Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
4
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 2 R 2129/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 R 388/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Es bedarf keines erneuten Hinweises des Sozialgerichts auf seine Absicht, durch Gerichtsbescheid entscheiden zu wollen, nur weil seit dem ersten Hinweis ein erheblicher Zeitraum (hier: 28 Monate) verstrichen ist.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Kürzung des Zugangsfaktors seiner Erwerbsminderungsrente.
Der Kläger ist am 1965 geboren. Er beantragte am 7. Mai 2010 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 9. September 2010 Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Oktober 2010 bis zum 31. August 2012 in Höhe von monatlich netto EUR 493,91. Sie legte der Rentenberechnung einen Zugangsfaktor von 0,892 (1,0 abzüglich 36 Monaten à 0,003) zugrunde. Mit Bescheiden vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 bewilligte die Beklagte die Weitergewährung der Rente bis zum 31. Dezember 2013, bis zum 31. Dezember 2014 bzw. bis zum 31. Dezember 2015, zuletzt in Höhe von monatlich netto EUR 515,48.
Am 24. September 2010 beantragte die Stadt K. die Überprüfung der Rentenbewilligung hinsichtlich der Minderung des Zugangsfaktors. Die Beklagte legte diesen Antrag als Antrag des Klägers auf Zahlung einer abschlagsfreien Rente aus und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 4. November 2011 unter Hinweis auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09 – in juris) ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 1. Dezember 2011 Widerspruch. Er widerspreche der Meinung des BVerfG. In seinem Fall verstoße die Minderung des Zugangsfaktors gegen das Grundgesetz, da die Würde des Menschen unantastbar sei. Vor Zuerkennung der Erwerbsminderungsrente habe er "Hartz IV"-Leistungen in Höhe von ca. EUR 680,00 zur Verfügung gehabt. Von der Erwerbsminderungsrente verblieben ihm netto nur EUR 492,00. Die Differenz seiner Rente gegenüber den "Hartz IV"-Leistungen belaste ihn übermäßig. Die Minderung des Zugangsfaktors habe hieran sicherlich einen Anteil. Das BVerfG möge in seiner Berechnung von höheren Renten ausgegangen sein. Bei einer zu erwartenden Erwerbsminderungsrente von bis zu EUR 2.000,00 und höher sei eine Kürzung eventuell als zumutbar zu bezeichnen. Er hingegen sei gezwungen, ergänzende Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Zu beachten sei auch, dass die Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente bezögen, diese Rente bekämen, weil sie nicht mehr arbeiten könnten. Es sei nicht ihre freie Entscheidung.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 zurück. Zur Begründung wurde wiederum auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2011 verwiesen.
Am 13. Juni 2012 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Unter Verweis auf seine bisherigen Ausführungen trug er vertiefend vor, die Kürzung einer geringen Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht zumutbar und nicht zulässig, wenn die Rente dadurch unter das Sozialhilfeniveau sinke. Die Kürzung verstoße gegen das Grundgesetz, das jedem Menschen die Unantastbarkeit der Würde zusage. Die Kürzung einer ohnehin schon geringen Erwerbsminderungsrente verletze die Würde, wenn dadurch deutlich höhere Rentenzahlungen an Altersrentner sichergestellt werden sollten. Zumutbar sei eine Deckelung aller Renten auf ein lebenssicherndes Niveau, das allen Menschen ein menschenwürdiges Leben sichere. Die Kürzung von Erwerbsminderungsrenten unter das Sozialhilfeniveau sei aber auch wirtschaftlich nicht sehr effektiv, weil die Differenz zu ungekürzten Renten nun von Städten und Gemeinden getragen werden müsste. Er frage sich, ob sich dann noch die Verletzung der Würde von Menschen lohne, die durch ihre frühe Erwerbsunfähigkeit ohnehin schon unverschuldet Opfer bringen müssten. Denn es sei ja nicht nur die Erwerbsfähigkeit gemindert, sondern auch die Lebensqualität.
Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf ihren Widerspruchsbescheid entgegen.
