscher Staatsangehöriger, beantragte am 07.10.2010 beim Landratsamt des S.-Kreises (LRA) die Feststellung eines GdB (Blatt 1/4 der Beklagtenakte). Zu seinem Antrag legte er ärztliche Unterlagen vor (Blatt 5/12 der Beklagtenakte) und verwies im Wesentlichen auf ein Seminom des rechten Hodens.

Das LRA zog einen ärztlichen Bericht der H. S. O. vom 12.10.2010 bei (dazu vgl. Blatt 14/19 der Beklagtenakte) bei und stellte auf einer Stellungnahme des Versorgungsarztes R. vom 03.01.2011 (Blatt 21 der Beklagtenakte) mit Bescheid vom 19.01.2011 (Blatt 22/25 der Beklagtenakte) den GdB seit 07.10.2010 mit 80 fest (zugrundeliegende Funktionsbehinderung: Hodenerkrankung (in Heilungsbewährung):, Einzel-GdB 80).

Mit seinem Widerspruch vom 02.02.2011 (Blatt 28 der Beklagtenakte) machte der Kläger u.a. geltend, die chronische Gastritis sei nicht nur Nebensache. Er habe mit anhaltenden Refluxbeschwerden zu kämpfen und sei niemals wirklich beschwerdefrei, er müsse laufend Medikamente nehmen. Außerdem bestünden eine Wirbelsäulenerkrankung und eine Schulter-erkrankung sowie ein Zustand nach Varizenoperation bei erheblichen Krampfadern und Stauungsbeschwerden in beiden Beinen.

Das LRA holte Auskünfte des behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin, Dr. B. (dazu vgl. Blatt 37/44 der Beklagtenakte) und des behandelnden Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie (u.a.), Dr. S. (dazu vgl. Blatt 45/59 der Beklagtenakte) ein.

In seiner Stellungnahme vom 20.05.2011 schlug der Versorgungsarzt vor, den GdB wie folgt zu bewerten (Blatt 60/61 der Beklagtenakte): Hodenerkrankung (in Heilungsbewährung) GdB 80 operierter Wirbelbruch, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule GdB 20 Refluxkrankheit der Speiseröhre GdB 10 Krampfadern GdB 10 Gesamt-GdB 80

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.07.2011 (Blatt 63/64 der Beklagtenakte), zur Post gegeben am 19.07.2011, wies der Beklagte durch das Regierungspräsidium S. – Landesversorgungsamt – den Widerspruch des Klägers zurück. Die nochmalige versorgungsärztliche Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass die vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen mit der angefochtenen Entscheidung angemessen bewertet worden seien.

Hiergegen hat der Kläger am Montag, 22.08.2011, beim Sozialgericht (SG) Reutlingen Klage erhoben. Er hat zur Begründung auf den orthopädischen Befund an der Wirbelsäule verwiesen; die Refluxerkrankung könne auch nicht als Nebensache abgetan werden. Der GdB sei mit 100 festzustellen.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Befragung der den Kläger behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen. Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 20/29, 30/46, 47, 51/52 der SG-Akte Bezug genommen. Der Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. B. hat in seinem Schreiben vom 31.10.2011 auf einen bösartigen Hodentumor, einen Diabetes mellitus Typ II, eine Lungenembolie, eine tiefe Beinvenenthrombose und eine Niedergeschlagenheit verwiesen. Der Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie (u.a.) S. hat in seiner Auskunft vom 08.11.2011 eine deutliche Fehlstellung der HWS, eine Skoliose der LWS und eine Omarthrose berichtet; der GdB liege bei 40. Der Chirurg, Phlebologe, Chirotherapeut (u.a.) Dr. R. hat dem SG mit Schreiben vom 11.11.2011 mitgeteilt, bei der chronisch venösen Insuffizienz und Stauung nach Lungenembolie sei ein GdB von 10 angemessen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 10.02.2012 hat Dr. B. mitgeteilt, beim Kläger bestehe ein Diabetes mellitus Typ 2 ohne Insulinpflicht, der seit 8/2011 mit Metformin 2mal täglich sowie diätisch behandelt werde. Dr. D., Facharzt für Urologie (u.a.) hat dem SG am 12.06.2012 geschrieben, neben der bekannten malignen metastasierten Hodenerkrankung (derzeit kein Rezidiv) bestehe ein symptomatischer und therapiebedürftiger Hypogonadismus.

Der Beklagte trat der Klage unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. K. vom 12.04.2012 und Dr. D. vom 05.11.2012 entgegen.

