L 9 KR 492/14

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 210 KR 177/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 9 KR 492/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die Pflicht zur Amtsermittlung hat das Sozialgerichtsgesetz den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen, die ihr unabhängig vom Willen und der Interessenlage der Prozessbeteiligten zu entsprechen haben. Damit unvereinbar wäre es, dass Ermittlungen zum Sachverhalt durch einen Prozessbeteiligten nach dessen Gutdünken gesteuert oder gefiltert werden.
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 2014 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Mitgliedschaft des Klägers in der Krankenversicherung der Studenten (KVdS) über den 31. März 2009 hinaus.

Der 1980 in Russland geborene Kläger erwarb in M im Jahr 1998 ein Mittelschulattestat und studierte anschließend ein Jahr lang die Fächer Biologie und Chemie an der Universität. Vom 11. Januar 2001 bis zum 31. März 2002 war er im Studienkolleg für ausländische Studenten an der Freien Universität Berlin eingeschrieben und bestand am 12. Dezember 2001 beim Landesschulamt Berlin die Feststellungsprüfung und somit seine Eignung zur Aufnahme eines Studiums an den deutschen Universitäten und ihnen gleichgestellten Hochschulen bzw. an den Fachhochschulen, in den Studiengängen nachgewiesen, die dem Schwerpunktkurs "M" zugeordnet sind. Zum Sommersemester 2002 nahm er an derselben Universität ein Medizinstudium auf und war seither im Rahmen der KVdS Mitglied der Beklagten.

Mit Scheiben vom 25. März 2009 teilte er der Beklagten mit, er befinde sich im praktischen Jahr, d.h. den letzten beiden Semestern des Medizinstudiums, welches er voraussichtlich 2010 abschließe. Als Verlängerungstatbestände für die Pflichtversicherung als Student gab er chronische Krankheiten an. Nachdem die Beklagte um ärztliche Belege hierfür gebeten hatte, wies der Kläger daraufhin, dass ihr "die ärztlichen Stellungnahmen zu den chronischen Krankheiten bereits" vorlägen und sie hierzu die ihr vorliegende Akte recherchieren möge; die von ihm bereits in der Vergangenheit geltend gemachten chronischen Krankheitsbilder hätten sein Medizinstudium deutlich erschwert. Mit Bescheid vom 31. Juli 2007 teilte ihm die Beklagte mit, dass die Krankenversicherung der Studenten nicht fortbestehen könne, weil keine anzuerkennenden Hinderungszeiten belegt worden seien. Er habe jedoch die Möglichkeit, sich bei ihr freiwillig zu versichern.

Mit seinem Widerspruch brachte der Kläger vor, dass seine ärztliche Ausbildung auch aufgrund einer gesetzwidrigen Nichtzulassung zum weiteren Ausbildungsjahr ab Februar 2009 gehindert worden sei, auch wenn die Universität die streitgegenständliche Klausur zwischenzeitlich für bestanden erklärt habe. Außerdem reichte er ein ärztliches Attest des praktischen Arztes K vom 11. August 2009 ein, demzufolge der Kläger sich wegen chronischer Kopfschmerzen, Mitralklappenprolaps und Verdacht auf Myopathie in seiner ambulanten Behandlung befinde. Im Rahmen einer telefonischen Anfrage seitens der Beklagten und in seinem Schreiben vom 17. November 2009 erklärte Herr K, dass der Kläger durch die o.g. Krankheiten nicht an der Ausübung seines Studiums gehindert worden sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2010 wies die Beklagte den Widerspruch zurück; über das Ende des 14. Fachsemesters, d.h. den 31. März 2009 hinaus, könne der Kläger nicht der KVdS angehören.

