L 11 R 4556/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
11
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 9 R 2764/12
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 11 R 4556/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11.09.2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Rente wegen Erwerbsminderung von der Beklagten.

Die Klägerin ist am 12.05.1960 in der Türkei geboren und lebt seit August 1972 in der Bundesrepublik. Sie erlernte keinen Beruf. Zuletzt war sie als Bestückerin und Löterin seit 2006 bei der Firma B., 7. K., beschäftigt. Es ist ein Grad der Behinderung von 50 zuerkannt (Bl 89 Verwaltungsakte).

Am 08.02.2011 unterzog sich die Klägerin einer Bandscheibenoperation (Diagnose: Lumboischialgie links bei Bandscheibenvorfall L5/S1). Die anschließende Rehabilitationsbehandlung dauerte vom 17.03. bis zum 14.04.2011. Im Entlassungsbericht der Rehabilitationseinrichtung vom 13.04.2011 wird ausgeführt, dass zwar zum jetzigen Zeitpunkt bezüglich der ADL (activities of daily living) Einschränkungen bestünden. Die Entlassung aus der Anschlussheilbehandlung (AHB) erfolge weiterhin arbeitsunfähig. Arbeitsfähigkeit sei aber etwa drei bis vier Monate nach der Operation zu erwarten.

Am 16.01.2012 beantragte die Klägerin Rente wegen Erwerbsminderung. Sie gab an, sie habe Schmerzen an der Lendenwirbelsäule, Schmerzen in der Schulter und den Handgelenken und leide an Schwindel, Schlafproblemen und Ängsten.

Die Beklagte holte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein und veranlasste eine orthopädisch-chirurgische Begutachtung mit neurologisch-psychiatrischem Zusatzgutachten. Die Fachärztin für Chirurgie und Sozialmedizin Z. diagnostizierte im Gutachten vom 09.02.2012 (Bl 219 Verwaltungsakte) ein LWS-Syndrom mit Lumboischialgie nach Versteifungsoperation L5/S1 2011 mit noch resultierender Wurzelreizsymptomatik mit leichten Funktionsstörungen, röntgenologisch weitgehend unauffällig; wiederkehrende Sehnenscheidenreizungen an beiden Unterarmen ohne wesentliche Funktionsstörung mit zeitweise Kraftminderung; bewegungsabhängige Schmerzen des linken Schultergelenks mit geringer Schwellung der vorderen Kapsel, sonographisch unauffällig; depressive Episode gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt; Asthma ohne Zeichen der Störung des Blutgasaustausches. Die letzte Tätigkeit als Bestückerin und Löterin sei nicht mehr leidensgerecht. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könnten mindestens sechs Stunden täglich verrichtet werden.

Im neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachten vom 29.03.2012 diagnostizierte die Fachärztin für Neurologie/Psychiatrie Dr. E. eine depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt, Lumboischialgie links, sensomotorisch axonale Polyneuropathie unklarer Genese. Es sei eine herabgeminderte Stimmung, eine psychomotorische Verlangsamung, eine Minderung der affektiven Schwingungsfähigkeit und ein inhaltlich auf das Beschwerdebild fixiertes Denken aufgefallen. Leichte Tätigkeiten könne die Klägerin sechs Stunden und mehr verrichten. Tätigkeiten mit Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten, häufiges Bücken, Zwangshaltungen, erhöhter Zeitdruck, Publikumsverkehr sowie erhöhte Ansprüche an Umstellungs- und Anpassungsfähigkeit sollten vermieden werden. Eine ambulante psychiatrische/psychotherapeutische Betreuung sei empfehlenswert, ebenso eine Verbesserung der Psychopharmakotherapie.

Mit Bescheid vom 12.04.2012 lehnte die Beklagte hierauf den Rentenantrag ab, da weder volle noch teilweise Erwerbsminderung vorliege.

Hiergegen erhob die Klägerin am 23.04.2012 Widerspruch. Die Beklagte habe eine vorliegende Nervenschädigung nicht berücksichtigt. Sie sei auch nicht mehr in der Lage, länger als eine Stunde zu sitzen. Ihre Hände seien kraftlos und schwach, weshalb sie keine Geräte mehr halten oder bedienen könne.