Mit seinem in der mündlichen Verhandlung vom 13.02.2014 verkündeten Urteil hat das SG den Bescheid vom 19.01.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.07.2011 abgeändert und festgestellt, dass beim Kläger ein GdB von 90 bestehe; im Übrigen hat das SG die Klage abgewiesen. Für die am 23.06.2010 erfolgte Entfernung des Hodenseminoms der Klasse T1 N2 M0 habe der Beklagte zutreffend einen GdB von 80 angesetzt. Der beim Kläger bestehende Hypogonadismus, welcher mit Testosteronsubstitution behandelbar sei, sei im Rahmen des für die Heilungsbewährung angesetzten GdB mit berücksichtigt. An der HWS bestünde beim Kläger ein Zustand nach Fraktur des 3. Halswirbelkörpers (HWK) und in deutlicher Fehlstellung verheilter Spondylodese HWK 3/4 (1976) mit in situ befindlicher Cerclage und eine Osteochondrose der HWK 4-7. Die Rotation rechts-links sei nach der Neutral-0-Methode auf 20-0-20 und die Seitneigung auf 15-0-10 eingeschränkt. Damit lägen am Bereich der Halswirbelsäule schwergradige Bewegungseinschränkungen vor, welche alleine mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten seien. An der Lendenwirbelsäule finde sich ein LWS-Syndrom bei Hyperlordose mit links-konvexer Lumbalskoliose. Im unteren Lendenwirbelsäulenabschnitt bestünden Spondylarthrosen. Dieser Wirbelsäulenschaden bedinge jedoch lediglich allenfalls geringe funktionelle Auswirkungen. Nennenswerte Einschränkungen ließen sich den medizinischen Unterlagen nicht entnehmen. Nach dem behandelnden Orthopäden habe sich der Kläger wegen Problemen der Lendenwirbelsäule in ca. 5 Jahren lediglich einmal bei ihm in Behandlung befunden und auch der Kläger selbst beschreibe keine bedeutenden Einschränkungen in diesem Bereich. Hier sei auch zu beachten, dass der Kläger trotz dieser Beeinträchtigung sportlichen Betätigungen wie Skifahren in intensiver Form nachgehe (z.B. 100 km Langlauf oder Radfahren), welche alles andere als lendenwirbelsäulenfreundlich seien. Offenbar bestünden dabei keine relevanten Limitationen. Daher komme für die Lendenwirbelsäule kein höherer Einzel-GdB als 10 in Betracht. Insgesamt sei für die Wirbelsäule als funktionelle Einheit kein höherer GdB als 30 anzusetzen, da zwar Einschränkungen an zwei Wirbelsäulenabschnitten bestünden, diese aber nicht beide wenigstens mittelgradige bis schwere Auswirkungen zeitigten. Die Krampfadern bei Zustand nach Varizenoperation seien mit einem GdB von 10 ausreichend und eher großzügig bewertet. Für die Refluxkrankheit sei zutreffend ein Einzel-GdB von 10 angesetzt. Wie auch der Beratungsarzt Dr. K. in seiner Stellungnahme vom 28.03.2012 korrekt dargestellt habe, lasse sich dem Entlassbericht der S. O. vom 12.08.2012 keine wesentliche, behandlungsbedürftige Symptomatik entnehmen. Der behandelnde Hausarzt Dr. B. benenne diese Beeinträchtigung nicht einmal und auch aus seinen Behandlungsdaten ergebe sich kein Anhalt für sie. Auswirkungen auf Nachbarorgane seien nicht festgestellt, insbesondere die vom Kläger angeführte chronische Gastritis sei nicht belegt, da keine Veränderung der Magenschleimhaut histologisch gesichert seien. Auch die Beeinträchtigungen an den Schultern bedingten keinen Einzel-GdB von wenigstens 10. Röntgenologisch finde sich lediglich eine leichte Omarthrose, sonographisch zeigten sich die Sehnen der linken Schulter intakt bei einer leichten Bursitis subacromialis. Der Diabetes Typ II sei nicht insulinpflichtig und mit Metformin behandelbar, weshalb der GdB mit 0 anzusetzen sei. Der Gesamt-GdB sei daher mit 90 zu bemessen.

Der Kläger hat, durch seinen Bevollmächtigten vertreten, am 25.02.2014 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Das SG hat das Urteil mit Schreiben vom 31.03.2014 zugestellt (Blatt 106 der SG-Akte).

Der Beklagte hat am 11.04.2015 gegen das ihm am 03.04.2015 zugestellte Urteil Berufung eingelegt, diese jedoch mit Schreiben vom 03.11.2014 (Blatt 88 der Senatsakte) zurückge-nommen.

Der Kläger hat ausgeführt, der Gesamt-GdB sei zu niedrig angesetzt. Die Ausführungen des SG seien nur schwer in Übereinstimmung zu bringen mit den Angaben des langjährig behandelnden Orthopäden S., welcher nicht umsonst einen GdB von 40 aufgrund der Beeinträchtigungen aus seinem Fachgebiet festgestellt habe. Selbst unter theoretischer Akzeptanz der vom SG angesetzten Einzel-GdB lasse sich bereits ein Gesamt-GdB von 100 rechtfertigen, da in keinster Weise ersichtlich sei, inwieweit sich die Beeinträchtigungen aus beiden Krankheitskomplexen in irgendeiner Form überlappen sollten.

Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 13.02.2014 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheids des Landratsamts S.-Kreis vom 19.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 12.07.2011 zu verurteilen, bei ihm seit 07.10.2010 einen GdB von 100 festzustellen.