Im Klageverfahren machte der Kläger geltend, die KVdS sei um die Zeit des Studienkollegs zu verlängern, und entband unter dem 12. März 2010 seine ihn früher und gegenwärtig behandelnden Ärzte gegenüber dem Sozialgericht von ihrer Schweigepflicht. Er habe – so sein weiteres Vorbringen – auch eine "paryosmaer Tachykardie" bei arrhythmischen Rhythmusstörungen sowie chronischen Kopf- und Rückenschmerzen gelitten. Die Äußerungen seines behandelnden Arztes gegenüber der Beklagten unterlägen einem Beweisverwertungsverbot. Nachdem das Sozialgericht den Antrag des Klägers auf Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 4. Dezember 2012 abgelehnt hatte, hob das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (Az.: L 1 KR 11/13 B PKH) mit Beschluss vom 19. März 2013 die Entscheidung des Sozialgerichts auf und bewilligte ihm Prozesskostenhilfe, weil der Klage eine Erfolgsaussicht nicht abgesprochen werden könne. Das Sozialgericht müsse die tatsächlichen Grundlagen für die vom Kläger vorgebrachten Erkrankungen näher aufklären. Daraufhin erklärte der Kläger, er hebe seine Schweigepflichtentbindungserklärung vom 12. März 2010 auf, weil ihr Fortbestand "zur Vermeidung des weiteren Rechtsmissbrauchs [ ] nicht mehr sachdienlich" sei. Soweit das Sozialgericht Anfragen an die behandelnden Ärzte beabsichtige, könnten diese von ihm – dem Kläger – dem jeweiligen Arzt zugeleitet werden (Schriftsatz vom 31. März 2013). Das Sozialgericht möge seine Fragen an die ihn behandelnden Ärzte genauestens formulieren und ihm für die konkreten Angaben zu den geltend gemachten Krankheitsbildern die speziell dafür vorgesehenen Formulare übersenden. Im Übrigen nehme er Bezug auf das bereits vorliegende Attest seines Hausarztes K. Eine erhebliche Beweisaufnahme sei nötig.

Nach Anhörung der Beteiligten wies das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 5. November 2014 ab und führte zur Begründung aus: Eine Weiterversicherung des Klägers in der KVdS über das Ende des Wintersemesters 2008/09 (14. Fachsemester) komme nur unter den Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 9, 2. Halbs. Sozialgesetzbuch V (SGB V) in Betracht. Persönliche Gründe in Form gesundheitlicher Einschränkungen, die zu einem Verlängerungstatbestand führten, lägen nicht vor. Die Ermittlungsmöglichkeiten des Gerichts seien ausgeschöpft. Für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Voraussetzungen sei nach den allgemeinen Grundsätzen der Kläger beweisbelastet. Er habe trotz Aufforderung und wiederholter Erinnerung keine dem Klagebegehren dienenden Beweismittel, insbesondere ärztliche Atteste u.ä., eingereicht. Für die Einholung ärztlicher Befundberichte und weitergehender medizinischer Ermittlungen sei eine Schweigepflichtentbindungserklärung durch den Kläger erforderlich. Zu den klägerseitig vorgetragenen chronischen Erkrankungen habe sein behandelnder Arzt K unter dem 11. November 2009 auf Anfrage der Beklagten mitgeteilt, dass er – der Kläger – durch die bestehenden Erkrankungen nicht in der Ausübung seines Studiums gehindert worden sei und dass längere Krankschreibungen nicht vorlägen. Dass sich das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Verzögerung des Studiums in der Person des Klägers nicht objektivieren lasse, gehe zu seinen Lasten und führte zur Abweisung der Klage. Der Kläger habe sich nachhaltig und ohne Angabe von Gründen geweigert, seine behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden bzw. er habe die zunächst erteilte Schweigepflichtentbindung widerrufen. Zu einer solchen Erklärung sei er auch verpflichtet gewesen. Die Mitwirkungslast folge aus § 103 Satz 1, 2. Halbs. Sozialgerichtsgesetz (SGG). Ein Gutachten nach Aktenlage habe das Gericht nicht einholen müssen. Da die Beendigung der Versicherungspflicht allein auf die Überschreitung des 14. Fachsemesters beruhe, sei es auch unerheblich, dass der Kläger die Hochschulzugangsberechtigung durch die Teilnahme am Studienkolleg erworben habe; dieses wirke sich auf die Studiendauer nicht aus.

