L 3 AS 1460/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
3
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 14 AS 4202/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 AS 1460/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Februar 2014 wird zurückgewiesen.

2. Der Beklagte erstattet den Klägerinnen auch die außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.

Tatbestand:

Der Beklagte wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil in einem Untätigkeitsverfahren.

Die Klägerinnen bezogen von dem beklagten Jobcenter, einer Gemeinsamen Einrichtung nach § 44b Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), Leistungen nach dem SGB II.

In der (insoweit nicht paginierten) Akte des Beklagten finden sich zwei Widersprüche der Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen vom 13.06.2013 und vom 18.06.2013. Der erste wurde am 14.06.2013 um 10:36 Uhr, der zweite am 18.06.2013 um 16:12 Uhr per Telefax aus der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten (Nr. -5967) an das Telefaxgerät in der Geschäftsstelle S. des Beklagten (Nr. -9100) gesandt. Diese Widersprüche wurden in der Folgezeit beschieden.

Am 16.12.2013 haben die Klägerinnen Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Sie haben behauptet, sie hätten über ihre Prozessbevollmächtigten einen weiteren Schriftsatz vom 13.06.2013 an den Beklagten gerichtet, und zwar einen Überprüfungsantrag nach § 44 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegen mehrere bestandskräftige Bescheide. Zum Beweis dafür haben sie die Kopie eines Faxausdrucks jenes Antrags vom 13.06.2013 vorgelegt, der ebenfalls an die Geschäftsstelle S. des Beklagten gerichtet war und - unter dem Anschriftenfeld - ebenfalls die Faxnummer jener Geschäftsstelle nannte. In dem Antrag hatten die Bevollmächtigten der Klägerinnen um eine Eingangsbestätigung gebeten.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten war, haben die Klägerinnen eine Kopie des Übertragungsprotokolls vorgelegt. Dieses enthält einen verkleinerten Ausdruck der ersten Seite des Überprüfungsantrags sowie einen "OK-Vermerk" hinsichtlich einer Übertragung an die genannte Faxnummer am 14.06.2013 um 10:39 Uhr.

In dem Erörterungstermin am 21.02.2014 hat das SG dem Beklagten aufgegeben, durch Vorlage seines Journals (Empfangsprotokoll) den Nichtzugang des Telefaxes nachzuweisen. Dem kam der Beklagte nicht nach; vielmehr hat er um eine gerichtliche Entscheidung gebeten.

Mit Gerichtsbescheid vom 26.02.2014 hat das SG den Beklagten verurteilt, den Antrag der Klägerinnen zu bescheiden und dem Beklagten die Kosten auferlegt. Es hat ausgeführt, die Klägerinnen hätten den streitigen Antrag tatsächlich gestellt: Nach dem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 21.07.2011 (IX ZR 148/10), dem sich das Bundessozialgericht (BSG) angeschlossen habe (Beschluss vom 20.10.2009, B 5 R 84/09 B), begründe zwar der OK-Vermerk im Protokoll des Absenders über ein bloßes Indiz hinaus keinen Anscheinsbeweis für den Zugang beim Empfänger. Jedoch sei - auch nach einem vom BSG zitierten Beschluss des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe vom 30.09.2008 (12 U 65/08) - die Wahrscheinlichkeit, dass ein Telefax trotz eines OK-Vermerks im Absendeprotokoll den Empfänger nicht erreicht habe, "0 %". Es sei daher einhellige obergerichtliche Rechtsprechung, so das SG, dass ein Empfänger, der gegen einen OK-Vermerk den Zugang bestreite, im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast vortragen müsse, welches Gerät er an der Empfangsstelle betreibe, ob die Verbindung im Speicher seines Geräts verzeichnet sei und auf welche Weise er ein Empfangsjournal führe. Dieses Journal müsse er vorlegen, um die Indizwirkung des Absendevermerks zu erschüttern. Diesen prozessualen Obliegenheiten sei der Beklagte nicht nachgekommen. Ferner hat das SG ausgeführt, für die Nichtbescheidung des Antrags der Klägerinnen nach Ablauf der sechsmonatigen Entscheidungsfrist am 16.12.2013 stehe dem Beklagten kein zureichender Grund zur Seite.