Der Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte ist der Berufung zuletzt noch entgegengetreten und hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat von Amts wegen Beweis erhoben durch Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens bei Dr. S. sowie von Zusatzgutachten auf nervenärztlichem Fachgebiet bei der Ärztin für Psychiatrie, Suchtmedizin, Sozialmedizin, F. sowie auf orthopädischem Fachgebiet beim Arzt für Orthopädie Dr. K ... Außerdem hat der Senat nach § 109 SGG auf Antrag des Klägers beim Facharzt für Orthopädie, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Dr. R. ein Gutachten eingeholt. Wegen des Inhalts und Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf Blatt 32/42, 43/57 sowie 59/87 und 99/124 der Senatsakte Bezug genommen. Die Ärztin für Psychiatrie, Suchtmedizin, Sozialmedizin, F. hat in ihrem Gutachten vom 14.10.2014 auf psychiatrischem Fachgebiet keine Störungen von Krankheitswert und keine krankheitsbedingten Funktionsstörungen festgestellt. Auch im strittigen Zeitraum seit der Krebserkrankung sei eine solche nicht anzunehmen. Eine psychische Beeinträchtigung bei Krebsleiden im Hinblick auf die Krankheitsverarbeitung habe beim Kläger zwar vorgelegen. Wie aus seinen Angaben und aus den Angaben im Entlassungsbericht der H.-Klinik hervorgehe, sei diese aber nicht von einem derartigen Schweregrad gewesen, dass spezifische Behandlungsmaßnahmen hätten ergriffen werden müssen. Eine individuelle psychologische Betreuung sei bereits zu diesem Zeitpunkt laut Entlassungsbericht aufgrund des stabilen psychischen Zustandsbildes nicht erforderlich gewesen. Auch in der Folgezeit sei eine fachspezifische Behandlung nicht dokumentiert. Dr. K. hat in seinem Gutachten vom 04.08.2014 Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule bei Zustand nach Fraktur 1975 und operativer Versorgung 1976 mit daraus resultierender Einschränkung der Beweglichkeit festgestellt, des Weiteren Veränderungen im Bereich der linken Schulter, die unter Kenntnis der diagnostischen Maßnahmen als eine Reizung der Rotatorenmanschette zu werten seien, sowie im Bereich der Brustwirbelsäule eine akute muskuläre Überlastung. Die Lendenwirbelsäulenbeschwerden seien ausgesprochen gering ausgeprägt. Dr. K. hat für die Halswirbelsäule eine Einstufung als mittelgradige funktionelle Auswirkung in einem Wirbelsäulenabschnitt mit einem GdB 20 angenommen, für die linke Schulter einen GdB von 10 und insgesamt auf fachorthopädischem Gebiet einen GdB von 20. Dr. S. hat in seinem Gutachten vom 17.10.2014 unter Berücksichtigung der Zusatzgutachten einen Zustand nach Hodenentfernung (06/2010) wegen bösartiger Erkrankung mit Nachbestrahlung ohne Anhaltspunkte für Fortbestehen oder Rückfall der bösartigen Erkrankung, Stauungsbeschwerden bei chronisch venöser Insuffizienz der unteren Extremitäten ohne Komplikationen, einen Zustand nach zweimaliger Lungenembolie ohne Nachweis einer Lungenfunktionsstörung, eine Bewegungseinschränkung der Halswirbelsäule nach Unfall 1976, eine geringgradige Bewegungseinschränkung der linken Schulter durch Reizung der Weichteile der Gelenkumgebung, eine Refluxkrankheit der Speiseröhre sowie einen leicht gestörten Glucosestoffwechsel festgestellt. Er hat für die Hodenerkrankung (in Heilungsbewährung) einen GdB von 80, für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule einen GdB von 20, für die Refluxkrankheit der Speiseröhre einen GdB von 10 sowie für die chronisch venöse Insuffizienz einen GdB von 10 angenommen. Den Gesamt-GdB hat er auf 90 eingeschätzt. Dr. R. hat in seinem Gutachten vom 25.02.2015 ein chronisches Wirbelsäulensyndrom in 2 Abschnitten leichter bis höchstens mittelgradiger (Lendenwirbelsäule) bzw. schwerer (Halswirbelsäule) Ausprägung mit Zustand nach Versteifung in 1 Abschnitt nach Fraktur (Halswirbelsäule) und degenerativen Veränderungen und Skoliose in 1 Abschnitt (Lendenwirbel-säule) mit häufigen Schmerzsyndromen, eine Omarthrose (Schultergelenksarthrose) beidseits mit reduzierter Funktion beidseits und Schmerzhaftigkeit der Bewegungen, eine Epicondylitis humeri radialis beidseits ohne Funktionsdefizit, einen Verdacht auf Tendovaginitis stenosans de Quervain beidseits, auf beginnende Rhizarthrose beidseits mit linksseitig geminderter Funktion, einen Morbus Dupuytren Stadium I links sowie eine milde Knick-Senkfußdeformität ohne statische Beeinträchtigung dargestellt, die er wie folgt bewertet hat: - Chronisches Wirbelsäulensyndrom: GdB 30 - Omarthrose: GdB 20 - Epicondylitis humeri radialis beidseits: GdB 0 - V. a. Tendovaginitis stenosans de Quervain beidseits: GdB 0 - V. a. beginnende Rhizarthrose beidseits: GdB 0 - M. Dupuytren Stadium I links: GdB 0 - Milde Knick-Senkfußdeformität: GdB 0 Auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet hat Dr. R. den GdB mit 40 bewertet.

In seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.05.2015 (Blatt 128/129 der Senatsakte) hat Dr. W. ausgeführt, für die Gesamt-GdB-Bildung könne es dahingestellt bleiben, ob man für das Wirbelsäulenleiden einen Einzel-GdB von 20 oder 30 feststelle. Bei Mitberücksichtigung des Gutachtens von Dr. R. könne es zumindest vertreten werden, sich auf einen Einzel-GdB von 30 formell festzulegen. Nicht nachzuvollziehen sei dagegen der von Dr. R. angegebene Einzel-GdB von 20 für eine Funktionsbehinderung beider Schultergelenke. Zwar seien von Seiten der Schultergelenke im Gutachten Dr. R. im Vergleich zu Dr. K. deutlich schlechtere Bewegungsmaße festgestellt worden, wobei sich die Differenz aber offenbar dadurch erkläre, dass Dr. Riedt die Beweglichkeit der Schultergelenke bei fixiertem Schulterblatt überprüft habe. Gemäß der Nr. 18.13 VG sei aber für die GdB-Bewertung der Schultergelenke die Bewegungseinschränkung des Schultergelenks einschließlich Schultergürtel zugrunde zu legen, also bei freigegebenem Schulterblatt. Gehe man von den von Dr. K. angegebenen nur ganz endgradigen Bewegungseinschränkungen der Schultergelenke aus, so ergebe sich hier im Prinzip kein GdB. Man könne es allenfalls vertreten, bei Mitberücksichtigung von bestehenden Beschwerden der Schultergelenke einen Einzel-GdB von 10 festzustellen. Da die Heilungsbewährungszeit für die Hodenerkrankung im Juni 2015 ablaufe, sei jetzt eine umgehende Nachprüfung erforderlich. Hiergegen hat der Kläger mit Schreiben vom 08.06.2015 (Blatt 130 der Senatsakte) ausgeführt, er vermöge die Einwände des ärztlichen Dienstes des Beklagten nicht nachzuvollziehen. Es werde beantragt, den Gutachter ergänzend im Rahmen von § 109 SGG zu den Einwänden der Gegenseite zu hören.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Senatsakte sowie die beigezogenen Akten des SG und des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Auch wenn die Beteiligten sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt hatten, konnte der Senat trotz Ausbleibens des Klägers verhandeln und entscheiden, da der Kläger ordnungsgemäß geladen war und mit der Ladung auf die Möglichkeit hingewiesen wurde (§ 110 Abs. 1 Satz 2 SGG). Außerdem war dem Kläger über dessen Bevollmächtigten mit Telefonat vom 22.06.2015 und Fax vom 25.06.2015 mitgeteilt worden, dass die terminierte mündliche Verhandlung durchgeführt werde. Der Kläger hat über seinen Bevollmächtigten mitteilen lassen (Anruf vom 26.06.2015), dass niemand zur mündlichen Verhandlung erscheinen werde.