Der Widerspruch wurde von der Beklagten nach Einholung einer sozialmedizinischen Stellungnahme der Sozialmedizinerin Z. (Bl 283 Verwaltungsakte) mit Widerspruchsbescheid vom 10.07.2012 als unbegründet zurückgewiesen (Bl 293 Verwaltungsakte). Die von der Klägerin benannte Nervenschädigung sei mit der Polyneuropathie berücksichtigt worden.

Hiergegen hat die Klägerin am 31.07.2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft. Leichte Tätigkeiten könne sie nicht mehr sechs Stunden täglich verrichten. Dies werde von der behandelnden Psychotherapeutin R. ebenso gesehen. Es bestünden Schlafstörungen, Appetitverlust, Übelkeit, Kraftlosigkeit und allgemeine Lebensunlust. Hinzu kämen Magen-Darm-Störungen, Asthma und häufige Migräne. Die Versteifungsoperation mit Titanium habe nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Sie leide nach wie vor unter starken Schmerzen und könne mit dem Fremdkörper im Körper schlecht leben.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat auf die Begründungen der angefochtenen Bescheide Bezug genommen.

Das SG hat Beweis erhoben durch die Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte. Der Orthopäde Dr. M. hat mit Schreiben vom 07.11.2012 mitgeteilt, dass eine körperlich leichte Tätigkeit ohne Zwangshaltung und ohne nervliche Belastung sechs Stunden täglich möglich sei. Der Allgemeinmediziner Dr. D. hat mit Schreiben vom 07.11.2012 ausgeführt, dass seines Erachtens infolge eines chronischen intensiven Schmerzsyndroms im Sinne einer depressiven Episode ein Leistungsvermögen von nur noch unter zwei Stunden täglich vorliege.

Am 20.12.2012 ist eine Revisionsoperation mit Nervenwurzeldekompression L5 erfolgt. Vom 13.03.2013 bis 03.04.2013 ist die Klägerin zur AHB in die Fachklinik W. aufgenommen worden. Im Entlassungsbericht vom 16.04.2013 (Bl 143 SG-Akte, Diagnosen: Pseudoarthrose L5/S1, Depression, Asthma bronchiale) werden leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich für möglich gehalten.

Das SG hat weiteren Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W., K ... Im Gutachten vom 13.02.2013 (Bl 138 SG-Akte) hat der Sachverständige folgende Diagnosen gestellt: - Lumboischialgie mit Gefühlsstörungen in der linken Gesäßseite mit Schmerzen von der linken Gesäßseite bis zum linken Knie ausstrahlend, - chronifizierte mittelstark ausgeprägte weitgehend somatisierte depressive Symptomatik mit chronischer Schmerzsymptomatik und einem Schmerzmittelabusus. Die früher vermutete Polyneuropathie habe sich nicht nachweisen lassen, auch Paresen, Muskelminderungen oder verwertbare Reflexunterschiede hätten sich nicht feststellen lassen. Die Klägerin könne schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten über 5 kg nicht mehr verrichten, ebenso keine Arbeiten mit überwiegendem Stehen und Gehen und permanentem Sitzen sowie in Wirbelsäulenzwangshaltungen. Ebenfalls nicht zumutbar seien Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten in bückender bzw gebückter Haltung, Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeit, Arbeiten mit überwiegendem Publikumsverkehr und mit erhöhter Verantwortung wie zB Leitungsfunktion. Bei Beachtung dieser qualitativen Einschränkungen seien ohne unmittelbare Gefährdung der Gesundheit leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Rahmen einer Fünftagewoche täglich sechs Stunden und mehr möglich. Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt.

Mit Urteil vom 11.09.2013 hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung. Sie sei in der Lage, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbsfähig zu sein. Das SG hat sich im Wesentlichen auf das Sachverständigengutachten von Dr. W. und den Reha-Entlassungsbericht vom 16.04.2013 gestützt.