Gegen diesen Gerichtsbescheid, der ihm am 04.03.2014 zugestellt worden ist, hat der Beklagte am 27.03.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er meint, seine Berufung unterliege nicht der Zulassungsschranke des § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Er behauptet, er empfange Telefaxe nicht in Papierform, sondern über das System "Internet-Telefonie". Es gebe überhaupt kein Empfangsjournal. Die Faxnummern der Absender speichere er zentral sechs Monate. Die Daten dürften aber nicht an (andere) Mitarbeiter bei ihm, dem Beklagten, herausgegeben werden. Sie eigneten sich ohnehin nicht zum Nachweis des Zugangs. Aus diesen Gründen, so meint der Beklagte, gelte die Rechtsprechung über die Darlegungslast eines Telefax-Empfängers hier nicht.

Der Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 26. Februar 2014 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerinnen beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie tragen vor, der Überprüfungsantrag vom 13.06.2013 habe fünf Bescheide mit Leistungsbeträgen von EUR 380,00, EUR 1.140,00, EUR 1.169,90, EUR 284,20 (zusätzliche Beschwer gegenüber dem vorangegangenen Bescheid) und EUR 306,00 bzw. EUR 468,20 (ebenso zusätzliche Beschwer) betroffen; wegen der Einzelheiten wird auf ihren Schriftsatz vom 15.05.2014 verwiesen. Im Übrigen verteidigen sie den angegriffenen Gerichtsbescheid.

Der Berichterstatter des Senats hat die Beteiligten angehört. Der Beklagte hat dabei konkretere Angaben über den Ablauf des Empfangs in seinen Systemen gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll der nichtöffentlichen Sitzung vom 10.07.2014 Bezug genommen.

Sodann hat der Senat den Mitarbeiter R. aus dem IT-Bereich der Zentrale der Bundesagentur für Arbeit als Zeugen vernommen. Er hat im Wesentlichen bekundet, nach Ablauf von sechs Monaten würden alle Daten über eingegangene Faxe gelöscht. Außerdem hat er weitere Angaben zum allgemeinen Ablauf gemacht. Auf seine schriftliche Aussage, eingegangen am 12.11.2014, wird Bezug genommen.

Nachdem beide Beteiligte einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt hatten, hat der Beklagte noch vorgetragen, es gebe Fälle, in denen bei einem Empfang über Internet-Telefonie beim Absender ein OK-Vermerk entstehe, obwohl die Sendung nicht zugegangen sei. Ferner hat der Beklagte behauptet, die Kanzlei der Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen habe "Probleme mit dem Faxgerät" gehabt und sich ein neues Faxgerät angeschafft. Die Klägerinnen haben erwidert, dieser Vortrag sei unsubstanziiert und entspreche nicht der Wahrheit. Zwar habe man tatsächlich ein neues Faxgerät angeschafft, dies aber nicht wegen Problemen mit dem alten Gerät, sondern aus anderen (im Einzelnen benannten) Gründen.

Der Senat hat die Akten des Verfahrens L 9 AS 3664/14 beigezogen. Es betrifft eine gleichgelagerte Untätigkeitsklage der hiesigen Prozessbevollmächtigten für andere Mandaten.

Entscheidungsgründe:

1. Der Senat entscheidet über die Berufung auf Grund mündlicher Verhandlung. Eine Entscheidung nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG war ausgeschlossen. Die früheren Zustimmungen beider Parteien zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung waren gegenstandslos geworden, nachdem neuer Tatsachenvortrag aufgestellt worden ist. Eine erneute Zustimmung von beiden Seiten war nicht zu erlangen.