Die gemäß § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist gemäß §§ 143, 144 SGG zulässig aber unbegründet.

Die Berufung des Kläger war auch schon vor Zustellung des Urteils möglich, denn zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung war das Urteil des SG bereits verkündet und daher existent (vgl. dazu Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Auflage, § 151 RdNr. 9).

Der angefochtene Bescheid des LRA vom 19.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids des Beklagten vom 12.07.2011 in der Fassung, die dieser durch das angefochtene Urteil des SG vom 13.02.2014 gefunden hat, ist jedenfalls bis 23.06.2015 nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Seit 24.06.2015 ist in Folge des Ablaufs der Heilungsbewährung der GdB so nicht mehr festzustellen, weshalb der angefochtene Bescheid rechtswidrig sein dürfte, den Kläger, der keinen Anspruch auf höhere Feststellung des GdB hat, jedoch nicht in seinen Rechten verletzt. Der Kläger hat sowohl vor als auch nach dem 24.06.2015 keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 90.

Maßgebliche Rechtsgrundlagen für die GdB-Bewertung sind die Vorschriften des SGB IX. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Die der Zuerkennung eines GdB zugrundeliegende Behinderung wird gemäß § 69 Abs. 1 SGB IX im Hinblick auf deren Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Dabei stellt die Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10.12.2009 (BGBl. I, 2412), den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG) auf funktionelle Beeinträchtigungen ab, die zunächst im Allgemeinen nach Funktionssystemen (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) getrennt, später nach § 69 Abs. 3 SGB IX in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen sind. Die Feststellung der jeweiligen Einzel-GdB folgt dabei nicht einzelnen Erkrankungen sondern den funktionellen Auswirkungen aller derjenigen Erkrankungen, die ein einzelnes Funktionssystem betreffen.

Die Bemessung des Gesamt GdB (dazu s. unten) erfolgt nach § 69 Abs. 3 SGB IX. Da-nach ist zu beachten, dass bei Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel GdB zu bilden, bei der Ermittlung des Gesamt GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung des Gesamt GdB ungeeignet. In der Regel ist von der Behinderung mit dem höchsten Einzel GdB auszugehen und zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Behinderungen größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Ein Einzel GdB von 10 führt in der Regel nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (vgl. A Nr. 3 VG). Der Gesamt GdB ist unter Beachtung der VersMedV einschließlich der VG in freier richterlicher Beweiswürdigung sowie aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung von Sachverständigengutachten zu bilden (BSGE 62, 209, 213; BSG SozR 3870 § 3 Nr. 26 und SozR 3 3879 § 4 Nr. 5 zu den AHP). Es ist also eine Prüfung vorzunehmen, wie die einzelnen Behinderungen sich zueinander verhalten und ob die Behinderungen in ihrer Gesamtheit ein Ausmaß erreichen, das die Schwerbehinderung bedingt.

Der Senat ist nach eigener Prüfung zu der Überzeugung gelangt, dass die Funktions-behinderungen, die im Allgemeinen in den einzelnen Funktionssystemen (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) bewertet werden, in ihrer Gesamtschau keinen Gesamt-GdB von mehr als 90 rechtfertigen, weshalb ein Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB nicht besteht und die Berufung zurückzuweisen war.

Beim Kläger besteht ein Zustand nach Entfernung des rechten Hodens nach Hodentumor sowie ein Hypogonadismus, eine endokrine Funktionsstörung des Hodens, die zu einem Testosteronmangel führt. Zutreffend haben das LRA, der Beklagte und das SG und insoweit auch vom Kläger nicht bestritten, gemäß B Nr. 13.6 VG für die Hodenkrebserkrankung einen Teil-GdB von 80 (in Heilungsbewährung) angenommen. Der Hypogonadismus ist hierbei bereits erfasst. Insoweit konnte der Senat in diesem Funktionssystem lediglich einen Einzel-GdB von 80 feststellen. Für die Zeit ab dem 24.06.2015 steht dem Kläger dieser Einzel-GdB aber schon allein deswegen nicht mehr zu, weil nach Ablauf der Heilungsbewährung von 5 Jahren nach der Hodenoperation am 23.06.2010 (vgl. Bericht Dr. D. vom 06.07.2010, Blatt 9 der Beklagtenakte) der bis dahin nach B Nr. 13.6 VG anzusetzende Teil-GdB von 80 entfällt. Ein Rezidiv ist nicht aufgetreten, was Dr. D. gegenüber dem SG (Blatt 62 der SG-Akte) und der Gutachter Dr. S. gegenüber dem Senat bestätigt haben. Für den Verlust eines Hodens bei intaktem zweiten Hoden – wie beim Kläger gegeben - ist danach gemäß B Nr. 13.2 VG ein Teil-GdB von 0 anzusetzen. Soweit der Hypogonadismus weiterbesteht, bedingt er als therapiebedürftige, symptomatische Erkrankung allenfalls in entsprechender Anwendung von B Nr. 13.2 VG einen Teil-GdB von 10 bis 20. Jedenfalls kann aber nach dem 23.06.2015 kein Einzel-GdB von 80 mehr angenommen werden.

Im Funktionssystem des Gehirns einschließlich der Psyche (dazu vgl. A Nr. 2 Buchst. e) VG) lag von Antragstellung bis zuletzt eine GdB-relevante Funktionsbehinderung nicht vor. Dies konnte der Senat auf Basis des Gutachtens von Frau F. feststellen. Deren Einschätzung passt zu den Befundunterlagen der anderen behandelnden Ärzte und den Ausführungen des Klägers. Soweit der behandelnde Arzt Dr. B. eine Niedergeschlagenheit berichtet hat, kommt dieser kein Krankheitswert zu. Daher war in diesem Funktionssystem ein Einzel-GdB nicht anzunehmen.

