L 2 R 5534/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 17 R 1084/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 5534/13
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. November 2013 sowie der Bescheid der Beklagten vom 2. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Februar 2011 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. März 2015 für die Dauer von zwei Jahren eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten. Im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.

Tatbestand:

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die Klägerin hat keinen Beruf erlernt und zuletzt seit 1996 als Stanzerin gearbeitet. Seit Mai 2009 ist sie arbeitslos. Seit 3.2.2014 ist bei ihr ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 sowie die Merkzeichen G und B anerkannt.

Am 28.6.2010 beantragte sie bei der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung wegen Tennisarm, Abnutzung der Halswirbelsäule (HWS) und psychosomatischer Probleme. Die Beklagte zog ärztliche Unterlagen, u.a. die Reha-Entlassungsberichte der D.-Fachklinik Abteilung Psychosomatik/Psychotherapie vom 27.7.2009 sowie den Reha-Entlassungsbericht der Fachklinik S. vom 2.3.2009 bei. Sie ließ die Klägerin durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dipl. med. G. begutachten (Gutachten vom1.10.2010), der eine Osteochondrose der HWS mit leichten Bewegungseinschränkungen, sekundäres Impingement-Syndrom der Schulter, migränoider Kopfschmerz mit jahrelanger Schmerzmittelanamnese, ängstlich vermeidende Persönlichkeitsakzentuierung mit Stimmungsschwankungen und rezidivierende depressive Störung gegenwärtig nicht ausgeprägt diagnostizierte. Leichte bis mittelschwere Arbeiten könne die Klägerin unter gewissen Einschränkungen noch 6 Stunden und mehr arbeitstäglich verrichten.

Mit Bescheid vom 2.11.2010 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs ließ die Klägerin vortragen, dass sie bereits bei der täglichen Bewältigung ihres Lebens überfordert sei. Ihren Haushalt könne sie nur sehr eingeschränkt erledigen, nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren und leide unter einem extremen Gefühl von Überforderung, weshalb sie nirgendwo ohne Begleitung hinginge. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 15.2.2011 zurück.

Dagegen hat die Klägerin am 8.3.2011 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und sich darauf berufen, dass die psychischen Krankheiten mittlerweile in den Vordergrund gerückt seien, dass diese nunmehr vorrangig einer Erwerbstätigkeit im Wege stünden.

Durch Bescheid vom 12. Mai 2011 hat die Beklagte der Klägerin Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach bewilligt, was aber nicht weiterverfolgt wurde, nachdem die Klägerin sich nicht für erwerbsfähig hielt.

Das SG hat zunächst die von der Klägerin benannten behandelnden Ärzte schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Der behandelnde Psychiater und Neurologe Dr. W. berichtete von einer deutlich herabgesetzten emotionalen Belastbarkeit mit reduzierter Durchhaltefähigkeit, weshalb die Klägerin noch 3 bis 6 Stunden leichte Tätigkeiten durchführen könne (Auskunft vom 14.7.2011). Der Orthopäde Dr. V. (Auskunft vom 25.7.2011) hielt die Klägerin bei Schulter-Arm-Syndrom beidseits, Rotatorenmanschettensyndrom beidseits, degenerativem Cervicalsyndrom bei ausgeprägten Osteochondrosen, BWS-Syndrom und LWS-Syndrom noch für in der Lage leichte Tätigkeiten 6 Stunden und mehr zu verrichten.

Vom 26.6. bis 31.7.2012 hat eine Behandlung der Klägerin in der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums T. bei aktuell schwerer rezidivierender depressiver Störung stattgefunden (Behandlungsbericht vom 15.8.12, Bl 76 SG-Akte). Im September 2012 hat die Klägerin eine Behandlung bei der Psychotherapeutin H. begonnen, die von einer familiär bedingten posttraumatischen Belastungsstörung als Ursache für die rezidivierenden schweren depressiven Episoden und die chronische Schmerzstörung ausging und die Berentung für angezeigt hielt (Attest vom 24.11.2012, Bl. 85 SG Akte).