Nachdem das SG die Beteiligten mit Verfügung vom 15. August 2012 – dem Kläger am folgenden Tag zugestellt – auf die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen hatte, wies es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. Dezember 2014 ab. Zur Begründung verwies es auf den Widerspruchsbescheid. Ergänzend wies es darauf hin, dass eine höhere Rente nicht schon deshalb verlangt werden könne, weil das individuelle Rentenniveau unterhalb des nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) gesicherten Existenzminimums liege. Insoweit sei zur Wahrung des Existenzsicherungsniveaus – wie vorliegend geschehen – ein Ausgleich durch ergänzende Sozialleistungen zu schaffen.
Gegen den ihm am 2. Januar 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28. Januar 2015 beim SG Berufung eingelegt. Der Kläger verweist auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 (gemeint ist: B 4 R 22/05 R – in juris), wonach Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten für Rentner, die bei Rentenbeginn jünger als 60 Jahre seien, gesetzeswidrig seien. Die Differenz zwischen dieser Entscheidung und der Entscheidung des BVerfG motiviere ihn, Berufung einzulegen. Beide Entscheidungen seien getroffen worden, ohne explizit die Situation der betroffenen Rentner zu berücksichtigen, die durch diese Minderung ihrer Erwerbsminderungsrenten in die sogenannte Armut rutschten. Die Minderung des Zugangsfaktors hätte soweit begrenzt werden müssen, dass die Renten nicht unter das gesetzliche Existenzminimum fielen. Die Aufwertung der Zurechnungszeit bewirke bei ihm keine ausreichende Erwerbsminderungsrente. Er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, genug Rentenbeiträge einzuzahlen. Profite würden privatisiert, die Verluste an menschlicher Arbeitskraft sozialisiert und das auch noch ungenügend. Das heiße, die Betroffenen würden einfach allein gelassen, die Rente gekürzt und an das Sozialamt verwiesen. Dies sei unsozial und ungerecht und somit nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren. Indem der soziale Leistungsträger die Differenz zu zahlen habe, kämen die Bürger der Stadt K. über den Umweg der Sozialleistung zur Finanzierung der Renten mit auf. Einen Teil dieser Sozialleistungen hole sich der Sozialleistungsträger wiederum von seinen Eltern. Dies habe zu schweren Zerwürfnissen in seiner Familie geführt. Er verzichte deshalb auf die Sozialleistungen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 9. September 2010 und vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 sowie in der Fassung der Bescheide vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2010 bis zum 31. Dezember 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors für Entgeltpunkte von 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Entscheidung fest und verweist auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgerichtgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da die Klage Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
2. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften (dazu unter b) die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angegriffenen Bescheide der Beklagten (dazu unter a) sind rechtmäßig; der Kläger hat keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente ohne Kürzung des Zugangsfaktors (dazu unter c).
a) Gegenstand des Verfahrens ist zum einen der Rentenbewilligungsbescheid vom 9. September 2010. Der Antrag der Stadt K. vom 24. September 2010 auf Überprüfung dieses Bescheides ist als Widerspruch des Klägers zu werten, denn für einen Überprüfungsantrag bestand zu diesem Zeitpunkt kein Rechtsschutzbedürfnis, da die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen war. Gegenstand des Verfahrens ist auch der Bescheid vom 4. November 2011. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte nicht nur auf den Bescheid vom 9. September 2010 verwiesen, sondern über den Antrag des Klägers entschieden und inhaltlich den ursprünglichen Bescheid bestätigt. Mit dem Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 hat die Beklagte, auch wenn der Bescheid vom 9. September 2010 im Rubrum des Widerspruchsbescheides nicht genannt worden ist, auch über den Bescheid vom 9. September 2010 entschieden, weshalb auch dieser Bescheid seine Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 erhalten hat. Die Bescheide vom 27. Juni 2012 und vom 5. Dezember 2013 sind gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Dass das SG die kraft Gesetzes in das Klageverfahren einbezogenen Bescheide nicht ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat, steht der Entscheidung des Senats auch über diese Bescheide nicht entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 17. November 2005 – B 11a/11 AL 57/04 R – in juris, Rn. 21; Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 2012 – L 4 KR 14/11 – nicht veröffentlicht). Auch der Bescheid vom 23. Dezember 2014 ist gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand noch des Klageverfahrens und nicht erst des Berufungsverfahrens geworden. Denn der Bescheid vom 23. Dezember 2014 ist – auch unter Berücksichtigung der anschließenden Feiertage – dem Kläger jedenfalls vor dem Tag der Einlegung der Berufung, dem 28. Januar 2015, zugestellt worden. In einer solchen Konstellation wird der Bescheid – hier vom 23. Dezember 2014 – noch gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des erstinstanzlichen Klageverfahrens und als solcher Gegenstand der Überprüfung durch das Berufungsgericht (vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 – B 10 EG 12/10 R – in juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 20. Dezember 2012 – B 10 EG 19/11 R – in juris, Rn. 18).
