L 3 SB 1182/14

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
3
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 1 SB 1701/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 3 SB 1182/14
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 05. Februar 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Kosten des auf Antrag des Klägers erhobenen Gutachtens von Prof. Dr. A. vom 25. November 2014 nebst ergänzender Stellungnahme vom 07. Juni 2015 werden nicht auf die Staatskasse übernommen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 40 und damit gegen den Verlust der Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch.

Bei dem 1950 geborenen, im Inland wohnenden Kläger hatte das Landratsamt B. als Versorgungsamt (LRA) mit Bescheid vom 12.10.2009 einen GdB von 50 und die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch festgestellt. Jener Feststellung lagen folgende Funktionsbeeinträchtigungen und (nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.10.2009) Einzel-GdB-Werte zu Grunde: Funktionsbehinderung beider Schultergelenke, operiert, Funktionsbehinderung beider Handgelenke, Daumensattelgelenksarthrose bds. (30), Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (20), depressive Verstimmung, psychovegetative Störungen (20), chronische Magenschleimhautentzündung (10) sowie Prostatavergrößerung, Entleerungsstörung der Harnblase (10). Die Beurteilung der Schultergelenke beruhte auf den Entlassungsberichten des Gesundheitszentrums Bad C. vom 15.06.2005 und des D. in E. vom 04.04.2009.

Im November 2011 leitete das LRA eine Nachprüfung ein. Die beigezogenen Arztbriefe ergaben Verbesserungen an den Händen (Neurologe und Psychiater Dr. F. unter dem 20.01.2011) und an der linken Schulter (Orthopädin Dr. G. vom 14.04.2009). Der Versorgungsarzt schlug in seiner Stellungnahme vom 26.12.2011 vor, für die Funktionsbehinderungen der Schultern und der Hände nur noch einen Einzel-GdB von 10 zuzuerkennen und den Gesamt-GdB auf 30 herabzusetzen. Der Kläger, hierzu angehört, teilte mit, es gehe ihm schlechter, vor allem an der Wirbelsäule und im psychischen Bereich. Hierzu ließ sich das LRA weitere Arztbriefe vorlegen. Dr. F. hatte unter dem 27.12.2011 von einem Zervikalsyndrom mit rezidivierenden Kopfschmerzen vor allem bei Kopfdrehung berichtet, der Orthopäde und Wirbelsäulenchirurg Dr. H. unter dem 01.02.2012 von einer therapieresistenten Lumboischialgie, multisegmentaler Osteochondrose und Spondylarthrose und Bandscheibenprotusionen bei L4/5 und L5/S1 linksseitig. Der versorgungsärztliche Dienst schlug daraufhin für die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule einen Einzel-GdB von 30 und einen Gesamt-GdB von 40 zur Anerkennung vor. Gestützt hierauf stellte das LRA mit Bescheid vom 24.04.2012 einen GdB von nur noch vierzig ab dem 27.04.2012 fest und entzog die Schwerbehinderteneigenschaft.

Im Vorverfahren legte der Kläger Unterlagen vor, nach denen die Prostatavergrößerung operativ saniert worden war. Der versorgungsärztliche Dienst schlug daraufhin vor, diese Behinderung und ihren Einzel-GdB von 10 zur Streichung vor. Die übrigen beigebrachten Unterlagen führten nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Daraufhin erließ das Landesversorgungsamt des Beklagten den zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 14.05.2013.

Hiergegen hat der Kläger am 24.05.2013 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Die Funktionsbeeinträchtigungen an Wirbelsäule und oberen Gliedmaßen seien nicht ausreichend gewürdigt worden, ferner beständen Angstzustände und eine Depression.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten ist, hat das SG die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Wegen des Ergebnisses jener Beweisaufnahme wird auf die Aussagen des Internisten und Pneumologen Dr. I. vom 26.08.2013 (chronische bronchitische Beschwerden bei Z.n. Hämoptysen, COPD, jahrelanger Schweißrauch- und Asbeststaubbelastung, keine aktuellen Funktionsbeeinträchtigungen), des Gastroenterologen Dr. J. vom 05.09.2013 (Druck im Oberbauch, Völlegefühl nach dem Essen, keine Funktionsbeeinträchtigungen), des Urologen Dr. K. vom 18.08.2013 (leichte Blasenentleerungsstörung mit abgeschwächtem Harnstrahl und verlängerter Miktionszeit, tolerable Restharnbildung) und des Neurologen und Psychiaters Dr. F. vom 19.09.2013 (dauernde Ängste um alles und jeden, ständiges Gedankenkreisen, Depressionen, Schlafstörungen mit Alpträumen, diverse somatoforme Störungen, früher fast paranoide Beeinträchtigungsideen, mit Citalopram bzw. Mirtazapin nur leidlich besser, der GdB auf psychiatrischem Gebiet betrage 50).

