S 10 AS 2973/10

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
SG Magdeburg (SAN)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 10 AS 2973/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Abänderung seines Bescheides vom 22. September 2009 in der Fassung der Bescheide vom 13. August 2010 und des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2010 verurteilt, der Leistungsberechnung für die Kläger monatliche Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 584,87 EUR zugrunde zu legen. Der Beklagte hat den Klägern die Auslagen des Verfahrens zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig sind Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch 2. Buch – SGB II -, hier die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft und Heizung.

Die Kläger mieteten als Bedarfsgemeinschaft mit Zustimmung des Beklagten zum 1. September 2009 eine 4-Raum-Wohnung mit einer Gesamtfläche von 92,70 m². Die Miete betrug 415,14 EUR, die Betriebskosten 78,13 EUR und die Heizkosten 114,00 EUR im Monat (insgesamt 607,27 EUR).

Mit der Zustimmung zum Umzug wies der Beklagte die Kläger darauf hin, dass die Kosten der Wohneinheit nicht angemessen sind und die Differenz von den Klägern selbst zu tragen ist. Dem stimmte die Klägerin zu 1. mit Unterschrift vom 11. August 2009 zu.

Mit Bescheid vom 22. September 2009 gewährte der Beklagte den Klägern Leistungen zur Grundsicherung für den Zeitraum 1. September 2009 bis 31. Januar 2010. Der Leistungsberechnung legte er Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von insgesamt 492,00 EUR (320,00 EUR Miete, 88,00 EUR Nebenkosten, 84,00 EUR Heizkosten) zugrunde.

Dagegen wandten sich die Klägerin mit Widerspruch vom 20. Oktober 2009, da der Beklagte die tatsächlich entstehenden Kosten der Unterkunft und Heizung abzüglich der Warmwasserkosten zu übernehmen habe. Die dem entgegenstehende KdU-Richtlinie des Beklagten spiegele nicht den aktuellen Wohnungsmarkt wider.

Die den Klägern entstehenden Kosten der Unterkunft und Heizung wären angemessen und damit erstattungsfähig.

Mit Bescheiden vom 13. August 2010 berechnete der Beklagte die monatlichen Leistungen der Kläger für den Zeitraum 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 wegen des Hinzutretens von berücksichtigungsfähigem Einkommen neu.

Für den Monat Januar 2010 wurde die Bewilligung der Leistungen aufgehoben. Die Kosten der Unterkunft und Heizung legte der Beklagte seiner Berechnung unverändert zugrunde.

Im Übrigen wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger durch Widerspruchsbescheid vom 20. August 2010 zurück. An Kosten der Unterkunft (Grundmiete und Nebenkosten) könnte nur ein Betrag von 408,00 EUR und an Heizkosten ein Betrag in Höhe von 84,00 EUR monatlich anerkannt werden.

Zur Begründung führte der Beklagte aus: "Die Angemessenheit der Kosten der Unterkunft ist nach der Besonderheit des Einzelfalles und den örtlichen Verhältnissen zu bestimmen; entscheidend sind die ortsüblichen Werte."

Mit Klage vom 21. September 2010 wenden die Kläger ein, dass weder aus den Leistungsbescheiden noch dem Widerspruchsbescheid ersichtlich sei, wie der Beklagte die angemessenen Kosten der Unterkunft und Heizung vorliegend bestimmt hat. Mithin mangele es an der Darlegung der Unangemessenheit "nach den Vorgaben des BSG".

Der Beklagte nahm für seine Entscheidung Bezug auf die "Handlungsanweisung des S. zur Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen des SGB II und SGB XII vom 1.3.2009".

Daneben teilte der Beklagte durch Schreiben vom 3. und 22. Mai 2012 mit, "dass er zur Zeit die Angemessenheitskriterien der Unterkunftskosten entsprechend den Anforderungen des BSG überprüfen lässt."

"Die Konzepterstellung soll sich nur auf den aktuellen Zeitraum ab 01.01.2012 erstrecken. Eine nachträgliche Konzepterstellung für die Zeit ab 2005, insbesondere für die hier streitigen Zeiträume 2009 bis 2010, ist nicht ausgeschrieben worden. Gleichwohl geht der Beklagte davon aus, dass die Erkenntnisse aus dem zu erstellenden schlüssigen Konzept ab 2012 für die hier streitigen Zeiträume herangezogen werden könnten."

Mit Schreiben vom 8. Januar 2013 übersandte der Beklagte ein "schlüssiges Konzept zur Ermittlung der Bedarfe für Unterkunft im S." Stand August 2012.

Die hier enthaltenen Daten wurden jeweils zum Stichtag 1. März 2012 erhoben.