b) Die Entscheidung des SG leidet an keinem Mangel, der zur Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ermächtigen würde. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass das SG am 19. Dezember 2014 durch Gerichtsbescheid entschieden hat, obwohl es seinen Hinweis auf seine entsprechende Absicht bereits am 15. August 2012, also 28 Monate zuvor, gegeben hatte.
Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zu hören. § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG verlangt daher vor Erlass eines Gerichtsbescheides eine Mitteilung des Gerichts an die Beteiligten, dass es beabsichtige durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, und anschließend eine angemessene Zeit des Abwartens bis zum Erlass des Gerichtsbescheides, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dieser Absicht zu äußern.
Diesen Anforderungen ist im vorliegenden Fall Genüge geleistet. Das SG hat seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, den Beteiligten mit Verfügung vom 15. August 2012, die dem Kläger ausweislich der in der Akte des SG enthaltenen Postzustellungsurkunde am 16. August 2012 zugestellt worden ist, mitgeteilt und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Diese Hinweisverfügung verliert ihre Wirkung nicht durch bloßen Zeitablauf. Für eine zeitlich befristete Wirkung der Hinweisverfügung besteht keine Rechtsgrundlage; anders als in § 522 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung ("unverzüglich") fehlt es selbst an einer ungefähren zeitlichen Vorgabe. Eines erneuten Hinweises des Gerichts auf seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hätte es nur bedurft, wenn seitens des Gerichts, des Prozessgegners oder von dritter Seite nach Zustellung der ersten Hinweisverfügung neue wesentliche Gesichtspunkte in das Verfahren eingebracht worden wären, zu denen rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) hätte gewährt werden müssen. Eine verzögerte Bearbeitung des Verfahrens durch das Gericht und deren Rechtsfolgen wird ausschließlich durch § 202 Satz 2 SGG i.V.m. §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) geregelt. Gerade der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive und damit auch zeitnahe Rechtsschutz, dessen Durchsetzung auf einfachrechtlicher Ebene § 202 Satz 2 SGG i.V.m. §§ 198 ff. GVG dient, steht einer Verpflichtung des Gerichts, allein aufgrund Zeitablaufes den Beteiligten erneut eine Hinweisverfügung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellen, entgegen; denn eine solche Verpflichtung würde den Abschluss des Verfahrens nur weiter hinauszögern, ohne zum Rechtsschutz der Beteiligten beizutragen. Insbesondere liegt bei einem längeren Zeitraum zwischen Hinweisverfügung und Gerichtsbescheid auch keine Überraschungsentscheidung vor (so aber Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 105 Rn. 26). Denn es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum ein Beteiligter bloß aufgrund Zeitablaufes nicht mehr mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid rechnen müssen sollte. Auch gibt es keinerlei gesetzliche Grundlage, anhand der ein "angemessener" Zeitraum bestimmt werden könnte. Der Rückgriff auf die Fünfmonatsfrist für die Zustellung eines Urteils im Anschluss an eine mündliche Verhandlung (so Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 105 Rn. 26) entbehrt der sachlichen Rechtfertigung. Denn diese Frist dient dem Zweck, dass die schriftlichen Entscheidungsgründe mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der auf die mündliche Verhandlung folgenden Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – in juris, Rn. 9). An einem solchen Zweck fehlt es aber, wenn gerade keine mündliche Verhandlung und keine Beratung stattgefunden hat. Der Zweck der Hinweisverfügung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG ist hingegen, die Beteiligen darauf hinzuweisen, dass eine mündliche Verhandlung nicht stattfinden wird, und ihnen Gelegenheit zu geben, in der Sache schriftlich vorzutragen und ggf. Gesichtspunkte aufzuzeigen, die gegen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid sprechen (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 105 Rn. 10a). Dieser Zweck wird durch eine einmalige Hinweisverfügung erreicht; diese Zweckerreichung wird durch Zeitablauf nicht beseitigt.
c) Die Entscheidung des SG ist auch in der Sache nicht zu beanstanden. Denn die Klage ist unbegründet. Die Bescheide vom 9. September 2010 und vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 sowie in der Fassung der Bescheide vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 sind rechtmäßig. Die Beklagte hat die Rentenhöhe der Klägers zutreffend festgesetzt.