Sodann hat das SG den Kläger von Amts wegen orthopädisch und neurologisch-psychiatrisch begutachten lassen. Der Orthopäde Dr. P.-Q. hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 24.09.2013 mitgeteilt, bei dem Kläger beständen geringgradige Funktionsbeeinträchtigungen an allen drei Wirbelsäulenabschnitten, die einen GdB von 20 (statt bislang anerkannter 30) bedingten, ferner eine endgradige Funktionsbehinderung beider Schultergelenke mit einem GdB von 10 wie bisher. Der Neurologe und Psychiater Dr. L. hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 26.11.2013 bekundet, der Kläger leide an einer leichtgradigen depressiven Episode sowie dem vorgenannten degenerativen Hals- und Lendenwirbelsäulensyndrom ohne neurologische Ausfälle. Für die Funktionssysteme Psyche und Rumpf seien Einzel-GdB-Werte von je 20 anzunehmen, sodass insgesamt ein GdB von 40 bestehe. Wegen der Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen im Einzelnen wird auf die schriftlichen Gutachten verwiesen.

Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 05.02.2014 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen auf die Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid vom 14.05.2013 verwiesen. Ergänzend hat es ausgeführt, nach der Aussage von Dr. I. gebe es keine Hinweise auf eine relevante obstruktive oder restriktive Ventilationsstörung, es finde sich eine stabile bronchopulmonale Situation. Die bislang anerkannte Magenschleimhautentzündung habe auch Dr. J. nicht erwähnt. Die Blasenentleerungsstörung sei nach der Aussage von Dr. K. zutreffend bewertet. Die Beeinträchtigungen auf orthopädischem Gebiet seien, dem Vorschlag des Sachverständigen Dr. P.-Q. folgend, mit GdB-Werten von 20 für die Wirbelsäule und 10 für die Schultergelenke zu belegen. Ebenso bedinge die leichtgradige depressive Episode entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen Dr. L. einen GdB von 20. Insoweit könne nicht dem behandelnden Arzt Dr. F. gefolgt werden. Eine schwere psychische Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten, die für einen GdB von 50 vonnöten sei, lasse sich bereits nicht aus Dr. F.s eigenen Befunden ableiten. Insgesamt, so das SG, sei aus den insoweit relevanten Einzel-GdB-Werten von je 20 für die Wirbelsäule und die Psyche ein Gesamt-GdB von 30 zu bilden. Der Kläger sei daher nicht beschwert dadurch, dass der Beklagte den Gesamt-GdB von 50 auf 40 abgesenkt habe.

Gegen diesen Gerichtsbescheid, der seinem Prozessbevollmächtigten am 12.02.2014 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 10.03.2014 Berufung zum Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt. Er trägt vor, er leide an erheblichen degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und fortbestehenden Bandscheibenvorfällen. Die Beweglichkeit des Kopfes sei eingeschränkt. Ferner seien die Taubheitsgefühle in den Fingern nicht berücksichtigt worden. Hierzu legt der Kläger das Attest des Orthopäden Dr. Werland vom 21.03.2014 vor.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 05. Februar 2014 und den Bescheid des Beklagten vom 24. April 2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Mai 2013 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Auf Antrag und Kostenrisiko des Klägers hat der Senat den Neurologen und Psychiater Dr. A. mit einer Begutachtung des Klägers beauftragt. Dieser Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 25.11.2014 mitgeteilt, bei dem Kläger handle es sich um mittelschwere Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, leichte Funktionsbeeinträchtigungen beider Schulter- und beider Handgelenke bei Daumensattelgelenksarthrose, eine leichte Harnentleerungsstörung bedingt durch eine Harnröhrenstriktur, eine leichte chronische Magenschleimhautentzündung, ein leichtes chronisches Lungenemphysem (COPD) sowie um eine mittelschwere bis sehr schwere depressive Verstimmung mit psychovegetativen Störungen und erektiler Dysfunktion. Die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule und die depressive Verstimmung bedingten jeweils Einzel-GdB-Werte von 30, im Übrigen beständen Einzel-GdB-Werte von je 10. Der Gesamt-GdB sei auf 50 zu schätzen.

Während der Kläger den Feststellungen und Schlussfolgerungen Prof. Dr. A.s beigetreten ist, hat ihnen der Beklagte unter Vorlage der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. R. vom 04.03.2013, der allenfalls einen Gesamt-GdB von 30 angenommen hat, widersprochen.

