L 19 AS 1284/15 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 33 AS 2764/15
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 19 AS 1284/15 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Sozialgerichts Duisburg vom 20.07.2015 geändert. Dem Kläger wird Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren bewilligt und Rechtsanwalt M aus P beigeordnet.

Gründe:

I.

Der am 00.00.1984 geborene Kläger ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er reiste im August 2010 in die Bundesrepublik ein. Seine Mutter und seine Schwester sind in der Bundesrepublik wohnhaft. In Bulgarien hat der Kläger keine Verwandte.

Nach der Entlassung aus einer Strafhaft ist der Kläger obdachlos. Der Beklagte lehnte durch Bescheid vom 08.05.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29.06.2015 den Antrag des Klägers vom 19.02.2015 auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab.

Dagegen hat der Kläger Klage vor dem Sozialgericht Duisburg erhoben.

Durch Beschluss vom 20.07.2015 hat das Sozialgericht die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Auf die Gründe wird Bezug genommen.

Hiergegen hat der Kläger Beschwerde eingelegt.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung - Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 01.02.2015 - bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne von §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 114 ff. ZPO.

Hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer in Ansehung der einschlägigen gesetzlichen Regelung und bereits vorliegenden Rechtsprechung schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (BVerfG, Beschlüsse vom 08.01.2009 - 1 BvR 2733/06 m.w.N. und vom 09.10.2014 - 1 BvR 83/12 m.w.N.). Prozesskostenhilfe braucht allerdings nicht schon dann gewährt zu werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen dürfen im Hinblick auf das aus Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der Rechtschutzgleichheit nicht im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden (siehe ständige Rechtsprechung des BVerfG, Beschluss vom 04.05.2013 - 1 BvR 2096/15 -, NJW 2015, 2173).

Ausgehend von der Auffassung des Sozialgerichts, dass dem Kläger kein materielles Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche zusteht, Aufenthaltsrechte aus anderen Gründen nicht in Betracht kommen und es sich bei dem Kläger damit um einen Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht handelt, ist auch unter Berücksichtigung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache E (Urteil vom 11.11.2014, C- 333/13) höchstrichterlich keineswegs geklärt, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II in einem solchen Fall eingreift. Zwar ist durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs geklärt, dass § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II im Fall von Unionsbürgern, die (ausschließlich) zum Zwecke des Sozialleistungsbezuges einreisen, nicht gegen unionsrechtrechtliche Vorschriften verstößt. Ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II allerdings (nach nationalem Recht) auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht überhaupt Anwendung findet, ist in der Rechtsprechung umstritten.

Zum einen wird vertreten, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht keine Anwendung findet, weil der Wortlaut der Vorschrift nur auf das Aufenthaltsrecht allein zum Zweck der Arbeitsuche abstelle und wegen des Ausnahmecharakters des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II einer erweiternden Auslegung im Wege des "Erst-Recht-Schlusses" nicht zugängig sei (Urteile des Senats vom 01.06.2015 - L 19 AS 1923/14 -, vom 05.05.2014 - L 19 AS 430/13 (Revision anhängig B 14 AS 33/14 R) und vom 10.10.2013 - L 19 AS 129/13 (Revision anhängig B 4 AS 64/13 R); Beschluss vom 20.03.2015 - L 19 AS 116/15 B ER m.w.N.; siehe auch LSG Thüringen, Beschluss vom 25.04.2014 - L 4 AS 306/14 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Urteile vom 06.03.2014 - L 31 AS 1348/13, 19.03.2015 - L 31 AS 1268/14 ( Revision anhängig B 14 AS 15/15 R ) und vom 18.06.2015 - L 31 AS 100/14 -, wonach der Leistungsausschluss auch Unionsbürger erfasst, die sich - ohne eine tatsächlich noch andauernde Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt erlangt zu haben - zur Arbeitsuche in der Bundesrepublik aufhalten und bei denen sich - in Abgrenzung zu den Fällen des Sozialleistungsmissbrauchs - die Ernsthaftigkeit dieser Arbeitsuche konkret manifestiert hat; LSG Hessen, Urteile vom 27.11.2013 - L 6 AS 378/12 ( Revision anhängig B 14 AS 15/14 R ) und - L 6 AS 726/12 ( Revision anhängig B 14 AS 18/14 R ); LSG Hessen, Beschlüsse vom 07.04.2015- L 6 AS 62/15 B ER und vom 05.02.2015 - L 6 AS 883/14 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 05.03.2015 - L 7 AS 2376/14 B ER).

Zum anderen wird vertreten und im Wege teleologischer Auslegung von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II begründet, dass die Vorschrift neben Unionsbürgern mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche auch Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht erfasst (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 - L 1 AS 2338/15 B ER - ; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.02.2015 - L 2 AS 14/15 B ER; LSG NRW, Beschluss vom 16.07.2015 - L 2 AS 399/15 B ER, LSG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2014 - L 4 AS 444/14 B ER; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.11.2014 - L 12 AS 3227/14; siehe auch LSG Hessen Beschluss vom 11.12.2014 - L 7 AS 528/14 B ER, wonach die in § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II aufgeführten Anspruchsvoraussetzungen um die ungeschriebene Voraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik Deutschland zu erweitern seien).

Im Hinblick auf diese obergerichtlich kontroversen Auffassungen zur Anwendbarkeit des Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II auf Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht handelt es sich bei dieser Rechtsfrage nicht um eine der gesetzlichen Regelung nach oder infolge bereits vorliegender einheitlicher Rechtsprechung einfache Rechtsfrage, sondern im Gegenteil um eine schwierige Rechtsfrage.

Selbst wenn sich aus bereits vorliegender Rechtsprechung ergäbe, dass der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II Unionsbürger ohne Aufenthaltsrecht erfasst, bleibt klärungsbedürftig, ob trotz Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II Anspruch auf Sozialhilfe bestehen kann. Auch dies ist in mehrerlei Hinsicht ungeklärt.

Ob bereits § 21 S. 1 SGB XII Unionsbürger, die von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sind, auch von Ansprüchen auf Sozialhilfe ausnimmt, wird in der Rechtsprechung unterschiedlich gesehen (verneinend Beschlüsse des Senats vom 29.06.2012 - L 19 AS 973/12 B ER m.w.N. und vom 02.10.2012 - L 19 AS 1393/12 B ER m.w.N.; LSG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2014 - L 4 AS 444/14 B ER m.w.N.; LSG Niedersachen-Bremen, Beschluss vom 23.05.2014 - L 8 SO 129/14 B ER mit Zusammenfassung des Meinungstandes in Rechtsprechung und Literatur; so wohl auch BSG, Urteil vom 12.12.2013 - B 8 SO 24/12 R - SozR 4-3500 § 67 Nr. 1; siehe ferner BSG, Urteil vom 16.05.2011 - B 4 AS 105/11 R - SozR 4-4200 § 7 Nr. 30; bejahend LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29.06.2015 - L 1 AS 2338/15 B ER - ; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.06.2015 - L 31 AS 100/14 und Beschluss vom 10.12.2014 - L 20 AS 2697/14 B ER; kritisch LSG NRW, Beschluss vom 15.05.2013 - L 9 AS 466/13 B ER).

Anschlussfragen ergeben sich auch hinsichtlich des zu § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II parallelen Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 SGB XII. Zwar kann § 23 SGB XII den Anspruch eines Ausländers auf Leistungen nach dem Dritten Kapitel des SGB XII ausschließen (vgl. hierzu BSG Urteil vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R), jedoch besteht auch bei Eingreifen des Leistungsausschlusses nach § 23 Abs. 3 SGB XII ein Anspruch auf Gewährung von Sozialhilfe im Ermessenswege, wenn dies im Einzelfall gerechtfertigt ist (Coseriu in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl., § 23 Rn. 75 ff; Greiser in jurisPK-SGB XII Anhang zu § 23 Rn. 119 ff; Armborst in LPK-SGB II, 5 Aufl., § 8 Rn. 30; Birk in LPK-SGB XII, 9. Aufl., § 23 Rn. 21; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand VII/12, § 23 Rn. 50; vgl. auch OVG Berlin Beschluss von 22.04.2003 - 6 S 9.03; BVerwG Urteil vom 10.12.1987 - 5 C 32/85 zur Vorgängervorschrift des § 120 BSHG; vgl. auch LSG NRW Beschlüsse vom 18.11.2011 - L 7 AS 614/11 B ER und vom 28.11.2012 - L 7 AS 2109/11 B ER; offengelassen: BSG Urteil vom 18.11.2014 - B 8 SO 9/13 R). Hiernach kann eine notwendige Beiladung des Sozialhilfeträgers nach § 75 Abs. 2 SGG geboten sein, wenn ein Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nicht besteht.

Des Weiteren ergibt sich ein die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nahelegendes Klärungsbedürfnis aus dem Umstand, dass der Antragsgegner auch die vorläufige Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II auf der Grundlage von §§ 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II, 328 Abs. 1 S. 1 SGB III ausdrücklich abgelehnt hat. In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird es uneinheitlich gesehen, ob § 328 Abs. 1 S. 1 SGB III im Hinblick auf die beiden beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Vorlageverfahren anzuwenden ist oder nicht (bejahend LSG NRW, Beschlüsse vom 13.05.2015 - L 6 AS 369/15 B ER- und vom 29.01.2015 - L 6 AS 2085/14 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 15.08.2014 - L 10 AS 1593/14 B ER; ablehnend LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.03.2014 - L 15 AS 16/14 B ER). Insoweit handelt es sich auch hier um eine ungeklärte Rechtsfrage.

Soweit das Sozialgericht sich hilfsweise darauf beruft, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II anzuwenden sei, weil im Schlussantrag des Generalanwalts in der Rechtssache B C-67/14 mehr für als gegen die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses mit unionsrechtlichen Vorschriften spreche, ist zunächst anzumerken, dass die Stellungnahmen des Generalanwalts beim Europäischen Gerichtshof keine präjudizielle Bedeutung für die Entscheidung haben. Aus den beiden Schlussanträgen des Generalanwalts in den Rechtssachen C-67/14 und C-299/14 ergibt sich im Übrigen, dass dieser Generalanwalt - Herr N X (Senior) - die Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Unionsrecht keineswegs uneingeschränkt bejaht. Nach Auffassung des Generalanwalts soll vielmehr eine tatsächliche Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat bei Anwendung und Auslegung des Leistungsausschlusses zu berücksichtigen sein. Sie kann sich aus familiärem Kontext (z.B. Schulausbildung der Kinder) oder sonstigen engen Bindungen des Antragstellers zum Aufnahmemitgliedstaat ergeben. Eine zurückliegende Erwerbstätigkeit, die effektive und tatsächliche Beschäftigungssuche während eines angemessenen Zeitraums und auch eine Arbeitsaufnahme nach Stellung des Antrags auf Sozialleistungen sind nach Auffassung des Generalanwalts gleichermaßen geeignet, die tatsächliche Verbindung mit dem Aufnahmemitgliedstaat zu indizieren.

Der Kläger ist nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen außerstande, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 115 ZPO, so dass ihm ratenfreie Prozesskostenhilfe zu bewilligen ist.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nach §§ 73a Abs. 1 S. 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO nicht erstattungsfähig.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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