Rechtsgrundlage des Begehrens des Klägers auf höhere Erwerbsminderungsrente sind die Regelungen der §§ 63 ff. Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) über die Rentenhöhe. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich gemäß § 63 Abs. 6, § 64 Nr. 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.
Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen Entgeltpunkte. Nach § 77 Abs. 1 SGB VI in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I, S. 554-575) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 62. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 62. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264d SGB VI, dass für den Fall des Beginns einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Januar 2024, bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 65. Lebensjahres und des 62. Lebensjahres jeweils das in der Tabelle zu § 264d Satz 1 SGB VI aufgeführte Lebensalter maßgebend ist. Nach dieser Tabelle ist bei Beginn der Rente vor dem Jahr 2012 anstelle des 65. Lebensjahres das 63. Lebensjahr und anstelle des 62. Lebensjahres das 60. Lebensjahr maßgeblich.
Der Kläger bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des für ihn danach maßgeblichen 63. Lebensjahres, denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1. Oktober 2010 hatte der im Juni 1965 geborene Kläger erst das 45. Lebensjahr vollendet.
Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist als Berechnungsregel zu verstehen, mit der Folge, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor um maximal 0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Diesen hat die Beklagte der Berechnung der Rente in den streitgegenständlichen Bescheiden zugrunde gelegt. Der Auffassung, wonach es sich bei § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI um eine Art Ausschlussregel handele, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlege, lässt sich weder aus Wortlaut und Systematik der Norm, noch aus deren Sinn und Zweck, dem systematischen Gesamtzusammenhang oder der Entstehungsgeschichte ableiten. Dies entspricht der inzwischen ständigen Rechtsprechung des BSG (etwa Urteil vom 14. August 2008 – B 5 R 32/07 R – in juris, Rn. 11 ff.; Urteil vom 28. September 2011 – B 5 R 18/11 R – in juris, Rn. 10 ff.; so auch bereits Urteil des Senats vom 17. September 2008 – L 4 R 1500/08 – nicht veröffentlicht). Die so angewandte Regelung ist auch verfassungsgemäß (dazu ausführlich BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3588/08, 1 BvR 558/09 – in juris, Rn. 33 ff.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Kürzung des Zugangsfaktors seiner Erwerbsminderungsrente.
Der Kläger ist am 1965 geboren. Er beantragte am 7. Mai 2010 die Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte bewilligte ihm mit Bescheid vom 9. September 2010 Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 1. Oktober 2010 bis zum 31. August 2012 in Höhe von monatlich netto EUR 493,91. Sie legte der Rentenberechnung einen Zugangsfaktor von 0,892 (1,0 abzüglich 36 Monaten à 0,003) zugrunde. Mit Bescheiden vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 bewilligte die Beklagte die Weitergewährung der Rente bis zum 31. Dezember 2013, bis zum 31. Dezember 2014 bzw. bis zum 31. Dezember 2015, zuletzt in Höhe von monatlich netto EUR 515,48.
Am 24. September 2010 beantragte die Stadt K. die Überprüfung der Rentenbewilligung hinsichtlich der Minderung des Zugangsfaktors. Die Beklagte legte diesen Antrag als Antrag des Klägers auf Zahlung einer abschlagsfreien Rente aus und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 4. November 2011 unter Hinweis auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11. Januar 2011 (1 BvR 3588/08 und 1 BvR 555/09 – in juris) ab.
Hiergegen erhob der Kläger am 1. Dezember 2011 Widerspruch. Er widerspreche der Meinung des BVerfG. In seinem Fall verstoße die Minderung des Zugangsfaktors gegen das Grundgesetz, da die Würde des Menschen unantastbar sei. Vor Zuerkennung der Erwerbsminderungsrente habe er "Hartz IV"-Leistungen in Höhe von ca. EUR 680,00 zur Verfügung gehabt. Von der Erwerbsminderungsrente verblieben ihm netto nur EUR 492,00. Die Differenz seiner Rente gegenüber den "Hartz IV"-Leistungen belaste ihn übermäßig. Die Minderung des Zugangsfaktors habe hieran sicherlich einen Anteil. Das BVerfG möge in seiner Berechnung von höheren Renten ausgegangen sein. Bei einer zu erwartenden Erwerbsminderungsrente von bis zu EUR 2.000,00 und höher sei eine Kürzung eventuell als zumutbar zu bezeichnen. Er hingegen sei gezwungen, ergänzende Sozialhilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Zu beachten sei auch, dass die Menschen, die eine Erwerbsminderungsrente bezögen, diese Rente bekämen, weil sie nicht mehr arbeiten könnten. Es sei nicht ihre freie Entscheidung.