Im Funktionssystem der Verdauung besteht eine Refluxkrankheit der Speiseröhre. Dies konnte zuletzt der Gutachter Dr. S. darstellen. Diese führt beim Kläger zu häufigerem Sodbrennen. Eine wesentliche, behandlungsbedürftige Symptomatik liegt insoweit aber nicht vor; so erwähnt auch der behandelnde Hausarzt Dr. B. diese Beeinträchtigung nicht. Aus seinen Behandlungsdaten ergeben sich keine Anhaltspunkte für sie bzw. für eine entsprechende Behandlung. Auswirkungen auf Nachbarorgane sind nicht festgestellt, insbesondere ist auch die vom Kläger angeführte chronische Gastritis nicht belegt, da keine Veränderungen der Magenschleimhaut histologisch gesichert sind. Auch Dr. S. konnte hierzu in seiner Untersuchung keine Anhaltspunkte finden. So hat Dr. S. einen "reichlichen Ernährungszustand" (Blatt 36 der Senatsakte = Seite 9 des Gutachtens) festgestellt; dazu hat der Kläger gegenüber der Gutachterin Faust angegeben, seit Herbst 2013 steige sein Gewicht, er habe 7 kg zugenommen (Blatt 47 der Senatsakte = Seite 5 des Gutachtens). Auch diese Umstände weisen nicht auf eine relevante Erkrankung im Bereich der Verdauung hin. Damit war im Funktionssystem der Verdauung der vom Beklagten für die Refluxerkrankung angenommene Einzel-GdB von 10 jedenfalls nicht zu Lasten des Klägers rechtswidrig zu niedrig.

Soweit der Kläger mit Dr. B. eine Diabetes-Erkrankung mitgeteilt hat, hat Dr. B. eine Behandlung mit Metformin, das – wie dem Senat aus einer Vielzahl anderer Verfahren bekannt ist - regelhaft keine Hypoglykämien auslösen kann, angegeben; der Kläger selbst hat dem Gutachter Dr. S. mitgeteilt, keine Tabletten zu nehmen (Blatt 42 der Senatsakte = Seite 21 des Gutachtens). Damit ist im Funktionssystem des Stoffwechsels und der inneren Sekretion ein Einzel-GdB nach B Nr. 15.1 VG nicht anzunehmen.

Im Funktionssystem der Atmung besteht eine GdB-relevante Funktionsbehinderung nicht. Zwar hatte der Kläger zweimal eine Lungenembolie erlitten, jedoch konnten Einschränkungen der Lungenfunktion in einer Lungenfunktionsuntersuchung (vgl. Gutachten Dr. S., Blatt 39RS/40 RS der Senatsakte = Seite 17/18 des Gutachtens) nicht festgestellt werden. Die extrem niedrigen MEF-Werte sind nur durch die fehlende Kooperation zu erklären, die Flussvolumenkurven weisen Charakteristiken bewusstseinsnaher Falsifikationen auf. Die Sauerstoffsättigung beträgt im Liegen 97%, im Stehen 98%, vor der Lungenfunktionsuntersuchung 99%, nach der Lungen-funktionsuntersuchung 100%. Damit konnte der Senat eine Lungenfunktionsein¬schränkung i.S.v. B Nr. 8.3 VG nicht feststellen, weshalb ein Einzel-GdB nicht anzunehmen ist. Der Senat sieht sich im Ergebnis auch dadurch bestätigt, dass der Kläger in der Lage ist, seit drei Jahren Tenorhorn zu spielen (Blatt 50 der Senatsakte = Seite 8 des Gutachtens F.), was ohne eine ausreichende Lungenfunktion nicht vorstellbar ist.

Die Stauungsbeschwerden bei chronisch venöser Insuffizienz der unteren Extremitäten sind im Funktionssystem der Beine zu berücksichtigen. Der Kläger hat insoweit von Schmerzen beim Stehen berichtet. Bei der Untersuchung durch Dr. S. wurde eine leichte Schwellneigung der Unterschenkel sichtbar, jedoch keine Zeichen einer erheblichen chronischen Stauung; entsprechende Hauterscheinungen waren nicht vorhanden. Dem entspricht auch der Bericht von Prof. Dr. W. (Blatt 21 der SG-Akte), der keine Hinweise auf eine arterielle Durchblutungsstörung oder arteriosklerotische Veränderungen fand und das tiefe Beinvenen-system beidseitig als unauffällig ohne Hinweis auf Thrombose beschrieben hatte. Damit konnte der Senat lediglich eine chronisch-venöse Insuffizienz ohne wesentliche Stauungsbeschwerden feststellen, die mit dem Gutachter Dr. S. und in Übereinstimmung mit dem behandelnden Phlebologen Dr. R. mit einem Einzel-GdB vom 10 zu bewerten war. Soweit Dr. R. eine milde Knick-Senkfußdeformität angegeben hat, ist diese ohne statische Auswirkungen und daher ohne GdB-Relevanz.