Gegen diesen ihm unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Anschrift am 13. November 2014 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Klägers vom 14. Dezember 2014. Zur Begründung seiner Klage begehrt er Akteneinsicht, u.a. auch in die Gerichtsakten ab deren Seite 88. Die vom Senat gewährte Akteneinsicht in den Räumen des Landessozialgerichts könne er nicht wahrnehmen, da er – wie diesem bekannt sei – sich seit Sommer 2013 "im internationalen Schutz wegen seines Antrags auf politisches Asyl" befinde. Würde er zur Akteneinsicht beim Landessozialgericht erscheinen, würde er "sofort von den deutschen Sicherheitsbehörden verhaftet werden", was dem Landessozialgericht gut bekannt sei. Die Akten mögen ihm deshalb in Kopie zur Verfügung gestellt werden. Die verweigerte Akteneinsicht verletze ihn in seinen Grundrechten.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 5. November 2014 sowie den Bescheid der Beklagten vom 31. Juli 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. Januar 2010 aufzuheben und festzustellen, dass er auch über den 31. März 2009 hinaus der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Studenten unterliege.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Mit Beschluss vom 29. Mai 2015 haben die Berufsrichter des Senats den Rechtsstreit gemäß § 153 Abs. 5 SGG dem Berichterstatter übertragen, damit dieser zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheide.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Zu Recht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.

I. Der Senat war nicht deshalb an einer Entscheidung in der Sache gehindert, weil der Kläger die ihm gewährte Akteneinsicht nicht genommen hat. Die vom Kläger hierfür vorgetragenen Umstände sind unbeachtlich. Abgesehen davon, dass seine Behauptung, er halte sich im Ausland auf, um sich vor politischer (d.h. staatlich veranlasster) Verfolgung in Deutschland zu schützen, äußerst unglaubhaft erscheint, hat er nicht im Ansatz Tatsachen dargelegt, die diese Behauptung stützen. Woher dem Senat der Umstand seiner Verfolgung bekannt sein könnte, ist ebenso wenig ersichtlich. Im Übrigen ist der Kläger in der Lage, Gerichtspost, die an die von ihm angegebene Berliner Anschrift gesandt wird, zur Kenntnis zu nehmen, wie sein Eingehen auf die Schreiben des Senats in diesem Berufungsverfahren belegt. Was angesichts dessen einer Akteneinsicht in den Räumen des Landessozialgericht entgegensteht, hat der Kläger nicht dargelegt.

Der Senat war auch weder verpflichtet, dem Kläger die Gerichtsakte zu übersenden – § 120 Abs. 2 SGG lässt dies nur bei Bevollmächtigten zu –, noch ihm eine Kopie der Akten auf Kosten des Gerichts zukommen zu lassen. Eine Übersendung von Kopien auf Kosten des Klägers hat der Senat ihm angeboten, ohne dass der Kläger hiervon Gebrauch gemacht hätte.