Der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 zurück. Zur Begründung wurde wiederum auf die gesetzlichen Regelungen und den Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2011 verwiesen.
Am 13. Juni 2012 erhob der Kläger Klage beim Sozialgericht Karlsruhe (SG). Unter Verweis auf seine bisherigen Ausführungen trug er vertiefend vor, die Kürzung einer geringen Rente wegen voller Erwerbsminderung sei nicht zumutbar und nicht zulässig, wenn die Rente dadurch unter das Sozialhilfeniveau sinke. Die Kürzung verstoße gegen das Grundgesetz, das jedem Menschen die Unantastbarkeit der Würde zusage. Die Kürzung einer ohnehin schon geringen Erwerbsminderungsrente verletze die Würde, wenn dadurch deutlich höhere Rentenzahlungen an Altersrentner sichergestellt werden sollten. Zumutbar sei eine Deckelung aller Renten auf ein lebenssicherndes Niveau, das allen Menschen ein menschenwürdiges Leben sichere. Die Kürzung von Erwerbsminderungsrenten unter das Sozialhilfeniveau sei aber auch wirtschaftlich nicht sehr effektiv, weil die Differenz zu ungekürzten Renten nun von Städten und Gemeinden getragen werden müsste. Er frage sich, ob sich dann noch die Verletzung der Würde von Menschen lohne, die durch ihre frühe Erwerbsunfähigkeit ohnehin schon unverschuldet Opfer bringen müssten. Denn es sei ja nicht nur die Erwerbsfähigkeit gemindert, sondern auch die Lebensqualität.
Die Beklagte trat der Klage unter Hinweis auf ihren Widerspruchsbescheid entgegen.
Nachdem das SG die Beteiligten mit Verfügung vom 15. August 2012 – dem Kläger am folgenden Tag zugestellt – auf die Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hingewiesen hatte, wies es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. Dezember 2014 ab. Zur Begründung verwies es auf den Widerspruchsbescheid. Ergänzend wies es darauf hin, dass eine höhere Rente nicht schon deshalb verlangt werden könne, weil das individuelle Rentenniveau unterhalb des nach den Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) gesicherten Existenzminimums liege. Insoweit sei zur Wahrung des Existenzsicherungsniveaus – wie vorliegend geschehen – ein Ausgleich durch ergänzende Sozialleistungen zu schaffen.
Gegen den ihm am 2. Januar 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 28. Januar 2015 beim SG Berufung eingelegt. Der Kläger verweist auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 16. Mai 2006 (gemeint ist: B 4 R 22/05 R – in juris), wonach Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten für Rentner, die bei Rentenbeginn jünger als 60 Jahre seien, gesetzeswidrig seien. Die Differenz zwischen dieser Entscheidung und der Entscheidung des BVerfG motiviere ihn, Berufung einzulegen. Beide Entscheidungen seien getroffen worden, ohne explizit die Situation der betroffenen Rentner zu berücksichtigen, die durch diese Minderung ihrer Erwerbsminderungsrenten in die sogenannte Armut rutschten. Die Minderung des Zugangsfaktors hätte soweit begrenzt werden müssen, dass die Renten nicht unter das gesetzliche Existenzminimum fielen. Die Aufwertung der Zurechnungszeit bewirke bei ihm keine ausreichende Erwerbsminderungsrente. Er sei aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage gewesen, genug Rentenbeiträge einzuzahlen. Profite würden privatisiert, die Verluste an menschlicher Arbeitskraft sozialisiert und das auch noch ungenügend. Das heiße, die Betroffenen würden einfach allein gelassen, die Rente gekürzt und an das Sozialamt verwiesen. Dies sei unsozial und ungerecht und somit nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren. Indem der soziale Leistungsträger die Differenz zu zahlen habe, kämen die Bürger der Stadt K. über den Umweg der Sozialleistung zur Finanzierung der Renten mit auf. Einen Teil dieser Sozialleistungen hole sich der Sozialleistungsträger wiederum von seinen Eltern. Dies habe zu schweren Zerwürfnissen in seiner Familie geführt. Er verzichte deshalb auf die Sozialleistungen.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Karlsruhe vom 19. Dezember 2014 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung der Bescheide vom 9. September 2010 und vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 sowie in der Fassung der Bescheide vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2010 bis zum 31. Dezember 2015 Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Zugangsfaktors für Entgeltpunkte von 1,0 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagte hält an ihrer Entscheidung fest und verweist auf ihren erstinstanzlichen Vortrag und die Ausführungen im angefochtenen Gerichtsbescheid.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