"Die so erhobene Datengrundlage bietet nach Auffassung des Beklagten eine hinreichende Gewähr dafür, die Verhältnisse auch für zurückliegende Zeiträume abzubilden. Schließlich geht selbst das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Entscheidungen davon aus, dass auch auf Erkenntnisse aus Mietspiegeln für vorangegangene Zeiträume als Datengrundlage zurückgegriffen werden kann. Warum ein Rückgriff auf eine Datengrundlage nur für vorangegangene Zeiträume und nicht auch auf nachfolgende Zeiträume möglich sein soll, erschließt sich dem Beklagten nicht. Vielmehr geht dieser davon aus, dass auch Datenerhebungen aus dem Streitzeitraum nachfolgenden Zeiträumen als Datengrundlage für zurückliegende Zeiträume ausreichen. Hierbei ist nämlich, auch wenn dies vom erkennenden Gericht in Zweifel gezogen wird, zu berücksichtigen, dass die vom Beklagten herangezogenen Bestandsmieten – je nach Mietvertragsbeginn – häufig auch in späteren Zeiträumen in selbiger Höhe in die Auswertung einfließen und somit auch für Angemessenheitsbetrachtungen früherer Zeiträume aussagekräftig sind. Denn regelmäßig spiegeln sich Veränderungen in der Mietpreisstruktur am örtlichen Wohnungsmarkt in den Neuvertragsmieten und Angebotsmieten wider. Denn eine Anpassung von einmal geschlossenen Mietverträgen erfolgt nur unregelmäßig."

"Der Beklagte geht daher von einer Übertragbarkeit der aktuell gewonnenen Erkenntnisse auf zurückliegende Zeiträume aus.

Sollte das Gericht dieser Ansicht nicht folgen, scheidet gleichwohl ein pauschales Abstellen auf die Werte der Wohngeldtabelle ( § 12 WoGG ) aus. Denn auch hier hat das BSG bereits in zahlreichen Entscheidungen ausgeführt , dass ein Rückgriff auf die Werte der Wohngeldtabelle erst zulässig ist, wenn ein Erkenntnisausfall vorliegt und andere sinnvoll in Betracht zu ziehenden Ermittlungsmöglichkeiten der Gerichte ausscheiden.

Ein solcher Erkenntnisausfall ist vorliegend gerade nicht einschlägig.

Der Beklagte hat mit seinem Konzept sowie den zugrundeliegenden Daten eine Erkenntnisquelle zur Verfügung gestellt. Auch wenn das erkennende Gericht eine Übertragbarkeit der aus dem Konzept und den Daten vom Beklagten gewonnenen Erkenntnisse in Zweifel zieht, dürfte es gehalten sein, sich weiterer Mittel zur Sachverhaltsaufklärung zu bedienen. Hierzu zählt u.a. auch die Hinzuziehung von Sachverständigen. Auch diese Möglichkeit hat das BSG aufgezeigt."

Die Kläger bezweifeln laut Schreiben vom 25. April 2013, dass die Erhebung des Beklagten ein schlüssiges Konzept darstellt, welches den Anforderungen des Bundessozialgerichts entspricht.

"Bereits die einfachste Gegenprobe hat nämlich ergeben, dass die Werte des Beklagten nicht stimmen können."

Wohnungen zu den Preisvorgaben des Beklagten ließen sich im gesamten Landkreis weder ausreichend noch jederzeit finden.

Zumindest könnten die im Jahre 2012 ermittelten Werte nicht auf den streitigen Zeitraum herangezogen werden.

Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts könne daher nur noch der Rückgriff auf die Werte des § 12 Wohngeldgesetz (Wo.GG) erfolgen.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

den Beklagten unter Abänderung seines Bescheides vom 22. September 2009 in der Fassung der Bescheide vom 13. August 2010 und des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2010 zu verurteilen, der Leistungsberechnung die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung abzüglich der Warmwasserkosten der Kläger zugrunde zu legen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Prozessbeteiligten stimmten einer Entscheidung des Gerichts ohne vorherige mündliche Verhandlung zu.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten (Az: ) haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist frist- und formgerecht eingereicht und somit zulässig.

Sachlich ist die Klage ebenfalls begründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind im streitbefangenen Umfang rechtswidrig.

Erwerbsfähige Leistungsberechtigte und nicht erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben, erhalten Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld zur Sicherung des Lebensunterhaltes einschließlich der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (§ 19 Satz 1 SGB II).

Leistungen für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II).

Die Kläger haben mit Zustimmung des Beklagten am 1. September 2009 ein Mietverhältnis über eine gemeinsame Wohnung begründet, deren Kosten nach Auffassung des Beklagten den angemessenen Umfang übesteigen.