Das SG hat die Klägerin durch den Neurologen und Psychiater Dr. N. begutachten lassen. Der Gutachter diagnostizierte in seinem Gutachten vom 14.5.2013 eine Dysthymia auf dem Boden einer selbstunsicheren depressiven Persönlichkeit, eine rezidivierende depressive Störung (derzeit remittiert), eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie eine Migräne. Der aktuelle psychopathologische Befund zeige keine Kriterien, die für eine depressive Episode sprechen würden, so dass von einer hinreichenden Remission auszugehen sei. Der Schweregrad der Schmerzstörung seien nicht als erheblich einzuschätzen, da die Klägerin in der Lage sei, ihre Hausarbeiten zu verrichten, Spaziergänge unternehme, Freizeitaktivitäten beschreibe und auch bei der Untersuchung keine wesentlichen Einschränkungen gezeigt habe. Unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen verfüge die Klägerin noch über ein tägliches Leistungsvermögen von 6 Stunden im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche für leichte körperliche Arbeiten (Bl. 96 SG Akte).

Die Klägerin hat die Wiedergabe der dem Gutachter gegebenen Informationen bemängelt. Auf das Kostenrisiko der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG das Gutachten vom 18.9.2013 bei der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Sozialmedizin Dr. B. eingeholt (Bl. 149 SG-Akte). Dr. B. hat in ihrem Gutachten auf nervenärztlichem Gebiet eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradig mit somatischem Syndrom, Dysthymia, eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, eine Persönlichkeitsstörung mit ängstlich-vermeidenden und dependenten Verhaltensstörungen sowie migränoide Kopfschmerzen mit Schmerzmittelübergebrauch diagnostiziert. In der Zwischenzeit sei es zu einer Verschlimmerung der Leiden gekommen. So seien die Durchhaltefähigkeit und die Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, wie Flexibilität und Umstellungsfähigkeit mäßiggradig eingeschränkt. Ihre Selbstbehauptungsfähigkeit und die Gruppenfähigkeit seien sogar wesentlich reduziert. Die Klägerin könne diesbezüglich den Rollenerwartungen in vielen Teilen nicht mehr gerecht werden und benötige Unterstützung von Dritten. Die Klägerin könne derzeit 3 Stunden arbeitstäglich leichte körperliche Tätigkeiten ausführen, bei denen jedoch qualitative Einschränkungen Beachtung finden müssten. Obgleich die therapeutischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft seien, lasse sich auch unter intensivierter, richtliniengerechter Weiterbehandlung innerhalb von sechs Monaten keine so ausreichende Stabilisierung erreichen, dass die Klägerin wieder vollschichtig arbeiten könne. Erschwerend komme der starke Wunsch nach passiver Versorgung bei der Klägerin hinzu. Der von ihr festgestellte Gesundheitszustand bestehe seit Sommer 2013.

Die Beklagte ist dem Gutachten der Dr. B. mit der ärztlichen Stellungnahme der Neurologin und Psychiaterin Dr. E. vom 4.11.2013 entgegengetreten, wonach sich zwischen den Gutachten eine Diskrepanz im Hinblick auf die Einschätzung des Ausprägungsgrades der psychischen Erkrankung ergebe.

Mit Urteil vom 26.11.2013 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung habe, da sie gestützt auf die Auskunft des Dr. V. und die Gutachten der Dres. G. und N. noch mindestens 6 Stunden im Rahmen einer Fünf-Tage-Woche erwerbstätig sein könne. Auf orthopädischem Fachgebiet bestehe ein beidseitiges Schulter-Arm-Syndrom, ein beidseitiges Rotatorenmanschettensyndrom, ein degeneratives Cervicalsyndrom bei ausgeprägter Osteochondrose sowie ein Lenden- und Brustwirbelsäulensyndrom. Das End- und Mittelglied ihres rechten Zeigefingers sei bei einem Arbeitsunfall 1986 abgetrennt worden. Diese Gesundheitsstörungen bedingten gestützt auf die Einschätzung von Dr. V. nur qualitative und nicht quantitative Einschränkungen des Leistungsvermögens der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. So könne sie keine schweren und ständig mittelschweren körperlichen Tätigkeiten und keine Arbeiten in Zugluft, Zwangshaltung der Wirbelsäule, ständige Bück-Hebe-Belastung und keine Überkopfarbeiten mehr ausüben. Nach Dr. N. seien zudem das Tragen von Lasten über 7 kg und Tätigkeiten mit dauerndem Stehen, Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten sowie in Kälte und Nässe ausgeschlossen. Auf nervenärztlichem Gebiet im Vordergrund stehe bei der Klägerin das depressive Syndrom. Affektiv habe bei der Untersuchung durch Dr. N. eine themenabhängige (Kindheit, Verhältnis zur Mutter) depressive Stimmungsauslenkung mit Freudlosigkeit und resignativem Ausdrucksverhalten und Zeichen einer Selbstwertstörung vorgelegen, die jedoch durchbrochen werden konnte. Kognitive Störungen hätten nicht vorgelegen. Der formale Gedankengang sei weitgehend geordnet gewesen und inhaltlich haben sich bis auf phobische Befürchtungen (Angst, alleine das Haus zu verlassen und Furcht in der Umgebung von vielen Menschen) und Zukunftsängste keine Störungen ergeben. Aufgrund der Dysthymia fühle sich die Klägerin anhaltend niedergeschlagen, ängstlich und genussunfähig. Sie sei jedoch noch in der Lage, die täglichen Anforderungen zu bewältigen, wie sich aus dem geschilderten Tagesablauf mit noch hinreichender Fähigkeit zur Strukturierung und Freizeitgestaltung ergebe. Die mindestens seit 2009 bestehende rezidivierende depressive Episode habe sich von abgeklungen bis schwergradig überwiegend in mittelgradiger Ausprägung gezeigt. Aus den wiederholten Befunden des behandelnden Psychiaters Dr. W. ("Stimmung gedrückt, affektive Resonanzfähigkeit vermindert, Gedächtnis und weitere kognitive Funktionen intakt") lasse sich der Schweregrad oder zeitliche Verlauf der depressiven Episoden nicht abschätzen. Die depressiven Episoden würden zwar zu wiederholten und teilweise längeren Arbeitsunfähigkeiten führen, ein dauerhaftes zeitlich eingeschränktes Leistungsvermögen könne jedoch aufgrund der dokumentierten Remissionen auch bei nicht ausgeschöpften Therapiemaßnahmen nicht angenommen werden. Durch das Schmerzerleben bei chronifizierter Schmerzstörung sei die Klägerin mäßiggradig eingeschränkt. Antrieb, Aufmerksamkeit, Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit sowie das Durchhaltevermögen seien nicht gestört bzw. wesentlich eingeschränkt gewesen. Von Seiten der medikamentösen Schmerztherapie (Bedarfsmedikation von Ibuprofen und Trimipramin) könne nicht auf eine stärkere Einschränkung geschlossen werden, zudem bestünden noch Behandlungsoptionen. Hierdurch seien lediglich weitere qualitative Leistungseinschränkungen bedingt (Arbeiten unter Zeitdruck und Akkord-Arbeiten sowie Arbeiten unter nervlicher Belastung). Der zeitlichen Leistungseinschätzung von Dr. B., die zu den gleichen Diagnosen wie Dr. N. gekommen sei, den Schweregrad der depressiven Episode und der Schmerzstörung allerdings stärker eingeschätzt habe, sei nicht zu folgen gewesen. Die von der Klägerin geschilderten Konzentrationsprobleme, Gedächtnisstörungen und Antriebslosigkeit seien durch die Befunderhebung nicht bestätigt worden und hätten sich damit nicht nachweisen lassen. Sofern sich nach Dr. B. binnen sechs Monaten auch bei intensivierter Weiterbehandlung keine ausreichende Linderung der Beschwerden erzielen lasse, liege dies an dem ausdrücklich geäußerten Rentenbegehren. Die hierdurch prognostizierte Schwächung der Therapiemotivation und Anstrengungsbereitschaft könne nicht zu Gunsten der Klägerin berücksichtigt werden. Es lasse sich im Gegenteil nicht ausschließen, dass die Motivation durch eine - z.B. auf 12 Monate - befristete Rente sogar noch abnehmen würde.

Gegen das der Prozessbevollmächtigten der Klägerin gegen Empfangsbekenntnis am 7.12.2013 zugestellte Urteil hat sie am 23.12.2013 schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg Berufung eingelegt und vorgetragen, dass das SG aus den Begutachtungssituationen die falschen Schlüsse gezogen habe. Die Begutachtungssituationen bei Dr. N. und Dr. G. seien absolut unzuträglich gewesen, wohingegen das Gutachten von Dr. B. nachvollziehbar und schlüssig sei. Der behandelnde Nervenarzt Dr. W. habe seine Leistungseinschätzung dahingehend verstanden wollen, dass nur noch leichte Tätigkeiten von 3 bis unter 6 Stunden durchführbar seien.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. November 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. November 2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Februar 2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Senat hat den Nervenarzt Dr. W. und die Psychotherapeutin H. über den weiteren Verlauf der Behandlung als sachverständige Zeugen befragt. In seiner Auskunft vom 24.3.2014 hat Dr. W. Behandlungsdaten und Befunde seit 21.7.2011 bis 13.2.2014 mitgeteilt. Eine wesentliche Änderung im psychischen Gesundheitszustand sei nicht festzustellen gewesen. Die Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit sei hierdurch im erheblichen Maße eingeschränkt eine berufliche Tätigkeit komme nur noch in einem Umfang von 3 bis unter 6 Stunden in Betracht.

Psychotherapeutin H. hat unter dem 2.5.2014 mitgeteilt, dass sich die Klägerin sequenziell im Rahmen der Psychotherapie habe stabilisieren können, allerdings einen extrem belastenden Druck durch die Anforderung verspüre, zeitnah wieder einem beruflichen Alltag nachgehen zu sollen. Sie sei weder psychisch noch physisch in der Lage dem Arbeitsalltag auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt standzuhalten.

Die Klägerin hat mitgeteilt, dass sie sich durch die nun aufgetretene bösartige Hirntumorerkrankung ihres Mannes zusätzlich überfordert sehe. (5.5.2014, Bl. 54 LSG Akte).

Der Senat hat das psychiatrisch-psychotherapeutische/neurologische Gutachten des Dr. E., Direktor des Klinikums N. eingeholt. In seinem Gutachten vom 11.12.2014 stellte er aufgrund der Untersuchung vom 27.8.2014 als Erkrankungen fest: rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittel- bis schwergradige Episode mit somatischem Syndrom (F 33.2G), Dysthymie (F34.1) i.S. einer "Double Depression", chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.4G), Persönlichkeitsstörung mit ängstlich vermeidenden und dependenten Verhaltensstörungen (F60.6 und F60.7) sowie auf neurologischem Gebiet migränoider Kopfschmerz mit Schmerzmittelübergebrauch in der Vergangenheit und aktuell (G43 und F55). Simulation oder Aggravation ließen sich zweifelsfrei ausschließen. Das aktuelle Rentenverfahren und die wiederholten Ablehnungen belasteten die dargestellte psychodynamische Entwicklung der Erkrankung. Aktuell sei das Rentenverfahren für die zunehmende Verschlechterung des Krankheitsbildes mitverantwortlich. Durch die Gewährung der Rente werde es zu einer Verbesserung des Krankheitsbildes kommen. Eine quantitative Leistungseinschränkung werde durch die Herabgestimmtheit, fehlende Motivation, fehlenden Antrieb, die nicht mit eigener Willensanstrengung überwindbar seien, sondern Ausdruck der Krankheit seien, sowie die eingeschränkte psychische Belastbarkeit der Klägerin begründet. Eine Auflockerung der depressiven Grundstimmung sei nur im Ansatz bei Schilderungen der Klägerin über ihren Glauben und über die soziale Unterstützung durch die Kirchengemeinde kurzfristig erkennbar gewesen. Es habe eine deutliche Negativfokussierung der Denkinhalte mit starken Anteilen von Kränkung und Missverständnis neben Selbstvorwürfen und Schuldvorwürfen ohne Korrigierbarkeit bestanden. Die Klägerin erlebe sich deutlich in einer Opferrolle, worin sie durch die Psychotherapie, die kritisch zu sehen sei, noch bestärkt werde. Die Leistungsfähigkeit der Klägerin sei mit 3 bis deutlich unter 6 Stunden anzusetzen und bestehe seit Sommer 2013. Im Vergleich zur Begutachtung bei Dr. B. sei ein weiterer Progress der Störung festzustellen.

Ergänzend hat auf Anfrage nochmals Dr. W. als sachverständiger Zeuge die Behandlungstermine und Befunde in der Zeit nach dem 24.3.2014 bis 16.1.2015 mitgeteilt.

Dr. N. hat in seinen Sozialmedizinischen Stellungnahmen vom 8.1.2015 und 10.3.2015 eine überdauernde Minderung des quantitativen Leistungsvermögens weder durch das Gutachten des Dr. E. noch durch die von Dr. W. mitgeteilten Befunde als zweifelsfrei belegt angesehen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (Schriftsatz der Klägervertreterin vom 19.5.2015 und des Beklagten vom 20.5.2015).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten (Reha- und Rentenakte) sowie die Prozessakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Der Senat entscheidet mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (vgl. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg.

Die gem. §§ 143, 144 Abs. 1 SGG statthafte Berufung ist zulässig; sie ist unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 SGG) eingelegt worden. Die Berufung ist auch teilweise begründet. Die Klägerin hat ausgehend von einem Leistungsfall am 27.8.2014 Anspruch auf eine zeitlich befristete Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung.

Streitgegenstand ist der Bescheid vom 2.11.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15.2.2011, mit dem die Beklagte die beantragte Rente wegen Erwerbsminderung abgelehnt hat.

Nach § 43 Abs. 2 SGB VI (in der ab 1. Januar 2001 geltenden Fassung des Gesetzes zur Reform der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vom 20. Dezember 2000, BGBl I, 1827) haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie

1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (Satz 1).

Voll erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 3 SGB VI auch Versicherte nach § 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, die wegen der Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gem. § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Gem. § 43 Abs. 3 SGB VI ist jedoch nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Die besonderen versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt die Klägerin ausweislich der vom Beklagten vorgelegten Wartezeitaufstellung insbesondere hinsichtlich der notwendigen Pflichtbeiträge und der Wartezeit in Bezug auf den Eintritt des Versicherungsfalls am 27.8.2014.

Die Klägerin ist auch im Sinne der obigen gesetzlichen Regelung ab 27.8.2014 teilweise erwerbsgemindert. Sie kann auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zwar noch mehr als 3 Stunden aber weniger als 6 Stunden und mehr arbeiten. Der Senat schöpft seine Überzeugung aus dem nervenärztlichen Gutachten von Dr. E. vom 11.12.2014 im Zusammenhang mit den Auskünften von Dr. W ... Danach ist zur Überzeugung des Senats auch eine quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit ab 27.8.2014 - dem Zeitpunkt der Untersuchung bei Dr. E. - nachgewiesen.

Bei der Klägerin bestehen Gesundheitsstörungen auf orthopädischem und nervenärztlichem Fachgebiet.

Auf orthopädischem Fachgebiet wurden bei der Klägerin ein beidseitiges Schulter-Arm-Syndrom, ein beidseitiges Rotatorenmanschettensyndrom, ein degeneratives Cervicalsyndrom bei ausgeprägter Osteochondrose sowie ein Lenden- und Brustwirbelsäulensyndrom diagnostiziert. Außerdem fehlt ihr seit einem Arbeitsunfall 1986 das End- und Mittelglied ihres rechten Zeigefingers. Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass diese Gesundheitsstörungen nur die genannten qualitativen und nicht aber quantitative Einschränkungen des Leistungsvermögens der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bedingen, worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt.

Zeitlich leistungsrelevante Gesundheitsstörungen sind nun jedoch auf nervenärztlichem Gebiet nachgewiesen. Hierzu überzeugt den Senat das schlüssige und nachvollziehbare Gutachten des Dr. E. vom 11.12.2014, wodurch eine weitere Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands und im Zusammenhang mit den Auskünften des Dr. W. auch ein zeitlich überdauerndes Herabsinken der Leistungsfähigkeit auf unter 6 Stunden pro Arbeitstag nun belegt wird.

Auf nervenärztlichem Gebiet hat der Gutachter - ebenso wie die Vorgutachter - eine rezidivierende depressive Störung mit somatischem Syndrom (F33.2G) und eine Dysthymie (F34.1) i.S. einer "Double Depression" diagnostiziert. Hinzu kommt eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.4G), eine Persönlichkeitsstörung mit ängstlich vermeidenden und dependenten Verhaltensstörungen (F60.6 und F60.7) sowie auf neurologischen Gebiet ein migränoider Kopfschmerz mit Schmerzmittelübergebrauch in der Vergangenheit und aktuell (G43 und F55). Eindeutig im Vordergrund steht dabei die rezidivierende depressive Störung im Zusammenhang mit einer Dysthymie, was nach dem Gutachten der Dr. B. in dieser Konstellation als "Double Depression" die Behandelbarkeit erschwert, weil die Klägerin auch in eigentlichen "Erholungsphasen" noch eine Herabgestimmtheit erlebt. Im Gegensatz zu den Vorgutachtern beurteilte Dr. E. die Depression vom Schweregrad her als gegenwärtig mittel- bis schwergradig. Die Einschätzung überzeugt vor dem Hintergrund der mitgeteilten Befunde, aufgrund derer der Gutachter die Angaben der Klägerin als glaubhaft einstuft. So werden die Schilderungen der Abläufe durch die Klägerin zum Teil als chaotisch beschrieben. Es zeigten sich assoziative Lockerungen, die erst durch mehr strukturiertes Befragen zu bahnen waren. Die Befragung erforderte sehr stark unterstützende tiefenpsychotherapeutische Interventionen des Gutachters, um rasch auftretende Verunsicherungen bei z.B. Konfrontationen zu kompensieren. Die Grundstimmung war deutlich zum depressiven Pol verschoben, es zeigte sich eine emotionale Instabilität im depressiven Bereich. Bei inhaltlich negativen Gesprächsanteilen mit Konfrontationshaltung kam die Klägerin rasch in eine Anspannung, in der sie zunehmende emotionale Instabilitäten und auch leichte formale Einschränkungen insbesondere der Aufmerksamkeit und Konzentration zeigte. Eine Auflockerung der depressiven Grundstimmung war während der gesamten Untersuchung nur im Ansatz zu erreichen, inhaltlich bezogen auf die Schilderungen ihres Glaubens. Im Ansatz ließ sich dies auch bei den Angaben über ihre Enkel erreichen, jedoch verbunden mit einem direkten Einbruch in der Feststellung, dass sie sich als Großmutter nicht um die Enkel kümmern könne. Der depressiven Grundstimmung folgend war eine deutliche Negativfokussierung der Denkinhalte mit starken Anteilen von Kränkung, Missverständnissen und Selbstvorwürfen vorhanden ohne Korrigierbarkeit. Ausdrücklich hat Dr. E. das sich in einer Opferrolle Erleben der Klägerin ebenso wie den Rentenwunsch nicht als Aggravation oder Tendenzverhalten eingestuft, sondern als Ausdruck der psychischen Störung. Für die Erkrankung typisch werden ein Morgentief und Durchschlafstörungen geschildert.

Weiterhin wiesen auch der typische Tagesablauf und das Freizeitverhalten der Klägerin auf einen weiteren Rückzug und eine Einschränkung des Leistungsvermögens hin. Der Sachverständige hat eine soziale Deprivation, Antriebsminderung und Einbuße der Erlebnisfähigkeit mitgeteilt. Auch die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung war weiter rückläufig. So kann die Klägerin nicht mehr strukturiert im Haushalt arbeiten, sondern fängt etwas an, ohne es zu Ende zu führen. Ebenso besteht ein sozialer Rückzug, indem frühere regelmäßige Treffen mit Freundinnen zu Spaziergängen nun nicht mehr stattfinden und die Klägerin aktiv Kontakt zu einer Freundin nicht mehr aufnehmen kann. Die früheren Hobbys wie Stricken und Lesen - von Dr. N. noch beschrieben - kann sie nicht mehr ausüben. Lediglich in einer "Insel" findet die Klägerin noch Halt, nämlich in ihrem Glauben und dem Kontakt zur Kirchengemeinde.

Die Verschlechterung ist auch vor dem Hintergrund der Zunahme der als sehr belastend empfundenen Lebensumstände wie behinderter Sohn, Schulden nach Hauskauf und Umbau, prekäre finanzielle Verhältnisse durch das Hinzutreten der Hirntumorerkrankung des Ehemanns der Klägerin (im April 2014) mit Zuspitzung der sozialen Situation erklärlich.

Im Gegensatz zur Stellungnahme von Dr. N. hält der Senat auch ein Überdauern der Leistungseinschränkung über 6 Monate hinaus durch die Auskünfte von Dr. W. für belegt. Daraus lässt sich eine durchgängige Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungswelt entnehmen. Dr. W. hat in seinen Auskünften vom 14.7.2011 und vom 24.3.2011 keine Diagnosen, sondern nur die Anamnese, den psychiatrischen Befund und seine Beurteilung zu den verschiedenen Behandlungsdaten mitgeteilt. Die von Dr. W. erstmals in seiner Auskunft vom 23.2.2015 benannte Diagnose "Angst und depressive Störung, gemischt, G. (F41.2G)", die vom Ausprägungsgrad geringer einzustufen ist, ist mit Sicherheit so nicht zutreffend, da sie zu den durchgängig in den Reha-Berichten und allen Gutachten genannten übereinstimmenden Diagnosen insbesondere einer rezidivierenden depressiven Störung nicht in Einklang zu bringen ist. Der Auskunft von Dr. W. ist jedoch zu entnehmen, dass sich die depressive Symptomatik nach der Konsultation am 13.2.2014 wieder durchgängig verstärkt gezeigt hat. Daraus ist zu schließen, dass es zu einem stärkeren flukturierenden Verlauf mit Phasen der Remission, wie zu früheren Zeiten, nicht mehr gekommen ist.

Der Leistungsfall ist am 27.8.2014 (Tag der Begutachtung bei Dr. E.) eingetreten. Von einem früheren Eintritt der zeitlichen Leistungseinschränkung der Klägerin - etwa Sommer 2013, wie von Dr. E. benannt - konnte sich der Senat ebenso wie das SG nicht überzeugen. Die von Dr. B. diagnostizierte rezidivierende Depression in mittelgradiger Ausprägung führt üblicherweise nicht zu einer zeitlichen Einschränkung des Leistungsvermögens. Deshalb stellt der Senat auf den Tag der Untersuchung durch Dr. E. ab, der einen schwergradigeren Befund erhoben hat.

Nachdem das Leistungsvermögen der Klägerin auf 3 bis unter 6 Stunden herabgesunken ist und sie keinen Teilzeitarbeitsplatz inne hat, war die Rente zu befristen. Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGB VI werden Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit auf Zeit geleistet, es sei denn, auf sie besteht ein Anspruch unabhängig von der Arbeitsmarktlage und es ist unwahrscheinlich, dass die Minderung behoben werden kann (§ 102 Abs. 2 Satz 5 Halbsatz 1 SGB VI). Die Befristung (§ 32 Abs. 2 Nr. 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) erfolgt für längstens 3 Jahre nach Rentenbeginn (§ 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Nach § 101 Abs. 1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats nach dem Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Rentenbeginn ist damit der 1.3.2015. Die Rente war auf 2 Jahre zu befristen.

Im Übrigen war - soweit die Klägerin darüber hinausgehend eine Dauerrente begehrt - die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei war zu berücksichtigen, dass erst im Verlauf des Berufungsverfahrens der Leistungsfall eingetreten ist.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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