II. Der Kläger ist seit dem 1. April 2009 nicht mehr versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 SGB V, weil er das 14. Fachsemester überschritten hat und keine familiären oder persönlichen Gründe vorliegen, die eine Überschreitung der Fachstudienzeit rechtfertigten. Zur näheren Begründung verweist der Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts. Ergänzend weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Zutreffend ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass seine Ermittlungsmöglichkeiten erschöpft sind. Auch unter Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) hängen die Möglichkeiten der Sozialgerichte, Informationen über den (aktuellen oder früheren) Gesundheitszustand von Prozessbeteiligten zu erlangen, davon ab, dass diese die sie (aktuell oder früher) behandelnden Ärzte von ihrer Schweigepflicht entbinden. Denn die ärztliche Schweigepflicht dient dem Schutz von Patientengeheimnissen. Wer sich in ärztliche Behandlung begibt, muss und darf erwarten, dass alles, was der Arzt im Rahmen seiner Berufsausübung über seine gesundheitliche Verfassung erfährt, geheim bleibt und nicht zur Kenntnis Unberufener gelangt. Nur so kann zwischen Patient und Arzt jenes Vertrauen entstehen, das zu den Grundvoraussetzungen ärztlichen Wirkens zählt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt daher grundsätzlich vor der Erhebung und Weitergabe von Befunden über den Gesundheitszustand (Anamnese, Diagnose und therapeutische Betreuung), die seelische Verfassung und den Charakter des ärztlich Betreuten (BVerfG, stattgebender Kammerbeschluss vom 22. Januar 2015 – 2 BvR 2049/13, 2 BvR 2445/14 –, juris, m.w.N.). Die Erhebung von Informationen über den Gesundheitszustand eines Prozessbeteiligten durch die Sozialgerichte ohne eine entsprechende Schweigepflichtentbindungserklärung wäre daher verfassungswidrig.

Soweit der Kläger meint, die Fragen des Gerichts an seine behandelnden Ärzte hätten ihm zur Weiterleitung an diese übermittelt werden können und er könne in diesem Rahmen "konkret" über die Entbindung einzelner Ärzte und ggf. auch hinsichtlich bestimmter Fragen entscheiden, verkennt er die Rechtslage. Die Pflicht zur Amtsermittlung hat das SGG den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit zugewiesen, die ihr unabhängig vom Willen und der Interessenlage der Prozessbeteiligten zu entsprechen haben. Damit unvereinbar wäre es – dies schwebt offensichtlich dem Kläger vor –, dass Ermittlungen zum Sachverhalt durch einen Prozessbeteiligten nach dessen Gutdünken gesteuert oder gefiltert werden.

2. Die Veranlassung eines Gutachtens nach Aktenlage hat das Sozialgericht zu Recht im vorliegenden Fall als nicht erforderlich angesehen. Solche Gutachten setzen voraus, dass dem Gericht bereits verwertbare Detailinformationen über den Gesundheitszustand des Prozessbeteiligten vorliegen, z.B. in Form von Befund(bericht)en, Krankenakten oder Entlassungsberichten. Hieran fehlt es im Falle des Klägers. Gerichtsbekannt sind lediglich die von ihm und die von dem Arzt K genannten Diagnosen. Ein allein auf der Grundlage von Diagnosen erstelltes Gutachten nach Aktenlage wäre wertlos.

3. Auf die Begründung des Beschlusses des Landessozialgerichts vom 19. März 2013 kann sich der Kläger nicht berufen. Soweit der 1. Senat des Landessozialgerichts darin weitere vom Sozialgericht vorzunehmende Ermittlungen zum Gesundheitszustand des Klägers während seines Studiums für erforderlich gehalten hat, durfte er nach dem damaligen Verfahrensstand davon ausgehen, dass solche Ermittlung u.a. durch Befragung der behandelnden Ärzte wegen der damals vorliegenden Schweigepflichtentbindungserklärung möglich sind. Dem hat der Kläger indes durch die Aufhebung dieser Erklärung den Boden entzogen.

III. Unzutreffend sind indes die Ausführungen des Sozialgerichts zum Streitwert. Der vorliegende Rechtsstreit ist für den Kläger als Versicherten nach § 183 Satz 1 SGG kostenfrei. Diese Privilegierung greift auch ein, wenn gerade der Versicherungsstatus im Streit steht und der ggf. Versicherte zu den Hauptbeteiligten (Kläger oder Beklagter) zählt (vgl. BSGE 93, 153; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 11.A., § 183 Rd. 5 m.w.N.).

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da Zulassungsgründe im Sinne von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.
Rechtskraft
Aus
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