L 1 KR 208/15 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 KR 1026/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 208/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2015 wird zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen. Der Streitwert des Beschwerdeverfahren wird auf 1.728,21 EUR festgesetzt.

Gründe:

I.

Streitig ist die Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs.

Die Antragstellerin betreibt Arbeitnehmerüberlassung. In den Jahren 2005 bis 2010 entlohnte sie ihre Arbeitnehmer auf der Grundlage der von der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (GCZP) geschlossenen Tarifverträge.

Im Anschluss an eine vom 14. August 2012 bis zum 14. November 2012 durchgeführte Betriebsprüfung in der Niederlassung C der Antragstellerin forderte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 08. April 2013 Beiträge für den Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. Dezember 2009 in Höhe von 26.506,50 EUR nach. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) habe die Tarifunfähigkeit der CGZP festgestellt. Daraus folge die Unwirksamkeit der von dieser Tarifgemeinschaft abgeschlossenen Tarifverträge, welche nach dem im Gesetz zur Regelung der Arbeitnehmerüberlassung (AÜG) verankertem Equal-Pay-Grundsatz zu höheren Lohn- und damit auch Beitragsansprüchen führe.

Die Antragstellerin legte Widerspruch ein und hat am 14. April 2015 beim Sozialgericht Berlin die Aussetzung der Vollziehung beantragt.

In einem Parallelverfahren zwischen denselben Beteiligten, welches die Niederlassung Hamburg betroffen hat, hat der Senat mit Beschluss vom 30. März 2015 (L 1 KR 426/14 BER) die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches durch das Sozialgericht bestätigt, soweit es Beiträge für die Zeit vor 2007 betroffen hat.

Das Sozialgericht hat durch Beschluss vom 11. Mai 2015 die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs hinsichtlich der Beitragsnachforderungen für das Jahr 2006 über 3.456,41 EUR angeordnet. Es hat den Antrag im Übrigen (Beitragsnachforderungen für 2007 über 5.814,03 EUR) abgelehnt. Es bestünden soweit eine Stattgabe erfolgt sei, erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides. Zur Begründung hat es sich die Auffassung des Senats (B. v. 29. Juli 2014 - L 1 KR 131/14 BER) zu eigen gemacht, dass der Nachforderungsanspruch bereits zum Zeitpunkt des Erlasses des Prüfbescheides verjährt gewesen sei, soweit es Beiträge für die Zeit vor 2007 betroffen habe. Verjährungseinrede sei erhoben.

Gegen den ihr am 13. Mai 2015 zugestellten Beschluss richtet sich die am 5. Juni 2015 eingegangene Beschwerde der Antragsgegnerin. Es sei davon auszugehen, dass die Antragstellerin bereits vor der Entscheidung des BAG v. 14. Dezember 2010 erhebliche Zweifel an der Tariffähigkeit der CGZP gehabt und mit der Möglichkeit einer Nachzahlung gerechnet habe. Dieses Urteil habe eine erhebliche Öffentlichkeitswirkung entfaltet. Der Sachverhalt unterschiede sich ihres Erachtens nicht von dem des Parallelverfahrens (L 1 KR 426/14 BER). Sie berufe sich aber auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 25. April 2015 (1 BvR 2314/12).

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. Mai 2015 hinsichtlich der Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs für das Jahr 2006 aufzuheben, und den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs insgesamt zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Sie verweist unter anderem auf den Beschluss des Senats vom 30. März 2015.

II.

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Mit Recht hat das Sozialgericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 8. April 2013 angeordnet, soweit Beitragsnachforderungen für das Jahr 2006 betroffen sind.

Beiträge für das Jahr 2007 sind hier nicht mehr streitbefangen.

Der Senat hat hierzu in seinem Beschluss vom 30. März 2015 ausgeführt:

"Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG – kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 21. August 2014 hat nach § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG keine aufschiebende Wirkung, weil in dem Bescheid Beiträge nachgefordert werden. Anzuordnen ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs in den Fällen des § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG jedenfalls dann, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (Vgl. etwa Beschluss des LSG Schleswig-Holstein v. 25. Juni 2012 – L 5 KR 81/12 B ER – juris Rn 14). Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit der Vorschrift des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG. Im Übrigen gibt der Gesetzgeber in § 86b Abs. 1 SGG nicht ausdrücklich vor, nach welchen Maßstäben über die Aussetzung einer sofortigen Vollziehung zu entscheiden ist. Hat der Gesetzgeber aber – wie es § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG voraussetzt – an anderer Stelle bereits grundsätzlich die sofortige Vollziehbarkeit einer Verwaltungsentscheidung angeordnet, nimmt er damit in Kauf, dass eine angefochtene Entscheidung wirksam bleibt, obwohl über ihre Rechtmäßigkeit noch nicht abschließend entschieden worden ist. Von diesem Grundsatz ermöglicht § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG eine Ausnahme. Zumindest in den Fällen einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit ist die Vollziehbarkeit auszusetzen, weil dann kein öffentliches Interesse an einer Vollziehung erkennbar ist. Unterbleiben muss die Aussetzung dagegen, wenn der eingelegte Rechtsbehelf offensichtlich aussichtslos ist. Hier gibt es keine Veranlassung, von dem vom Gesetzgeber für richtig gehaltenen Grundsatz abzuweichen. In den übrigen Fällen, in denen die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung nicht klar erkennbar ist, kommt es auf eine Interessenabwägung an (BT-Drs 11/3480, S. 54). Je geringer die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs sind, desto mehr muss für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, damit trotz bloßer Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer angefochtenen Maßnahme entgegen der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers die aufschiebende Wirkung angeordnet werden kann (vgl. zum ganzen Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn 12e ff mit weit. Nachw.).