1. Die gemäß § 143 Sozialgerichtsgerichtgesetz (SGG) statthafte und gemäß § 151 Abs. 2 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig. Sie bedurfte insbesondere nicht der Zulassung, da die Klage Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
2. Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat ohne Verletzung von Verfahrensvorschriften (dazu unter b) die Klage zu Recht abgewiesen, denn die angegriffenen Bescheide der Beklagten (dazu unter a) sind rechtmäßig; der Kläger hat keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente ohne Kürzung des Zugangsfaktors (dazu unter c).
a) Gegenstand des Verfahrens ist zum einen der Rentenbewilligungsbescheid vom 9. September 2010. Der Antrag der Stadt K. vom 24. September 2010 auf Überprüfung dieses Bescheides ist als Widerspruch des Klägers zu werten, denn für einen Überprüfungsantrag bestand zu diesem Zeitpunkt kein Rechtsschutzbedürfnis, da die Widerspruchsfrist noch nicht abgelaufen war. Gegenstand des Verfahrens ist auch der Bescheid vom 4. November 2011. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte nicht nur auf den Bescheid vom 9. September 2010 verwiesen, sondern über den Antrag des Klägers entschieden und inhaltlich den ursprünglichen Bescheid bestätigt. Mit dem Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 hat die Beklagte, auch wenn der Bescheid vom 9. September 2010 im Rubrum des Widerspruchsbescheides nicht genannt worden ist, auch über den Bescheid vom 9. September 2010 entschieden, weshalb auch dieser Bescheid seine Gestalt durch den Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2012 erhalten hat. Die Bescheide vom 27. Juni 2012 und vom 5. Dezember 2013 sind gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. Dass das SG die kraft Gesetzes in das Klageverfahren einbezogenen Bescheide nicht ausdrücklich zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat, steht der Entscheidung des Senats auch über diese Bescheide nicht entgegen (vgl. BSG, Urteil vom 17. November 2005 – B 11a/11 AL 57/04 R – in juris, Rn. 21; Urteil des erkennenden Senats vom 19. Oktober 2012 – L 4 KR 14/11 – nicht veröffentlicht). Auch der Bescheid vom 23. Dezember 2014 ist gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand noch des Klageverfahrens und nicht erst des Berufungsverfahrens geworden. Denn der Bescheid vom 23. Dezember 2014 ist – auch unter Berücksichtigung der anschließenden Feiertage – dem Kläger jedenfalls vor dem Tag der Einlegung der Berufung, dem 28. Januar 2015, zugestellt worden. In einer solchen Konstellation wird der Bescheid – hier vom 23. Dezember 2014 – noch gemäß § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des erstinstanzlichen Klageverfahrens und als solcher Gegenstand der Überprüfung durch das Berufungsgericht (vgl. BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 – B 10 EG 12/10 R – in juris, Rn. 17; BSG, Urteil vom 20. Dezember 2012 – B 10 EG 19/11 R – in juris, Rn. 18).
b) Die Entscheidung des SG leidet an keinem Mangel, der zur Zurückverweisung nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ermächtigen würde. Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, dass das SG am 19. Dezember 2014 durch Gerichtsbescheid entschieden hat, obwohl es seinen Hinweis auf seine entsprechende Absicht bereits am 15. August 2012, also 28 Monate zuvor, gegeben hatte.
Gemäß § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG kann das Sozialgericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten sind gemäß § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG vorher zu hören. § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG verlangt daher vor Erlass eines Gerichtsbescheides eine Mitteilung des Gerichts an die Beteiligten, dass es beabsichtige durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, und anschließend eine angemessene Zeit des Abwartens bis zum Erlass des Gerichtsbescheides, um den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dieser Absicht zu äußern.