Im Funktionssystem der Arme waren die Schulterbeschwerden des Klägers zu berücksichtigen. Hier hatte Dr. K. eine Reizung der Schultersehnenplatte linksseitig mit endgradiger Bewe-gungseinschränkung, ohne auffällige Muskelminderung im Bereich der oberen Extremitäten im Seitenvergleich bei sonographischem Ausschluss einer Rotatorenmanschettenruptur beschrieben. Dr. R. hatte in seinem Gutachten eine Omarthrose (Schultergelenksarthrose) beidseits mit reduzierter Funktion beidseits und Schmerzhaftigkeit der Bewegungen dargestellt. Band-lockerungen oder Luxationen konnten nicht festgestellt werden (vgl. Gutachten Dr. R., Blatt 106 der Senatsakte = Seite 8 des Gutachtens), ebenso wenig eine Versteifung. Die Gutachter hatten folgende Bewegungsausmaße gemessen:

Gutachten Dr. K. Gutachten Dr. R. Untersuchung am 23.07.2014 rechts links rechts links Arm seitwärts/körperwärts aktiv 160-0-25 150-0-20 105-0-40 110-0-40 Arm rückwärts/vorwärts aktiv 25-0-160 20-0-150 30-0-115 30-0-115 Arm auswärts/einwärts aktiv bei anliegendem Oberarm 60-0-80 50-0-70 75-0-90 60-0-90 Arm auswärts/einwärts aktiv bei abgehobenem Oberarm 50-0-70 50-0-70

Nachdem der Kläger jedenfalls seine Arme beidseits mehr als 90o heben kann, kommt für die Schultern nach B Nr. 18.13 VG lediglich ein Teil-GdB von 10 in Betracht. Die vom Kläger vorgetragenen Schmerzen gehen nicht über das mit der vorhandenen Erkrankung umfasste Maß hinaus. So hat auch Dr. R. eine besondere ärztliche Behandlung erfordernde Schmerzhaftigkeit verneint (Blatt 114 der Senatsakte = Seite 16 des Gutachtens). Ausdrücklich hat er ausgeführt: " habe ich kein außergewöhnliches Schmerzsyndrom vorgefunden, das die üblichen, im nach den Versorgungsmedizin Verordnungen vorgegebenen GdB bereits berücksichtigten Schmerzen nicht schon tenoriert hätte." Damit konnte der Senat der Bewertung der Funktionsbehinderungen der Schulter mit einem Teil-GdB von 20 durch Dr. R. nicht beitreten, zumal auch eine mit einer Einschränkung der entsprechenden Armhebung verbundene relevante Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit auch anhand des Gutachtens Dr. R. nicht festgestellt werden konnte. Das Schwellenmaß einer Einschränkung der Armhebung lediglich bis 90o ist gerade nicht erreicht, besondere Schmerzhaftigkeit hat auch Dr. R. verneint. Soweit Dr. R. ausführt, er könne sich nicht vorstellen, dass angesichts der radiologisch vorhandenen, ausgeprägten Omarthrose die von Dr. K. gemessene Schulterbeweglichkeit gegeben sei (Blatt 121 der Senatsakte = Seite 23 des Gutachtens), folgt ihm der Senat nicht. Nachdem für die Bewertung des GdB nicht Diagnosen oder aufgrund Bild gebender Verfahren festgestellte Veränderungen (vgl. B Nr. 18.1 VG) sondern die funktionellen Beeinträchtigungen i.S.v. funktionellen Auswirkungen, die gerade bei den Gelenken vor allem durch die Bewegungsausmaße geprägt sind, maßgeblich sind und der Kläger insoweit nicht die Schwelle zu einem Teil-GdB von 20 erreicht, kann offen bleiben, ob i.S.d. Gutachtens von Dr. K. lediglich eine Reizung der Schulter oder mit Dr. R. eine Omarthrose vorliegt. Im Ergebnis kann auch offen bleiben, ob der Kläger seine Arme nur über 90o bis 120o, so das Gutachten von Dr. R. oder darüber hinaus, so das Gutachten Dr. K., heben kann, denn mangels weiterer Teil-GdB im Funktionssystem der Arme war der Einzel-GdB mit 10 anzusetzen, der jedoch den Gesamt-GdB nicht mitprägt. Auch konnte die vom Beklagten aufgeworfene Frage offengelassen werden, ob Dr. R. die Bewegungsprüfung der Schultergelenke mit fixiertem Schulterblatt (so seine Angabe auf Blatt 105 der Senatsakte = Seite 7 des Gutachtens) zutreffend durchgeführt hat. Denn auch bei fixiertem Schulterblatt konnte der Kläger seine Arme mit beidseits 115-0-30o heben und so die für einen GdB von 20 bedeutsame Schwelle von 90o überwinden. Der Senat konnte daher aus den Angaben des Dr. R. die von diesem angenommenen weitgehenden funktionellen Auswirkungen der von ihm beschriebenen Omarthrose nicht ableiten. So spricht gegen die von Dr. R. angenommene funktionelle Bewegungseinschränkung, aber auch gegen eine schmerzhafte Bewegungseinschränkung, dass der Kläger zu erheblichen sportlichen Leistungen in der Lage ist. So hat der Kläger auch gegenüber Dr. R. angegeben (Blatt 102 der Senatsakte = Seite 4 des Gutachtens), regelmäßig Rad zu fahren (Strecken von 20 bis 30 km) sowie Skilanglauf zu betreiben (ca. 10 km in 1- 1,5 Stunden). Beide Betätigungen erfordern einen belastenden - teilweise kraftvollen - Einsatz der Schulter mit einem Bewegungsausmaß, das die 90o-Schwelle deutlich übersteigt. Damit konnte der Senat für beide Schultern insgesamt nur einen Teil-GdB von 10 feststellen. Dabei hat der Senat insbesondere berücksichtigt, dass beim Kläger beide Seiten des paarigen Organs der Schultern betroffen sind; da jedoch beidseits die von B Nr. 18.13 VG geforderte "entsprechende Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit" fehlt, die Schultern – jedenfalls nach dem Gutachten Dr. R. - bis knapp unter die 120o-Schwelle gehoben werden können (nach dem Gutachten Dr. K. konnte der Kläger die Arme beidseitig weitergehend heben) und eine bedeutende Schmerzhaftigkeit nicht besteht, konnte der Senat beidseits lediglich nicht voll ausgeprägte Werte annehmen, die im Ergebnis nicht zu addieren waren.