Gegen das ihren Bevollmächtigten am 30.09.2013 gegen Empfangsbekenntnis zugestellte Urteil des SG hat die Klägerin am 21.10.2013 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Die Schlussfolgerungen des Sachverständigen Dr. W. seien nicht nachvollziehbar. Es fehle sowohl eine Medikamenten- als auch eine Behandlungsanamnese. Die Diagnose sei außerdem nicht nach ICD-10 verschlüsselt gewesen. Sie werde seit Jahren schmerztherapeutisch behandelt, was das Sozialgericht nicht ausreichend berücksichtigt habe. Sie hat einen Entlassungsbericht der Privatklinik B. G. (Fachklinik für Nerven- und Psychosomatische Erkrankungen) vom 10.01.2014 vorgelegt. Dort wird eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren beschrieben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 11.09.2013 und den Bescheid der Beklagten vom 12.04.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10.07.2012 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 01.01.2012 Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie nimmt auf die Begründung des Widerspruchsbescheids und die Ausführungen des SG Bezug.

Der Senat hat Beweis erhoben durch die Einholung sachverständiger Zeugenauskünfte der behandelnden Ärzte. Der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. K. hat mit Schreiben vom 27.02.2014 ausgeführt, dass die Klägerin aus seiner Sicht nicht in der Lage sei, leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sechs Stunden täglich zu verrichten. Die Klägerin habe sich erstmals am 29.05.2013 bei ihm vorgestellt. Damals habe sie über Beschwerden als Ausdruck eines Wurzelkompressionssyndroms L5 geklagt, was jedoch 2014 nicht mehr thematisiert worden sei. Er habe dann eine Depression diagnostiziert. Die Psychologin B. hat mit Schreiben vom 28.02.2014 mitgeteilt, dass eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode (F 33.1) sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F 45.41) vorliege.

Über die Agentur für Arbeit K.-R. ist der Beklagten ein Antrag der Klägerin vom 22.02.2014 auf Gewährung medizinischer Reha-Leistungen am 04.03.2014 zugeleitet worden. Die Beklagte hat eine Begutachtung bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. E. veranlasst. Im Gutachten vom 02.04.2014 hat Dr. E. einen Zustand nach Nukleotomie L5/S1 mit ventraler Spondylodese Februar 2011 und Zustand nach dorsaler Dekompressionsspondylodese L5/S1 Dezember 2012, eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte bis mittelgradige Episode (Beurteilung nach Hamilton-Depressions-Skala), eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine diskrete sensomotorische, axonal betonte Polyneuropathie der Beine unklarer Genese sowie Nikotinabhängigkeit diagnostiziert. Kognitive Defizite hätten nicht vorgelegen, obwohl sie beklagt worden seien. Leichte körperliche Tätigkeiten könne sie sechs Stunden täglich verrichten. Eine kombinierte orthopädisch-psychosomatische Rehabilitation könne dem Erhalt der Erwerbsfähigkeit dienen.

Die Beklagte hat der Klägerin hierauf eine weitere stationäre Reha-Maßnahme vom 15.05. bis 05.06.2014 in der Rehabilitationseinrichtung H., B., bewilligt. Im Entlassungsbericht vom 18.06.2014 wird ein chronisches Schmerzsyndrom mit organischen und psychischen Faktoren, bei Zustand nach Nukleotomie L5/S1 mit ventraler Spondylodese Februar 2011 und Zustand nach dorsaler Dekompressionsspondylodese L5/S1 Dezember 2012 sowie eine rezidivierende depressive Störung (mittelgradige Episode) beschrieben. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes könnten sechs Stunden täglich verrichtet werden. Die orthopädischen Beschwerden würden durch ein depressiv-ängstliches und zum Teil auch antriebsgemindertes Erscheinungsbild überlagert. Die Klägerin habe ein algophobes Vermeidungsverhalten gezeigt, das zu einer eingeschränkten Untersuchbarkeit geführt habe. Aufgrund der Gesamtkonstellation mit orthopädischen Gesundheitsstörungen iVm zusätzlicher Schmerzchronifizierung und rezidivierender depressiver Episode sei die Gesamtbelastbarkeit deutlich reduziert.

Der Senat hat weiteren Beweis durch die Einholung einer ergänzenden Stellungnahme bei Dr. W. erhoben, der mit Schreiben vom 27.11.2014 mitgeteilt hat, dass er eine erneute Begutachtung für erforderlich halte.