2. Die Berufung ist statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG). Insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig. Zwar ist es ständige Rechtsprechung des Senats, dass diese Zulassungsschranke auch für Untätigkeitsklagen betreffend einen Bescheid über eine Leistung erfasst. Dieser Punkt muss hier jedoch nicht erneut entschieden werden, denn der Beklagte ist nach der von den Klägerinnen vorgelegten Aufstellung der fünf angegriffenen Bescheide um mehr als EUR 750,00 beschwert.

3. Die Berufung ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 Abs. 1 SGG).

4. Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG der Untätigkeitsklage (§ 88 Abs. 1 SGG) der Klägerinnen stattgegeben.

a) Die Klage ist zulässig. Der Beklagte hat nicht innerhalb der von § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG vorgesehenen Frist über einen Antrag der Klägerinnen entschieden.

aa) Auch der Senat geht davon aus, dass die Klägerinnen am 14.06.2013 per Telefax den streitigen Überprüfungsantrag gestellt haben.

(1) Der Senat schließt sich vollen Umfangs den Ausführungen des SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zur Verteilung von Darlegungslast und (materieller) Beweislast über den Zugang von Telefaxen an (§ 153 Abs. 2 SGG). Diese Rechtsprechung hat der BGH jüngst erneut bekräftigt und dabei sogar die Frage offengelassen, ob der OK-Vermerk angesichts der technischen Weiterentwicklung der Telekommunikation nicht doch sogar einen Anscheinsbeweis begründen kann (Urt. v. 19.02.2014, IV ZR 163/13, Juris Rn. 27 ff., 28, 30).

Gegen diese Rechtsprechung kann der Beklagte nicht einwenden, ihm sei es aus technischen Gründen unmöglich, die Indizwirkung des OK-Vermerks in einem Absendeprotokoll zu erschüttern, da er das System "Internet-Telefonie" verwende. Abgesehen davon, dass es sich hierbei um einen frei gewählten, inneren Umstand handelt, kann auch in diesem System ein Gegenbeweis geführt (bzw. hier die Indizwirkung erschüttert) werden. Der Zeuge R. hat den Vortrag des Beklagten bestätigt, dass die Verbindungen zu den Faxgeräten des Beklagten und auch die Nummern der Absender für sechs Monate gespeichert bleiben. Warum in dieser Zeit kein Ausdruck erstellt und ggfs. archiviert werden kann, erhellt sich dem Senat nicht. Das Zustandekommen einer Telefaxverbindung zwischen einer Anwaltskanzlei und einem Leistungsträger nach dem SGB II ist kein Sozialdatum, das den datenschutzrechtlichen Anforderungen der §§ 67 ff. SGB X unterläge. Der Inhalt des ggfs. übermittelten Faxes wird ja nicht gespeichert, so wie es auch in einem klassischen Empfangsjournal nicht der Fall wäre. Im Übrigen wäre es allenfalls eine Datennutzung, aber keine Datenübermittlung, einen solchen Ausdruck intern zu archivieren, sodass nur die Anforderungen des § 67c Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 SGB X gölten. Der Beklagte ist Empfänger der fraglichen Telefaxsendungen und kein Anbieter von Telekommunikationsdienstleistungen, sodass für ihn z.B. auch nicht die Vorgaben der Vorratsdatenspeicherung gelten.

Auch der Einwand des Beklagten, es gebe Fälle, in denen bei der Internet-Telefonie OK-Vermerke bei dem Absender angezeigt würden, obwohl die Sendung gar nicht zugegangen sei, erschüttert die Indiz- bzw. Anscheinswirkung jenes Vermerks nicht. Auch dieser Einwand gilt, wenn überhaupt, nur im Rahmen der Internet-Telefonie, für die sich der Beklagte frei entschieden hat. Im Übrigen ist er nach Ansicht des Senats zu unbestimmt (unsubstanziiert), um Gegenstand einer Beweisaufnahme zu sein.

(2) Ausgehend von dem OK-Vermerk im Absendeprotokoll ist danach der Zugang frei zu bewerten (vgl. erneut BGH, a.a.O., Rn. 30). Der Senat ist davon überzeugt, dass der Antrag bei dem Beklagten eingegangen ist.

Hierfür spricht nicht nur - maßgebend - das Absendeprotokoll, das der Beklagte auch mit Hilfe der Aussage des Zeugen R. nicht hat erschüttern können. Vielmehr gibt es einen weiteren Umstand: der wenige Minuten (10:36 Uhr) vor dem hier streitigen Überprüfungsantrag (10:39 Uhr) übermittelte Widerspruch war bei dem Beklagten eingegangen und abgeheftet worden.

Dieser zeitliche Ablauf mit der fehlerfreien Übermittlung eines weiteren Schriftsatzes kurz vor der streitigen Sendung spricht im Übrigen auch gegen eine Störung des Faxgeräts in der Kanzlei der Prozessbevollmächtigten, weswegen der Senat auch nicht dem diesbezüglichen neuen Vortrag des Beklagten folgen kann. Auch dieser Vortrag ist im Übrigen zu unsubstanziiert, um Grundlage einer Beweiserhebung zu sein. Der Beklagte schildert nur pauschal, von "Problemen in der Vergangenheit". Ob diese Probleme im zeitlichen Zusammenhang mit der hier streitigen Sendung aufgetreten sein sollen, bleibt offen.

Vor diesem Hintergrund ist ganz überwiegend davon auszugehen, dass der Überprüfungsantrag bei dem Beklagten eingegangen ist, aber nicht zur Akte genommen worden ist. Dies erscheint denkbar, nachdem der Beklagte im Erörterungstermin am 10.07.2014 mitgeteilt hatte, dass bei ihm eingehende Widersprüche an die SG-Stelle weitergeleitet würden, während Überprüfungsanträge im Team, also auch auf der zuständigen Geschäftsstelle, verbleiben müssten, also die fraglichen Schriftsätze nicht derselben Akte zugeteilt werden.

bb) Dass der Antrag nicht beschieden worden ist, ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

Die sechsmonatige Frist nach § 88 Abs. 1 Satz 1 SGG hatten die Klägerinnen genau eingehalten, bevor sie am 16.12.2013 Klage erhoben haben.

Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen hat eine Untätigkeitsklage nicht. Insbesondere kann nicht verlangt werden, dass ein Antragsteller vor Erhebung dieser Klage noch einmal bei der Behörde nachfragt, solange nicht die Grenzen des Rechtsmissbrauchs erreicht sind (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 88 Rn. 3, 4a).

b) Die Klage ist auch begründet. Ein zureichender Grund dafür, dass der Überprüfungsantrag der Klägerinnen nicht binnen sechs Monaten beschieden worden ist, liegt nicht vor.

4. Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 SGG. Auch hier erwachsen den Klägerinnen keine Nachteile daraus, dass sie vor Klageerhebung nicht noch einmal bei dem Beklagten nachgefragt haben. Dieser Umstand hätte eventuell Bedeutung für eine Kostenentscheidung nach dem Rechtsgedanken des § 93 ZPO. Eine darauf gestützte Kostenentscheidung zu Lasten eines erfolgreichen Klägers setzt aber zunächst ein sofortiges Anerkenntnis des Beklagten voraus, an dem es hier fehlt.

5. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor. Der Senat hat diesen Rechtsstreit an Hand der bislang anerkannten obergerichtlichen Anforderungen entschieden. Ob der OK-Vermerk sogar einen Anscheinsbeweis begründet, war für diese Entscheidung nicht relevant, zumal es weitere Indizien für einen Zugang gab.
Rechtskraft
Aus
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