Der von Dr. R. beschriebene Morbus Dupuytren sowie die Epicondylitis humeri radialis (Tennisarm) sind nach Dr. R. jeweils ohne funktionelle Auswirkungen, weshalb ein GdB insoweit nicht anzunehmen ist. Gleiches gilt für die angenommene Tendovaginitis stenosans de Quervain beidseits. Der Verdacht auf eine beginnende Rhizarthrose beidseits wurde auch von Dr. R. ,mit einem GdB von 0 bewertet; wobei anzumerken bleibt, dass der GdB-Bewertung lediglich nachgewiesene Funktionsdefizite zugrunde gelegt werden können, bloße Verdachtsdiagnosen reichen nicht aus. Damit war aus dem Teil-GdB von 10 für die Schultern im Funktionssystem der Arme der Einzel-GdB mit 10 festzustellen.

Im Funktionssystem des Rumpfes, zu dem der Senat auch die Wirbelsäule einschließlich der Halswirbelsäule zählt, bestehen beim Kläger Beeinträchtigungen an der HWS, der BWS und der LWS. Die Gutachter konnten folgende Bewegungsausmaße feststellen: Dr. K. Dr. R. Blatt 67/69 der SG-Akte = Seite 9/11 des Gutachtens 104/105 der Senatsakte = Seite 6/7 des Gutachtens Datum 23.07.2014 25.02.2015 HWS Kinn-Jugulum-Abstand 7/12 cm 8/14 cm Drehung rechts/links 30-0-20 30-0-20 Seitwärtsneigung rechts/links 30-0-40 10-0-5 Flexion/Extension 15-0-15 BWS/LWS Ott 30/33,5 cm 30/31,5 cm FBA 31 cm 34 cm Schober 10/13,5 cm 10/11,5 cm Seitneigung rechts/links 15-0-15 20-0-20 Rumpfdrehen 30-0-30 30-0-30 Lasègue Negativ (Blatt 110 der Senatsakte = Seite 12 des Gutachtens) Beckenschiefstand 0 cm 0 cm

Der Bereich der Halswirbelsäule (HWS) ist beim Kläger durch die Versteifungsoperation im Jahr 1976 geprägt, die Bewegungseinschränkungen und Schmerzen mit sich bringt. Insoweit könnte an schwere funktionelle Auswirkungen gedacht werden. Dagegen spricht für den Senat jedoch, dass es dem Kläger nach eigenen Angaben möglich ist (dazu vgl. seine Angaben gegenüber Dr. R., Blatt 102 der Senatsakte = Seite 4 des Gutachtens), regelmäßig Rad zu fahren (Strecken von 20 bis 30 km) sowie Skilanglauf zu betreiben (ca. 10 km in 1- 1,5 Stunden). Auch konnten weder Dr. R. noch Dr. K. neurologische Ausfälle oder Beeinträchtigungen darstellen. Eine wesentliche Verformung, Instabilitäten schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome konnte weder den Gutachten noch den Angaben der behandelnden Ärzte entnommen werden. Insoweit deuten auch die Freizeitaktivitäten des Klägers stark auf eine durchaus weniger stark eingeschränkte Funktionalität der HWS hin. Im Bereich der Brustwirbelsäule (BWS) hatte auch Dr. R. keine GdB-relevanten Beeinträchtigungen darstellen können. Zwar hatte Dr. R. eine über das Ott-Maß beschriebene Einschränkung der Beugefähigkeit der BWS angegeben, doch ist auch er, wie zuvor schon Dr. K., davon ausgegangen, dass es sich hierbei im Ergebnis um nicht GdB-relevante Beeinträchtigungen handelt, als er lediglich für die HWS und die LWS zumindest leichtgradige funktionelle Auswirkungen angenommen hat.

Zugunsten des Klägers geht der Senat davon aus, dass seine Lendenwirbelsäule (LWS) durch die von Dr. R. angegebene Skoliose und degenerative Veränderungen beeinträchtigt ist; auch hat Dr. R. über das Schober-Maß, ein Maß für die Beweglichkeit der LWS, eine Entfaltbarkeitseinschränkung darstellen können. Dr. K. konnte diese Erkrankungen und funktionellen Beeinträchtigungen in dem von Dr. R. beschriebenen Ausmaß nicht feststellen. Dazu hat Dr. R. in seiner Bewertung der Funktionsbeeinträchtigungen jedoch angegeben, es handele sich um leichte bis "höchstens" mittelschwere Ausprägungen. Insoweit konnte der Senat angesichts der lediglich anamnestisch berichteten, vom Facharzt Seydel ohne nähere Befunde dargestellten LWS-Syndrome allenfalls von funktionellen Auswirkungen ausgehen, die das Ausmaß mittelgradiger Ausprägungen noch nicht erreichen. Gegen erhebliche Wirbelsäulensyndrom an der LWS spricht auch, dass der Kläger ohne weiteres in der Lage ist, anstrengenden Ausdauer-Sport (s.o.) regelmäßig zu betreiben, der auch die LWS belastet. Auch sind häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilitäten mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome gerade nicht berichtet.

Soweit der Versorgungsarzt Dr. W. daher einen Einzel-GdB von 30 für die funktionellen Beeinträchtigungen der Wirbelsäule für formal vertretbar hält und das SG auch einen solchen angenommen hat, ist diese Bewertung jedenfalls nicht zu Lasten des Klägers zu niedrig. Dabei geht der Senat mit dem Versorgungsarzt Dr. W. zugunsten des Klägers in der HWS von funktionellen Auswirkungen aus, die mit einem Teil-GdB von 30 bewertet werden können, auch wenn gerade diese Bewertung angesichts des Umstandes, dass weder Dr. R. noch Dr. W. die erheblichen sportlichen, die HWS belastenden Freizeitaktivitäten des Klägers in ihre Bewertung ausreichend eingestellt haben, erheblichen Zweifeln ausgesetzt sein dürfte. Im Bereich der LWS war der Senat nicht zur Überzeugung von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen Wirbelsäulenabschnitt gekommen. Jedoch würde sich der Einzel-GdB für das Funktionssystem des Rumpfes (Wirbelsäule) nicht erhöhen, wenn der Senat mittelgradige funktionelle Auswirkungen in der LWS annehmen würde. Denn nach B Nr. 18.9. VG ist der GdB bei Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten mit 30 bis 40 anzunehmen. Die Obergrenze des GdB 40 ist jedoch erst erreicht bei schweren Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten (Senatsurteil vom 24.01.2014 – L 8 SB 2./11 –, juris) die beim Kläger nicht vorliegen. Die Verteilung auf zwei Wirbelsäulenabschnitte mit jeweils nur mittelgradigen Auswirkungen bzw. mit mittelgradiger und schwerer Betroffenheit je Wirbelsäulenabschnitt rechtfertigt dagegen beide Male nur den GdB 30 (Senatsurteil vom 24.01.2014 – L 8 SB 2./11 – juris). Damit konnte der Senat den Einzel-GdB für das Funktionssystem des Rumpfes allenfalls zugunsten des Klägers mit 30 annehmen.