Der Senat hat hierauf Beweis erhoben durch die Einholung eines Sachverständigengutachtens bei dem Arzt für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dr. D., K ... Im Gutachten vom 18.05.2015 (Bl 87 Senatsakte) hat der Sachverständige nach Durchführung verschiedener Testverfahren ausgeführt, dass aus seiner Sicht die Klägerin im Rahmen der Untersuchung eine Psychopathologie, eine Störung der visuellen Merkfähigkeit, vorgetäuscht habe. Sie sei nicht gewillt gewesen, ihr tatsächliches Leistungsvermögen zu zeigen und habe zur Aggravation und Simulation geneigt. Der Sachverständige hat folgende Diagnosen gestellt: - chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD 10: F45.41), - rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig leichte bis allenfalls mittelgradige Episode mit somatischen Symptomen (ICD10: F33.01), - diskrete Polyneuropathie vom distalen symmetrischen Manifestationstyp, asymptomatisch (ICD 10: G62.9), - Zustand nach Nukleotomie LWK5/SWK1 mit ventraler Spondylodese und Zustand nach dorsaler Dekompressionsspondylodese (ICD 10: M54.4). Im Rahmen der Untersuchung hätten sich erhebliche Inkonsistenzen zwischen dem psychischen Befund und den Ergebnissen der Selbstbeurteilungsskalen gezeigt. In der Schmerz-Simulations-Skala nach Bikowski hätten sich Hinweise für eine bewusstseinsnahe Verdeutlichung von Beschwerden gezeigt. Im Benton-Test habe die Klägerin Leistungen geboten, die dem Vorliegen von Schwachsinn entsprechen würden. Auch hier hätte eine erhebliche Inkonsistenz zu den tatsächlichen Gegebenheiten vorgelegen. In einem Beschwerde-Validierungsverfahren hätten sich dann wiederum die bereits aufgrund der anderen Ergebnisse geäußerte Vermutung bestätigt, dass die Klägerin nicht gewillt gewesen sei, ihr tatsächliches Leistungsvermögen zu zeigen und eine Psychopathologie vorgetäuscht habe. Zum Zeitpunkt der Untersuchung hätten sich keine sicheren Hinweise für das Vorliegen einer Wurzelreizung oder einer Wurzelschädigung L5/S1 links ergeben. Insbesondere hätten auch keine Lähmungen der Fußheber oder der Fußsenker vorgelegen. Das Zeichen nach Lasègue (passives Anheben des gestreckten Beines beim Liegen in Rückenlage) sei beiderseits bis 90 möglich gewesen, sodass ein akuter Wurzelkontakt hätte ausgeschlossen werden können. Die Klägerin könne leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten, überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen, in Tagschicht bzw Früh-/Spätschicht. Tätigkeiten unter erhöhtem Zeitdruck, mit häufig wechselnden Arbeitszeiten, mit Verantwortung für Personen und Maschinen, in Zwangshaltungen, mit häufigem Bücken, mit Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten und mit erhöhter Unfallgefahr sollten vermieden werden. Die Wegefähigkeit sei nicht beeinträchtigt. Dem Arztbrief der Reha-Einrichtung H. vom 18.06.2014 könne insofern nicht gefolgt werden, als dort die Auffassung vertreten werde, dass eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit und eine Neuorientierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit dem derzeitigen Beschwerdeniveau kaum denkbar sei. Aufgrund der demonstrierten Aggravations- und Simulationstendenzen könne dieser Auffassung nicht gefolgt werden.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.

Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten gemäß §§ 153 Abs 1, 124 Abs 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.

Die nach den §§ 143, 144, 151 Abs 1 SGG form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft, zulässig aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung.

Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 Sozialgesetzbuch - Sechstes Buch - (SGB VI) in der ab 01.01.2008 geltenden Fassung des Art 1 Nr 12 RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.04.2007 (BGBl I, 554).

Versicherte haben nach § 43 Abs 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll bzw teilweise erwerbsgemindert sind (Nr 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Nr 3).

Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit durch Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt.

Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 1 und Abs 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs 3 SGB VI).

Ausgehend von diesen Grundsätzen und nach Abschluss der Beweiserhebung ist der Senat davon überzeugt, dass die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Volle oder teilweise Erwerbsminderung liegt daher nicht vor.

Diese Überzeugung schöpft der Senat für den Zeitraum ab Rentenantragstellung bis zur Entscheidung des SG aus den Entlassungsberichten der Rehabilitationseinrichtungen vom 13.04.2011 und vom 16.04.2013, die jeweils prognostisch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden und mehr täglich für möglich gehalten haben. Ebenso hat die Fachärztin für Chirurgie und Sozialmedizin Z. im Gutachten vom 09.02.2012 (Diagnosen: LWS-Syndrom mit Lumboischialgie nach Versteifungsoperation L5/S1 2011 mit noch resultierender Wurzelreizsymptomatik mit leichten Funktionsstörungen, röntgenologisch weitgehend unauffällig; wiederkehrende Sehnenscheidenreizungen an beiden Unterarmen ohne wesentliche Funktionsstörung mit zeitweise Kraftminderung; bewegungsabhängige Schmerzen des linken Schultergelenks mit geringer Schwellung der vorderen Kapsel, sonographisch unauffällig; depressive Episode gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt; Asthma ohne Zeichen der Störung des Blutgasaustausches) unter Einbeziehung des neurologisch-psychiatrischen Zusatzgutachtens Dr. E. vom 29.03.2012 (Diagnosen: depressive Episode, gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt, Lumboischialgie links, sensomotorisch axonale Polyneuropathie unklarer Genese) für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass zwar die letzte Tätigkeit als Bestückerin und Löterin nicht mehr leidensgerecht ist, jedoch leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich verrichtet werden können.

Diese Einschätzungen werden auf orthopädischem Fachgebiet bestätigt durch die Einschätzung des behandelnden Facharztes Dr. M., der mit Schreiben vom 07.11.2012 mitgeteilt hat, dass aus seiner Sicht eine körperlich leichte Tätigkeit ohne Zwangshaltung und ohne nervliche Belastung sechs Stunden täglich möglich sei.

Auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet hat der Sachverständige Dr. W. im Gutachten vom 13.02.2013 (Diagnosen: Lumboischialgie mit Gefühlsstörungen in der linken Gesäßseite mit Schmerzen von der linken Gesäßseite bis zum linken Knie ausstrahlend; chronifizierte mittelstark ausgeprägte weitgehend somatisierte depressive Symptomatik mit chronischer Schmerzsymptomatik und einem Schmerzmittelabusus) für den Senat nachvollziehbar ausgeführt, dass die Klägerin schwere und mittelschwere körperliche Arbeiten mit Heben und Tragen von Lasten über 5 kg nicht mehr verrichten kann, ebenso keine Arbeiten mit überwiegendem Stehen und Gehen und permanentem Sitzen sowie in Wirbelsäulenzwangshaltungen. Ebenfalls nicht zumutbar sind Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sowie Arbeiten in bückender bzw gebückter Haltung, Akkord-, Fließband-, Schicht- und Nachtarbeit, Arbeiten mit überwiegendem Publikumsverkehr und mit erhöhter Verantwortung wie zB Leitungsfunktion. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Rahmen einer Fünftagewoche hat der Sachverständige täglich sechs Stunden und mehr für möglich erachtet.

Im Berufungsverfahren hat der Senat infolge des Vorbringens der Klägerin den Sachverhalt weiter aufgeklärt. Die Beweiserhebung hat ergeben, dass die Klägerin noch mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann. Volle oder teilweise Erwerbsminderung liegt daher nicht vor.

Diese Überzeugung schöpft der Senat aus dem Gutachten Dr. E. vom 02.04.2014, dem Entlassungsbericht der Rehabilitationseinrichtung H., B., vom 18.06.2014 nach der stationären medizinischen Reha-Maßnahme vom 15.05. bis 05.06.2014 und aus dem Sachverständigengutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. Dr. D., K., vom 18.05.2015.