Diesen Anforderungen ist im vorliegenden Fall Genüge geleistet. Das SG hat seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, den Beteiligten mit Verfügung vom 15. August 2012, die dem Kläger ausweislich der in der Akte des SG enthaltenen Postzustellungsurkunde am 16. August 2012 zugestellt worden ist, mitgeteilt und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Diese Hinweisverfügung verliert ihre Wirkung nicht durch bloßen Zeitablauf. Für eine zeitlich befristete Wirkung der Hinweisverfügung besteht keine Rechtsgrundlage; anders als in § 522 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung ("unverzüglich") fehlt es selbst an einer ungefähren zeitlichen Vorgabe. Eines erneuten Hinweises des Gerichts auf seine Absicht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, hätte es nur bedurft, wenn seitens des Gerichts, des Prozessgegners oder von dritter Seite nach Zustellung der ersten Hinweisverfügung neue wesentliche Gesichtspunkte in das Verfahren eingebracht worden wären, zu denen rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 Grundgesetz (GG)) hätte gewährt werden müssen. Eine verzögerte Bearbeitung des Verfahrens durch das Gericht und deren Rechtsfolgen wird ausschließlich durch § 202 Satz 2 SGG i.V.m. §§ 198 ff. Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) geregelt. Gerade der durch Art. 19 Abs. 4 GG gebotene effektive und damit auch zeitnahe Rechtsschutz, dessen Durchsetzung auf einfachrechtlicher Ebene § 202 Satz 2 SGG i.V.m. §§ 198 ff. GVG dient, steht einer Verpflichtung des Gerichts, allein aufgrund Zeitablaufes den Beteiligten erneut eine Hinweisverfügung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellen, entgegen; denn eine solche Verpflichtung würde den Abschluss des Verfahrens nur weiter hinauszögern, ohne zum Rechtsschutz der Beteiligten beizutragen. Insbesondere liegt bei einem längeren Zeitraum zwischen Hinweisverfügung und Gerichtsbescheid auch keine Überraschungsentscheidung vor (so aber Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 105 Rn. 26). Denn es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum ein Beteiligter bloß aufgrund Zeitablaufes nicht mehr mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid rechnen müssen sollte. Auch gibt es keinerlei gesetzliche Grundlage, anhand der ein "angemessener" Zeitraum bestimmt werden könnte. Der Rückgriff auf die Fünfmonatsfrist für die Zustellung eines Urteils im Anschluss an eine mündliche Verhandlung (so Müller, in: Roos/Wahrendorf [Hrsg.], SGG, 2014, § 105 Rn. 26) entbehrt der sachlichen Rechtfertigung. Denn diese Frist dient dem Zweck, dass die schriftlichen Entscheidungsgründe mit den Gründen übereinstimmen, die nach dem Ergebnis der auf die mündliche Verhandlung folgenden Urteilsberatung für die richterliche Überzeugung und für die von dieser getragenen Entscheidung maßgeblich waren (Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – in juris, Rn. 9). An einem solchen Zweck fehlt es aber, wenn gerade keine mündliche Verhandlung und keine Beratung stattgefunden hat. Der Zweck der Hinweisverfügung im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 2 SGG ist hingegen, die Beteiligen darauf hinzuweisen, dass eine mündliche Verhandlung nicht stattfinden wird, und ihnen Gelegenheit zu geben, in der Sache schriftlich vorzutragen und ggf. Gesichtspunkte aufzuzeigen, die gegen eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid sprechen (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 105 Rn. 10a). Dieser Zweck wird durch eine einmalige Hinweisverfügung erreicht; diese Zweckerreichung wird durch Zeitablauf nicht beseitigt.
c) Die Entscheidung des SG ist auch in der Sache nicht zu beanstanden. Denn die Klage ist unbegründet. Die Bescheide vom 9. September 2010 und vom 4. November 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2012 sowie in der Fassung der Bescheide vom 27. Juni 2012, vom 5. Dezember 2013 und vom 23. Dezember 2014 sind rechtmäßig. Die Beklagte hat die Rentenhöhe der Klägers zutreffend festgesetzt.
Rechtsgrundlage des Begehrens des Klägers auf höhere Erwerbsminderungsrente sind die Regelungen der §§ 63 ff. Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) über die Rentenhöhe. Der Monatsbetrag einer Rente ergibt sich gemäß § 63 Abs. 6, § 64 Nr. 1 bis 3 SGB VI, wenn die unter Berücksichtigung des Zugangsfaktors ermittelten persönlichen Entgeltpunkte, der Rentenartfaktor und der aktuelle Rentenwert mit ihrem Wert bei Rentenbeginn miteinander vervielfältigt werden.
Der Zugangsfaktor ist ein Berechnungselement der persönlichen Entgeltpunkte. Nach § 77 Abs. 1 SGB VI in der hier anwendbaren, seit dem 1. Januar 2008 geltenden Fassung des Gesetzes zur Anpassung der Regelaltersrente an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichen Rentenversicherung vom 20. April 2007 (BGBl. I, S. 554-575) richtet sich der Zugangsfaktor nach dem Alter der Versicherten bei Rentenbeginn oder bei Tod und bestimmt, in welchem Umfang Entgeltpunkte bei der Ermittlung des Monatsbetrags der Rente als persönliche Entgeltpunkte zu berücksichtigen sind. Der Zugangsfaktor ist für Entgeltpunkte, die noch nicht Grundlage von persönlichen Entgeltpunkten einer Rente waren, gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 SGB VI bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und bei Erziehungsrenten für jeden Kalendermonat, für den eine Rente vor Ablauf des Kalendermonats der Vollendung des 65. Lebensjahres in Anspruch genommen wird, um 0,003 niedriger als 1,0. Beginnt eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 62. Lebensjahres, so bestimmt § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, dass die Vollendung des 62. Lebensjahres für die Bestimmung des Zugangsfaktors maßgebend ist. Davon abweichend regelt § 264d SGB VI, dass für den Fall des Beginns einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Januar 2024, bei der Ermittlung des Zugangsfaktors anstelle der Vollendung des 65. Lebensjahres und des 62. Lebensjahres jeweils das in der Tabelle zu § 264d Satz 1 SGB VI aufgeführte Lebensalter maßgebend ist. Nach dieser Tabelle ist bei Beginn der Rente vor dem Jahr 2012 anstelle des 65. Lebensjahres das 63. Lebensjahr und anstelle des 62. Lebensjahres das 60. Lebensjahr maßgeblich.
Der Kläger bezieht eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des für ihn danach maßgeblichen 63. Lebensjahres, denn zum Zeitpunkt des Beginns der Rente wegen voller Erwerbsminderung am 1. Oktober 2010 hatte der im Juni 1965 geborene Kläger erst das 45. Lebensjahr vollendet.
Die Regelung des § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI ist als Berechnungsregel zu verstehen, mit der Folge, dass bei Inanspruchnahme von Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor Vollendung des 63. Lebensjahres der Zugangsfaktor um maximal 0,108 (36 Kalendermonate x 0,003) zu mindern ist. Hierdurch ergibt sich in diesen Fällen ein Zugangsfaktor von 0,892. Diesen hat die Beklagte der Berechnung der Rente in den streitgegenständlichen Bescheiden zugrunde gelegt. Der Auffassung, wonach es sich bei § 77 Abs. 2 Satz 2 SGB VI um eine Art Ausschlussregel handele, welche den frühesten Beginn einer "vorzeitigen" Erwerbsminderungsrente auf die Vollendung des 60. Lebensjahres festlege, lässt sich weder aus Wortlaut und Systematik der Norm, noch aus deren Sinn und Zweck, dem systematischen Gesamtzusammenhang oder der Entstehungsgeschichte ableiten. Dies entspricht der inzwischen ständigen Rechtsprechung des BSG (etwa Urteil vom 14. August 2008 – B 5 R 32/07 R – in juris, Rn. 11 ff.; Urteil vom 28. September 2011 – B 5 R 18/11 R – in juris, Rn. 10 ff.; so auch bereits Urteil des Senats vom 17. September 2008 – L 4 R 1500/08 – nicht veröffentlicht). Die so angewandte Regelung ist auch verfassungsgemäß (dazu ausführlich BVerfG, Beschluss vom 11. Januar 2011 – 1 BvR 3588/08, 1 BvR 558/09 – in juris, Rn. 33 ff.).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
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