Grundlage der Entscheidungsfindung des Beklagten bildete dabei zunächst die "Handlungsanweisung des S. zur Angemessenheit der Leistungen für Unterkunft und Heizung im Rahmen des SGB II und SGB XII vom 1.3.2009". Wobei der Beklagte unwidersprochen lässt, dass dieser "Anweisung" ein "schlüssiges Konzept" nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts fehlt. (vgl. Urteil des BSG vom 22. September 2009, Az: B 4 AS 18/09 R).

Inwieweit das vom Beklagten im Klageverfahren vorgelegte "schlüssige Konzept zur Ermittlung der Bedarfe für Unterkunft im S." aus dem Jahr 2012 den Anforderungen des Bundessozialgerichts entspricht, kann dahinstehen. Denn die dem zugrundeliegenden Daten wurden zum Stichtag 1. März 2012 erhoben. Für deren rückwirkende Anwendbarkeit auf den streitigen Zeitraum 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 findet sich kein Anhalt.

Die Bestimmung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung erfordert die "zeit- und realitätsgerechte Erfassung der sozialen Wirklichkeit" (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2013, Az: B 14 AS 70/12 R).

Dies war dem Beklagten für den streitigen Zeitraum trotz Beauftragung der Firma – A. u. K., Beratungsgesellschaft für Wohnen, Immobilien und Tourismus mbH, H. – offensichtlich nicht möglich. Mithin erscheint die Forderung des Beklagten durch Hinzuziehung von Sachverständigen, den Sachverhalt ergänzend aufzuklären zu unbestimmt.

Die Kammer geht vorliegend von einem Ausfall der Erkenntnismöglichkeiten für die Bestimmung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II aus.

In der Folge sind für die streitigen Kosten der Unterkunft die Werte der Wohngeldtabelle zu § 12 Wo.G.G. zzgl. eines Zuschlages von 10 v.H. heranzuziehen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az: B 4 AS 87/12 R).

Demnach sind für die Kläger (4 Personen; Mietstufe II) Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 575,30 EUR angemessen.

Die tatsächlichen Kosten der Unterkunft der Kläger betrugen im streitigen Zeitraum lediglich 493,27 EUR.

Von den tatsächlichen Heizkosten in Höhe von monatlich 114,00 EUR sind die im Regelsatz enthaltenen Kosten zur Warmwasseraufbereitung abzuziehen. Der hier vom Beklagten in Anschlag gebrachte Gesamtbetrag in Höhe von 22,40 EUR ist für die Kläger unstrittig.

Die verbleibenden Heizkosten in Höhe von 91,60 EUR sind mangels entgegenstehender Erfahrungswerte nicht zu beanstanden. Zumal die vom Beklagten vorgenommene Rechnung (1,05 EUR je angemessenem m² Wohnfläche) unter Zugrundelegung von 92,70 m² bewohnter Fläche der Kläger mit 97,34 EUR höhere Heizkosten ergeben würde.

In der Folge bestimmt sich für die Kläger ein angemessener Betrag an Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 584,87 EUR pro Monat für die Zeit vom 1. September 2009 bis 31. Januar 2010.

Wobei die Kläger einen Anspruch auf Berücksichtigung von monatlich 584,87 EUR an Kosten der Unterkunft und Heizung bei der Leistungsberechnung nach dem SGB II im Zeitraum 1. September 2009 bis 31. Januar 2010 auch dann hätten, wenn diese Kosten als unangemessen hoch festzustellen wären.

Denn § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II räumt den Klägern eine Frist von längstens 6 Monaten ein, diese Kosten auf ein angemessenes Maß zu senken.

Der Ablauf dieser Übergangsfrist oder Schonzeit setzt voraus, dass die Kläger der Sach- und Rechtslage entsprechende Kenntnisse besitzen.

In der Regel wird diese Kenntnis den Anspruchsberechtigten erstmals mit einer Kostensenkungsaufforderung des Leistungsträgers vermittelt (vgl. BSGE 17. Dezember 2009, Az: B 4 AS 19/09; Landessozialgericht Sachsen-Anhalt, vom 4. April 2011, Az: L 5 AS 95/10 ER).

Nach Aktenlage hat die Klägerin zu 1. als Vertreterin ihrer Bedarfsgemeinschaft am 11. August 2009 erstmals durch den Beklagten erfahren, dass die ab 1. September 2009 entstehenden Kosten der Unterkunft und Heizung unangemessen hoch sind.

Nach § 26 Sozialgesetzbuch 10. Buch i.V.m. §§ 187 und 188 Bürgerliches Gesetzbuch begann somit die 6-Monatsfrist des § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II am 12. August 2009 zu laufen und endete am 11. Februar 2010.

Hieraus lässt sich ein Anspruch der Kläger auf Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung bis 31. Januar 2010 zwanglos herleiten.

Der Klage war daher stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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