Im Gutachten vom 18.05.2015 hat Prof. Dr. Dr. D. folgende Diagnosen gestellt: - chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD 10: F45.41), - rezidivierende depressive Störungen, gegenwärtig leichte bis allenfalls mittelgra- dige Episode mit somatischen Symptomen (ICD10: F33.01), - diskrete Polyneuropathie vom distalen symmetrischen Manifestationstyp, asymp - tomatisch (ICD 10: G62.9), - Zustand nach Nukleotomie LWK5/SWK1 mit ventraler Spondylodese und Zu- stand nach dorsaler Dekompressionsspondylodese (ICD 10: M54.4). Diese Diagnosen decken sich mit denjenigen Dr. E. vom 02.04.2014. Auch in der Beurteilung des Leistungsvermögens besteht Übereinstimmung. Tätigkeiten unter erhöhtem Zeitdruck, mit häufig wechselnden Arbeitszeiten, mit Verantwortung für Personen und Maschinen, in Zwangshaltungen, mit häufigem Bücken, mit Heben, Tragen und Bewegen von schweren Lasten und mit erhöhter Unfallgefahr sollten vermieden werden. Die Klägerin kann nach den für den Senat überzeugenden Ausführungen Dr. E. und Prof. Dr. Dr. D. leichte Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten, überwiegend im Stehen, Gehen und Sitzen, in Tagschicht bzw Früh-/Spätschicht. Die Wegefähigkeit ist nicht beeinträchtigt.

Auch im Entlassungsbericht der Reha-Einrichtung H. vom 18.06.2014 wird die Klägerin für fähig erachtet, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sechs Stunden täglich zu verrichten (S 2). Soweit dort im Folgenden (S. 14) die Auffassung vertreten wird, dass eine Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit und eine Neuorientierung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit dem derzeitigen Beschwerdeniveau kaum denkbar sei, führt dies nicht zu einer anderen Beurteilung. Prof. Dr. Dr. D. hat für den Senat überzeugend dargelegt, dass dem Entlassungsbericht insoweit nicht gefolgt werden kann. Im Rahmen der Untersuchung bei Prof. Dr. Dr. D. haben sich erhebliche Inkonsistenzen zwischen dem psychischen Befund und den Ergebnissen der Selbstbeurteilungsskalen gezeigt. Der Sachverständige hat nach Durchführung verschiedener Testverfahren nachvollziehbar dargelegt, dass die Klägerin im Rahmen der Untersuchung eine Psychopathologie, eine Störung der visuellen Merkfähigkeit, vorgetäuscht und zur Aggravation und Simulation geneigt hat. Auch Dr. E. hat darauf hingewiesen, dass kognitive Defizite nicht vorliegen. Prof. Dr. Dr. D. hat des weiteren keine Wurzelreizung oder Wurzelschädigung L5/S1 links feststellen können. Insbesondere haben auch keine Lähmungen der Fußheber oder der Fußsenker vorgelegen. Das Zeichen nach Lasègue (passives Anheben des gestreckten Beines beim Liegen in Rückenlage) ist beiderseits bis 90° möglich gewesen, sodass ein akuter Wurzelkontakt ausgeschlossen werden konnte.

Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend in der Person der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben wäre bestehen nicht, ein Teil der qualitativen Beschränkungen wird bereits durch den Umstand, dass nur leichte Arbeiten zumutbar sind, mitberücksichtigt. Schließlich ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des BSG und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG 30.11.1983, 5a RKn 28/82, BSGE 56, 64, SozR 2200 § 1246 Nr 110; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, BSGE 80, 24, SozR 3-2600 § 44 Nr 8; siehe auch BSG 05.10.2005, B 5 RJ 6/05 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 5). Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung des Senats bestehende Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag unter Berücksichtigung nicht arbeitsmarktunüblicher qualitativer Leistungseinschränkungen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit dem Kläger noch leidensgerecht und zumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich und mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs 3 letzter Halbsatz SGB VI).

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt; die vorhandenen Gutachten, Reha-Entlassungsberichte und Arztauskünfte bilden eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Senats und haben die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs 1 ZPO); weitere Beweiserhebungen waren daher von Amts wegen nicht mehr notwendig.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved