Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 AS 970/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 AS 4021/14 ER-B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 21.08.2014 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin P., ..., Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung für das Beschwerdeverfahren L 12 AS 4021/14 ER-B bewilligt.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg.
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG). Die Beschwerde ist aber nicht begründet; das SG hat dem Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren, zu Recht stattgegeben.
Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 SGG. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Eine solche Regelungsanordnung ist im Fall der Antragstellerin zu treffen.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 – NVwZ 1997, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 – NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803, alle veröffentlicht auch in Juris).
Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 – NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03 – NVwZ 2004, 95), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt, und dessen Bedeutung insbesondere im Hinblick auf Fragen des Grundrechtsschutzes zu orientieren. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das SG der Antragstellerin zu Recht im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zur Gewährleistung des Existenzminimums zugesprochen, denn im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes kann das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs nicht abschließend geklärt werden. Zweifelhaft ist zunächst, ob die Antragstellerin als Arbeitsuchende gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Frage der Wirksamkeit und Reichweite des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in seinem Urteil vom 11.11.2014 (Rechtssache "Dano" – C-333/13 – NZS 2015, 20, veröffentlicht auch in Juris) noch nicht abschließend geklärt. In seiner Entscheidung hat der EuGH ausgeführt, ein Mitgliedstaat müsse gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen (EuGH a.a.O., Rdnr. 78). Die Entscheidung des EuGH beruht somit ausdrücklich auf der Feststellung, dass die Klägerin des dortigen Verfahrens sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die (nur) mit dem Ziel eingewandert sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen. Diese Fallgestaltung ist auf die Antragstellerin, die nachweisbar und mit Erfolg Arbeit gesucht hat, nicht übertragbar. Lediglich die Frage, ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt, hat der EuGH über die Fallgestaltung "Dano" hinausgehend bejahend beantwortet (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.05.2015 – L 7 AS 415/15 B ER – NZS 2015, 554).
Eine Entscheidung des EuGH für Personen, bei denen - wie bei der Antragstellerin - die Arbeitsuche zu bejahen ist, steht noch aus (Bundessozialgericht [BSG], Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache " ..." – veröffentlicht in Juris). Die Antragstellerin gehört zu einem Personenkreis, der mit dem den Vorlagebeschluss des BSG (a.a.O.) betreffenden Personenkreis zumindest vergleichbar ist. Die dortigen Klägerinnen waren in verschiedenen kürzeren Beschäftigungen von weniger als einem Jahr tätig und im Anschluss daran arbeitsuchend. Für diesen Personenkreis der EU-Ausländer, die bereits in den Arbeitsmarkt eingetreten sind kann aber, selbst wenn sie sich nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle (erneut) auf Arbeitsuche befinden, unter Berücksichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts vom 26.03.2015 in der Rechtssache " ..." (C-67/14 – veröffentlicht in Juris) ein automatischer Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Unionsrecht verstoßen. Der Generalanwalt empfiehlt in seinen Schlussanträgen, drei Fallgruppen zu unterscheiden, zunächst den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und sich dort weniger als drei Monate oder seit mehr als drei Monaten aufhält, ohne jedoch den Zweck der Arbeitsuche zu verfolgen (erste Fallgestaltung), dann den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich zur Arbeitsuche in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt (zweite Fallgestaltung) und schließlich den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich seit mehr als drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und dort eine Beschäftigung ausgeübt hat (dritte Fallgestaltung).
Die Antragstellerin hat seit September 2013 in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, das erst im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetretene Schwangerschaft Ende Oktober 2013 aufgelöst wurde. Dieser Sachverhalt legt eine Zuordnung zur dritten Fallgruppe des oben dargestellten Schemas nahe. Für die dritte Fallgestaltung empfiehlt der Generalanwalt dem EuGH (Rdnr. 126 des Schlussantrags), die Vorlagefrage des BSG dahingehend zu beantworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat suchen, nachdem sie in den dortigen Arbeitsmarkt eingetreten waren, von bestimmten "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Richtlinie 1244/2010 geänderten Fassung, die auch eine Leistung der "Sozialhilfe" im Sinne der Richtlinie 2004/38 darstellen, automatisch und ohne individuelle Prüfung ausschließt, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Allerdings ist in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt, welche qualitativen Anforderungen an eine Beschäftigung zu stellen sind, um einen im dargelegten Sinn ausreichenden Bezug zum Arbeitsmarkt bejahen zu können (vgl. z. B. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.06.2015 – L 31 AS 100/14 – veröffentlicht in Juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.05. 2012 – L 6 AS 412/12 B ER, L 6 AS 413/12 B – unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 04.02.2010 – C-14/09 – beide veröffentlicht in Juris). Auch insoweit kann allerdings die erforderliche Klärung im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht erfolgen.
Im Hinblick auf die in der Rechtsprechung vielfältig vertretenen und kontrovers diskutierten Auffassungen über die Anwendung und Auslegung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sowie dessen Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Vorschriften und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 GG (vgl. hierzu BVerfG, Urteile vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 und vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134) sieht der Senat den Ausgang des Hauptsacheverfahrens insgesamt als offen an.
Dies gilt auch, soweit der Antragsgegner die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin in Zweifel gezogen hat. Auf die Frage, ob der Antragstellerin ein Unterhaltsanspruch gegen den Vater des gemeinsamen Kindes zusteht, kommt es insoweit nicht an, entscheidend ist vielmehr, ob dieser tatsächlich Unterhaltsleistungen erbracht hat. Die Frage, ob die im (Mit-) Eigentum der Klägerin stehende Immobilie verwertbar ist, welchen Wert sie hat und in welchem zeitlichen Rahmen eine Verwertung möglich ist bzw. gewesen wäre, kann im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls nicht abschließend geklärt werden; dies gilt umso mehr, als sich das Vorbringen des Antragsgegners diesbezüglich weitgehend auf Mutmaßungen beschränkt.
Über den geltend gemachten Anspruch der Antragstellerin ist deshalb im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Bei dieser Abwägung tritt das Interesse des Antragsgegners, bei ungeklärter Rechtslage keine finanziellen Aufwendungen zu erbringen, hinter dem Interesse der Antragsstellerin an der Sicherung ihrer Existenzgrundlage zurück. Dass dies zu einer faktische Vorwegnahme der Hauptsache führt, steht dem Erlass der begehrten Regelungsanordnung nicht entgegen, da bei den im Streit stehenden existenzsichernde Leistungen wirksamer Grundrechtsschutz auf andere Weise nicht erlangt bzw. gewährleistet werden kann.
Der Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren PKH zu bewilligen; die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH liegen vor. Die Antragstellerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur zum Teil oder in Raten aufzubringen. Aus den oben dargelegten Gründen ist darüber hinaus auch eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung in der Hauptsache zu bejahen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung [ZPO]).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Der Antragstellerin wird unter Beiordnung von Rechtsanwältin P., ..., Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsanordnung für das Beschwerdeverfahren L 12 AS 4021/14 ER-B bewilligt.
Gründe:
Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg.
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist zulässig, insbesondere wäre im Hinblick auf die geltend gemachten Leistungen auch in der Hauptsache die Berufung zulässig, da die Berufungssumme von 750,00 EUR überschritten würde (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG). Die Beschwerde ist aber nicht begründet; das SG hat dem Antrag der Antragstellerin, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu gewähren, zu Recht stattgegeben.
Prozessuale Grundlage des im vorläufigen Rechtsschutz verfolgten Anspruchs ist § 86b Abs. 2 SGG. Nach Satz 1 der Vorschrift kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Eine solche Regelungsanordnung ist im Fall der Antragstellerin zu treffen.
Der Erlass einer einstweiligen Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung. Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der angestrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 25.07.1996 – 1 BvR 638/96 – NVwZ 1997, 479; BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 – NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 – 1 BvR 569/05 – NVwZ 2005, 927 = Breithaupt 2005, 803, alle veröffentlicht auch in Juris).
Dabei müssen die Gerichte die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend prüfen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002 – 1 BvR 1586/02 – NJW 2003, 1236; BVerfG, Beschluss vom 29.07.2003 – 2 BvR 311/03 – NVwZ 2004, 95), wenn das einstweilige Rechtsschutzverfahren – wie vorliegend – vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht. Entschließen sich die Gerichte zu einer Entscheidung auf dieser Grundlage, so dürfen sie die Anforderungen an die Glaubhaftmachung durch den Antragsteller eines Eilverfahrens nicht überspannen. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt, und dessen Bedeutung insbesondere im Hinblick auf Fragen des Grundrechtsschutzes zu orientieren. Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Auch in diesem Fall sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend die Abwägung einzustellen. Die Gerichte müssen sich schützend und fördernd vor die Grundrechte des Einzelnen stellen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.11.2002, a.a.O.).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das SG der Antragstellerin zu Recht im Wege der Folgenabwägung vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zur Gewährleistung des Existenzminimums zugesprochen, denn im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes kann das Bestehen des geltend gemachten Anspruchs nicht abschließend geklärt werden. Zweifelhaft ist zunächst, ob die Antragstellerin als Arbeitsuchende gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II wirksam von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen ist.
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Frage der Wirksamkeit und Reichweite des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in seinem Urteil vom 11.11.2014 (Rechtssache "Dano" – C-333/13 – NZS 2015, 20, veröffentlicht auch in Juris) noch nicht abschließend geklärt. In seiner Entscheidung hat der EuGH ausgeführt, ein Mitgliedstaat müsse gemäß Art. 7 der Richtlinie 2004/38 die Möglichkeit haben, nicht erwerbstätigen Unionsbürgern, die von ihrer Freizügigkeit allein mit dem Ziel Gebrauch machen, in den Genuss der Sozialhilfe eines anderen Mitgliedstaats zu kommen, obwohl sie nicht über ausreichende Existenzmittel für die Beanspruchung eines Aufenthaltsrechts verfügen, Sozialleistungen zu versagen (EuGH a.a.O., Rdnr. 78). Die Entscheidung des EuGH beruht somit ausdrücklich auf der Feststellung, dass die Klägerin des dortigen Verfahrens sich nicht um Arbeit bemüht habe und es sich damit um eine Unionsbürgerin handele, die (nur) mit dem Ziel eingewandert sei, in den Genuss von Sozialhilfe zu kommen. Diese Fallgestaltung ist auf die Antragstellerin, die nachweisbar und mit Erfolg Arbeit gesucht hat, nicht übertragbar. Lediglich die Frage, ob das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004 mit Ausnahme des Exportausschlusses des Art. 70 Abs. 4 VO (EG) 883/2004 auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen im Sinne von Art. 70 Abs. 1, 2 VO (EG) 883/2004 gilt, hat der EuGH über die Fallgestaltung "Dano" hinausgehend bejahend beantwortet (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27.05.2015 – L 7 AS 415/15 B ER – NZS 2015, 554).
Eine Entscheidung des EuGH für Personen, bei denen - wie bei der Antragstellerin - die Arbeitsuche zu bejahen ist, steht noch aus (Bundessozialgericht [BSG], Vorlagebeschluss vom 12.12.2013 – B 4 AS 9/13 R; Az. beim EuGH C-67/14, Rechtssache " ..." – veröffentlicht in Juris). Die Antragstellerin gehört zu einem Personenkreis, der mit dem den Vorlagebeschluss des BSG (a.a.O.) betreffenden Personenkreis zumindest vergleichbar ist. Die dortigen Klägerinnen waren in verschiedenen kürzeren Beschäftigungen von weniger als einem Jahr tätig und im Anschluss daran arbeitsuchend. Für diesen Personenkreis der EU-Ausländer, die bereits in den Arbeitsmarkt eingetreten sind kann aber, selbst wenn sie sich nach dem Verlust ihrer Arbeitsstelle (erneut) auf Arbeitsuche befinden, unter Berücksichtigung der Schlussanträge des Generalanwalts vom 26.03.2015 in der Rechtssache " ..." (C-67/14 – veröffentlicht in Juris) ein automatischer Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen das Unionsrecht verstoßen. Der Generalanwalt empfiehlt in seinen Schlussanträgen, drei Fallgruppen zu unterscheiden, zunächst den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt und sich dort weniger als drei Monate oder seit mehr als drei Monaten aufhält, ohne jedoch den Zweck der Arbeitsuche zu verfolgen (erste Fallgestaltung), dann den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich zur Arbeitsuche in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats begibt (zweite Fallgestaltung) und schließlich den Fall eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der sich seit mehr als drei Monaten im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält und dort eine Beschäftigung ausgeübt hat (dritte Fallgestaltung).
Die Antragstellerin hat seit September 2013 in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden, das erst im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetretene Schwangerschaft Ende Oktober 2013 aufgelöst wurde. Dieser Sachverhalt legt eine Zuordnung zur dritten Fallgruppe des oben dargestellten Schemas nahe. Für die dritte Fallgestaltung empfiehlt der Generalanwalt dem EuGH (Rdnr. 126 des Schlussantrags), die Vorlagefrage des BSG dahingehend zu beantworten, dass Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die eine Arbeit im Aufnahmemitgliedstaat suchen, nachdem sie in den dortigen Arbeitsmarkt eingetreten waren, von bestimmten "besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen" im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Richtlinie 1244/2010 geänderten Fassung, die auch eine Leistung der "Sozialhilfe" im Sinne der Richtlinie 2004/38 darstellen, automatisch und ohne individuelle Prüfung ausschließt, während Staatsangehörige des Aufnahmemitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.
Allerdings ist in der Rechtsprechung nicht abschließend geklärt, welche qualitativen Anforderungen an eine Beschäftigung zu stellen sind, um einen im dargelegten Sinn ausreichenden Bezug zum Arbeitsmarkt bejahen zu können (vgl. z. B. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 18.06.2015 – L 31 AS 100/14 – veröffentlicht in Juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.05. 2012 – L 6 AS 412/12 B ER, L 6 AS 413/12 B – unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 04.02.2010 – C-14/09 – beide veröffentlicht in Juris). Auch insoweit kann allerdings die erforderliche Klärung im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes nicht erfolgen.
Im Hinblick auf die in der Rechtsprechung vielfältig vertretenen und kontrovers diskutierten Auffassungen über die Anwendung und Auslegung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II sowie dessen Vereinbarkeit mit unionsrechtlichen Vorschriften und der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Staates zur Sicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 GG (vgl. hierzu BVerfG, Urteile vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - BVerfGE 125, 175 und vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - BVerfGE 132, 134) sieht der Senat den Ausgang des Hauptsacheverfahrens insgesamt als offen an.
Dies gilt auch, soweit der Antragsgegner die Hilfebedürftigkeit der Antragstellerin in Zweifel gezogen hat. Auf die Frage, ob der Antragstellerin ein Unterhaltsanspruch gegen den Vater des gemeinsamen Kindes zusteht, kommt es insoweit nicht an, entscheidend ist vielmehr, ob dieser tatsächlich Unterhaltsleistungen erbracht hat. Die Frage, ob die im (Mit-) Eigentum der Klägerin stehende Immobilie verwertbar ist, welchen Wert sie hat und in welchem zeitlichen Rahmen eine Verwertung möglich ist bzw. gewesen wäre, kann im Rahmen des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes ebenfalls nicht abschließend geklärt werden; dies gilt umso mehr, als sich das Vorbringen des Antragsgegners diesbezüglich weitgehend auf Mutmaßungen beschränkt.
Über den geltend gemachten Anspruch der Antragstellerin ist deshalb im Wege der Folgenabwägung zu entscheiden. Bei dieser Abwägung tritt das Interesse des Antragsgegners, bei ungeklärter Rechtslage keine finanziellen Aufwendungen zu erbringen, hinter dem Interesse der Antragsstellerin an der Sicherung ihrer Existenzgrundlage zurück. Dass dies zu einer faktische Vorwegnahme der Hauptsache führt, steht dem Erlass der begehrten Regelungsanordnung nicht entgegen, da bei den im Streit stehenden existenzsichernde Leistungen wirksamer Grundrechtsschutz auf andere Weise nicht erlangt bzw. gewährleistet werden kann.
Der Antragstellerin ist für das Beschwerdeverfahren PKH zu bewilligen; die Voraussetzungen für die Bewilligung von PKH liegen vor. Die Antragstellerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung auch nur zum Teil oder in Raten aufzubringen. Aus den oben dargelegten Gründen ist darüber hinaus auch eine hinreichende Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung in der Hauptsache zu bejahen (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung [ZPO]).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Diese Entscheidung ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).
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