Bei Beachtung dieser Maßstäbe musste der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hier Erfolg haben. ( )

Gleichwohl bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der mit dem Bescheid ( ) erhobenen Beitragsnachforderung, soweit sie Beschäftigungen aus dem Zeitraum vom 1. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2007 betrifft. Nach Auffassung des Senats spricht nämlich viel dafür, dass Beitragsforderungen für diesen Zeitraum bereits verjährt sind.

Nach § 25 Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgerichtsbuch (SGB IV) verjähren Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig geworden sind. Die Fälligkeit bestimmt sich gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 SGB IV, wonach Beiträge, die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessen sind, in voraussichtlicher Höhe der Beitragsschuld spätestens am drittletzten Bankarbeitstag des Monats fällig werden, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird, mit der das Arbeitsentgelt erzielt wird. Bis zum 31. Dezember 2005 galt dagegen noch die vorherige Fassung der Vorschrift, wonach Beiträge am 15. des Monats fällig wurden, der dem Monat folgt, in dem die Beschäftigung ausgeübt worden ist, die zur Erzielung von Arbeitsentgelt geführt hat. Nach den genannten Vorschriften waren die Beiträge für eine Beschäftigung in dem Zeitraum von Dezember 2005 bis Dezember 2007 grundsätzlich mit Ablauf des 31. Dezember 2011 verjährt.

Eine abweichende Verjährungsfrist für diesen Zeitraum ergibt sich zunächst nicht aus § 25 Abs. 2 SGB IV. Nach § 25 Abs. 2 SGB IV ist die Verjährung für die Dauer einer Prüfung beim Arbeitgeber gehemmt und beginnt die Hemmung mit dem Tag des Beginns der Prüfung beim Arbeitgeber. Vorliegend hat die Betriebsprüfung, welche zu dem mit dem Widerspruch angegriffenen Bescheid ( ) geführt hat, bei der Antragstellerin am ( ) 2012 begonnen und ist mit Schreiben vom ( )2012 von der Antragsgegnerin angekündigt worden. Demnach ist zwar die regelmäßige Verjährung der ab dem Jahre 2008 fällig gewordenen Beiträge durch die Betriebsprüfung unterbrochen worden, ohne dass aber die mit Ablauf des 31. Dezember 2011 bereits verjährten Beiträge davon betroffen wären.

Für Beiträge wegen Beschäftigungen in der Zeit vom 1. Dezember 2005 bis 31. Dezember 2007 ergibt sich eine ausnahmsweise geltende längere Verjährungsfrist auch nicht aus der Vorschrift des § 25 Abs. 1 Satz 2 SGB IV. Dort ist bestimmt, dass eine Verjährungsfrist von dreißig Jahren gilt, wenn Beiträge vorsätzlich vorenthalten worden sind. Für die Annahme eines vorsätzlichen Vorenthaltens genügt bedingter Vorsatz, der nicht bereits bei Fälligkeit der Beiträge vorhanden gewesen sein muss. Ausreichend für den Eintritt der langen Verjährungsfrist ist vielmehr, dass der Beitragsschuldner während des Ablaufs der regelmäßigen Verjährungsfrist bösgläubig geworden ist (BSG, Urt. v. 30. März 2000 – B 12 KR 14/99 R). Bedingter Vorsatz im Hinblick auf die Vorenthaltung von Beiträgen liegt vor, wenn der Arbeitgeber trotz Kenntnis der Möglichkeit der Beitragspflicht die Beitragszahlung unterlässt und er dadurch die Nichtabführung von geschuldeten Beiträgen billigend in Kauf nimmt (BSG, Urt. v. 30. März 2000 – B 12 KR 14/99 R – juris Rn. 23-25; Urt. des erkennenden Senats vom 20. September 2013 – L 1 KR 126/11).

Der Senat hält es nicht für überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin bis zum Ende des Jahres 2011 bedingten Vorsatz mit Bezug auf das Zurückhalten von Beiträgen entwickelt hat. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung fest, dass der innere Tatbestand des Vorsatzes bezogen auf die konkreten Verhältnisse und den konkreten Beitragsschuldner festgestellt werden muss (LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss v. 18. Februar 2014 – L 1 KR 361/13 B ER, Urteil vom 20. September 2013 - L 1 KR 126/11, Beschluss v. 13. November 2012 – L 1 KR 350/12 B ER – juris Rn 12 und Beschluss v. 29. Juli 2014 - L 1 KR 141/13 B ER).

Der Umstand, dass die Antragstellerin ab dem 1. Februar 2010 nicht mehr die von der CGZP geschlossenen Tarifverträge anwandte, belegt nicht, dass sie mit der Möglichkeit von Beitragsnachzahlungen für vorangegangene Zeiträume rechnete. Insoweit fehlen jegliche Feststellungen der Antragsgegnerin dazu, aus welchen Gründen die Antragstellerin ab dem Jahr 2010 Bezug auf andere Tarifverträge nahm.

Auch die Veröffentlichung der Entscheidung des BAG zur mangelnden Tariffähigkeit der CGZP vom 14. Dezember 2010 – 1 ABR 19/10 – reicht nicht aus, um der Antragstellerin die Kenntnis der Möglichkeit nachzuweisen, dass für Beschäftigungszeiträume ab dem 1. Dezember 2005 noch höhere Löhne beitragspflichtig werden konnten. Abgesehen davon, dass nicht ersichtlich ist, inwieweit sich allein aus der Veröffentlichung ergibt, dass die zur Vertretung berechtigten Organe der Antragstellerin von der Entscheidung auch tatsächlich Kenntnis genommen haben, hat das BAG in dieser Entscheidung das Fehlen der Tariffähigkeit auch nur gegenwartsbezogen festgestellt. Demnach kann schon nicht ausgeschlossen werden, dass die vertretungsberechtigten Organe der Antragstellerin schlicht unterlassen haben, sich noch während des Jahres 2010 über rechtliche Entwicklungen mit Bedeutung für die Zeitarbeitsbranche auf dem Laufenden zu halten. Möglich ist aber auch, dass sie die Entscheidung des BAG zwar zur Kenntnis nahmen, jedoch sich die daraus für bereits vergangene Beschäftigungszeiten ergebenden Möglichkeiten nicht zeitnah hinreichend vergegenwärtigten. Beides würde zwar unter Umständen den Vorwurf einer groben Fahrlässigkeit begründen können, nicht aber den eines noch im Verlaufe der Jahre 2010 oder 2011 eingetretenen bedingten Vorsatzes. Von der Antragstellerin wird auch in Abrede gestellt, dass sie in den Jahren 2010 oder 2011 Anschreiben der Versicherungsträger zu der CGZP-Problematik erhalten habe. Nachweise für das Gegenteil hat die Antragsgegnerin nicht vorlegen können."

Aus dem Nichtannahmebeschluss des BVerfG vom 25.April 2015 (1 BvR 2314/12) folgt nichts anderes. Der Entscheidung lässt sich nichts dafür entnehmen, dass die betroffenen Arbeitgeber (zumindest bedingt) bereits spätestens bis Ende 2010 vorsätzlich von rückwirkenden Beitragsverpflichtungen ausgegangen sein könnten. Das Verfassungsgericht hat lediglich ausgeführt, dass die Feststellung der Tarifunfähigkeit der CGZP mit Wirkung für die Vergangenheit durch die Arbeitsgerichte nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes verstoßen habe. Die besonderen Voraussetzungen, unter denen ausnahmsweise auch eine Änderung der Rechtsprechung den im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz verankerten Vertrauensschutz verletze, lägen nämlich nicht vor. An der Tariffähigkeit der CGZP hätten von Anfang an erhebliche Zweifel bestanden. Die bloße Erwartung, ein oberstes Bundesgericht werde eine ungeklärte Rechtsfrage in einem bestimmten Sinne beantworten, begründe kein verfassungsrechtlich geschütztes Vertrauen. Von fehlendem Vertrauen kann aber nicht ohne weiteres auf Vorsatz geschlossen werden.

Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 197a SGG i. V. m. § 155 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Festsetzung des Streitwertes nach § 197 a Abs. 1 SGG in Verbindung mit §§ 53 Abs. 3 Nr. 4, 52 Abs. 1 Gerichtskostengesetz trägt dem Umstand Rechnung, dass vorliegend nicht die Hauptsache, sondern eine Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren streitbefangen ist. In Fällen des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 86b Abs. 1 SGG, bei welchen die Erfolgschancen im Hauptsacheverfahren zu prüfen sind, ist grundsätzlich die Hälfte des Hauptsachenstreitwerts anzusetzen.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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