Weitere - bisher nicht berücksichtigte - GdB-relevante Funktionsbehinderungen, die einen Einzel- bzw. Teil-GdB von wenigstens 10 bedingen, wurden weder geltend gemacht noch konnte der Senat solche feststellen.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen, nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben zusammen mit den sachverständigen Zeugenauskünften und den Gutachten dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Der Senat musste auch Dr. R. nicht ergänzend zu den vom Beklagten vorgebrachten Einwendungen anhören. Zwar hatte der Kläger dies mit Schreiben vom 08.06.2015 (Blatt 130 der Senatsakte) beantragt. Doch hat er mit seiner Erklärung vom 21.06.2015, mit der er uneingeschränkt einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hat, zu erkennen gegeben, dass er diesen Antrag nicht aufrecht erhält; nachdem der Kläger auch nicht deutlich gemacht hat, er halte den Antrag jedenfalls dann aufrecht, wenn der Senat statt nach § 124 Abs. 2 SGG auf Grundlage einer mündlichen Verhandlung entscheide, hat er den Beweisantrag fallen gelassen. Der Senat war aber auch nicht verpflichtet, von Amts wegen eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. R. einzuholen. Denn bei seiner Bewertung hat der Senat auch die von Dr. R. mitgeteilten Befunde zugrunde gelegt. Umstritten war, welche Schlussfolgerungen und Bewertung hieraus zu ziehen waren. Da es sich dabei aber um eine rechtliche Fragestellung handelt, die der Senat selbst zu entscheiden hatte, war eine weitere Befragung von Dr. R. nicht erforderlich, zumal es für die Bewertung des Einzel-GdB im Funktionssystem der Arme nicht auf die streitige Frage der Fixierung der Schulter bei der Untersuchung ankam.

Nach Überzeugung des Senats ist der Gesamt-GdB unter integrierender Bewertung der Funktionsbehinderungen und unter Beachtung ihrer gegenseitigen Auswirkungen der Gesamt-GdB mit 90 - bis 23.06.2015 - , gebildet aus Einzel-GdB-Werten von - 30 für die Funktionsbeeinträchtigungen des Funktionssystems des Rumpfes (HWS), - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der Verdauung (Reflux-erkrankung) und - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der Beine (Stauungsbe-schwerden sowie - 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen im Funktionssystem der Arme (Schultern) und 80 für die durch die Hodenerkrankung verursachten Funktionsbeeinträchtigungen ,- wobei Teil-GdB-Werte von 10 regemäßig nicht erhöhend wirken - zu bemessen. Dabei hat der Senat berücksichtigt, dass ausgehend vom Einzel-GdB von 80 für die Funktionsbeeinträchtigungen in Folge der Hodenerkrankung sich Überschneidungen, insbesondere aber Verstärkungen mit den im Funktionssystem des Rumpfes und der Arme, der Beine und der Verdauung nicht ergeben. So hat Dr. S. ausgeführt (Blatt 42 der Senatsakte = Seite 21 des Gutachtens), dass eine Beziehung zwischen der Wirbelsäuleneinschränkung und der Hodenerkrankung nicht besteht, er jedoch unter Berücksichtigung der weiteren, Störungen, welche ebenfalls völlig unabhängig voneinander seien, einen Gesamt-GdB von 90 für angemessen halte. Dieser Einschätzung folgt der Senat, denn im Vergleich mit den in den VG benannten, mit einem GdB von 90 bzw. 100 bewerteten Behinderungen (zum Erfordernis eines Vergleichs vgl. BSG 20.04.2015 – B 9 SB 9./14 B – n.v.) sieht der Senat die Behinderungen des Klägers den mit einem GdB von 90 bewerteten Behinderungen ähnlicher als den mit einem GdB von 100 bewerteten. Damit war der GdB bis 23.06.2015 mit 90 festzustellen.

Nachdem ab dem 24.06.2015 Heilungsbewährung eingetreten ist, entfiel für die Zeit danach der Einzel-GdB von 80 unmittelbar kraft Gesetzes. Zwar hat der Beklagte der eingetretenen Änderung der rechtlichen Verhältnisse nach § 48 SGB X bisher keine Rechnung getragen, doch hat sich durch den Eintritt der Heilungsbewährung die für den Senat maßgebliche Bewertungsgrundlage unmittelbar kraft Gesetzes geändert, was der Senat bei seiner Bemessung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen hatte. Mit den für die Zeit ab 24.06.2015 festgestellten Funktionsbehinderungen und deren GdB-Bewertung konnte der Senat aber einen Gesamt-GdB von 90 ab dem 24.06.2015 nicht mehr annehmen, weshalb auch insoweit die vom Kläger mit der Berufung geforderte höhere Bewertung des Gesamt-GdB nicht vorzunehmen war. Angesichts des Streitgegenstandes (Höherbewertung) und der lediglich vom Kläger geführten Berufung gegen das Urteil des SG, das zur Feststellung eines GdB von 90 verurteilt hatte, war dem Senat eine Entscheidung hinsichtlich eines ab dem 24.06.2015 anzunehmenden, geringeren GdB als 90 verwehrt.

Mit dem vom Senat festgestellten Gesamt-GdB hat der Kläger keinen Anspruch auf eine höhere Feststellung des GdB. Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
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