Auf weiteren Antrag des Klägers hat hierzu Prof. Dr. A. unter dem 07.06.2015 ergänzend bekundet, der Kläger habe glaubhaft von einer erektilen Dysfunktion, die wohl psychogen und nicht somatisch bedingt sei, berichtet; es gebe keinen Grund, an dieser Angabe zu zweifeln. Die Beeinträchtigungen an der Wirbelsäule seien bei der Begutachtung bei ihm - Prof. Dr. A. - erheblicher gewesen als bei Dr. P.-Q., dies sei angesichts der zeitlichen Distanz von mehr als einem Jahr nachvollziehbar. Es beständen zwar keine neurogen bedingten Ausfälle, trotzdem könne ein Patient erhebliche Schmerzen haben. Es sei auch auf den Finger-Boden-Abstand von 33 cm hinzuweisen. Die Bewertung der psychischen Erkrankung mit einem GdB von 30 trage der Langjährigkeit und der erektilen Dysfunktion Rechnung. Bei der Untersuchung am 04.11.2014 sei der Kläger lebensüberdrüssig erschienen.

Auch diesen Ausführungen ist der Beklagte entgegengetreten und hat hierzu die versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. O. vom 07.07.2015 vorgelegt.

Wegen der medizinischen und rechtlichen Ausführungen von Prof. Dr A. einer- und von Dr. R. und Dr. O. andererseits wird auf das Gutachten nebst Ergänzung vom 07.06.2015 und auf die genannten versorgungsärztlichen Stellungnahmen Bezug genommen.

Nachdem der Berichterstatter unter dem 22.07.2015 Hinweise zur Sach- und Rechtslage gegeben hatte, haben sich der Kläger unter dem 29.07.2015 und der Beklagte mit Schriftsatz vom 03.08.2015 mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter und ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe:

1. Über die Berufung entscheidet im Einvernehmen mit beiden Beteiligten der Berichterstatter als Einzelrichter (§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) und ohne mündliche Verhandlung (§ 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 SGG), weswegen auch die ehrenamtlichen Richter nicht zu beteiligen sind (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 155 Rn. 11).

2. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG ist nach § 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben (§ 151 Abs. 1 Satz 1 SGG).

3. Sie ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG) des Klägers gegen den angefochtenen Bescheid des Beklagten als unbegründet abgewiesen. Der Beklagte hat den Gesamt-GdB des Klägers zu Recht von 50 auf 40 herabgesetzt.

Die rechtlichen Voraussetzungen der Abänderung (Teil-Aufhebung) eines bindenden Dauerverwaltungsaktes mit Wirkung - wie hier - nur für die Zukunft nach § 48 Abs. 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) hat das SG in dem angegriffenen Gerichtsbescheid zutreffend dargelegt. Das Gleiche gilt für die Voraussetzungen der Feststellung eines GdB nach § 69 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und die medizinischen Anforderungen an die Bewertung einzelner Behinderungen mit einem GdB sowie die Bildung eines Gesamt-GdB. Sie beruhen auf den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VMG), der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV). Diese gilt auch nach den Neuregelungen in den §§ 69 Abs. 1, 70 Abs. 2, 159 Abs. 7 SGB IX durch das Gesetz vom 07.01.2015 (BGBl I S. 15) für die Bemessung des GdB vorläufig weiter. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird daher auf die Ausführungen des SG verwiesen (§ 153 Abs. 2 SGG).

Auch hinsichtlich des Ergebnisses im Einzelfall folgt der Senat der Entscheidung des SG. Ergänzend weist der Senat auf folgende Punkte hin:

a) Der Gesamt-GdB beträgt seit dem Zeitpunkt der Herabbemessung (27.04.2012) nicht mehr als 40.

aa) Vorab ist auf Folgendes hinzuweisen: Es ist nicht zu entscheiden, ob die Herabsetzung des Gesamt-GdB von 50 auf 40 durch den Beklagten eventuell zu gering ausgefallen ist und tatsächlich nur noch ein Gesamt-GdB von 30 besteht, wie es das SG und der Beklagte in den jüngsten versorgungsärztlichen Stellungnahmen angenommen haben. Der Kläger wendet sich nur im Rahmen einer Anfechtungsklage gegen die Herabsetzung auf 40. In einem solchen Verfahren ist es rechtlich irrelevant, ob der tatsächliche GdB noch niedriger liegt.

bb) In diesem Rahmen müsse auch die Einzel-GdB-Werte nicht abschließend festgestellt werden. In Bestands- oder Rechtskraft erwächst nur die Entscheidung der Verwaltung oder des Gerichts über den Gesamt-GdB. Einzel-GdB-Werte sind nur Begründungselemente dieser Entscheidung.

cc) Vor diesem Hintergrund kann es im Ergebnis auch offen bleiben, ob die Wirbelsäulenerkrankung und die psychische Behinderung des Klägers jeweils einen Einzel-GdB von 20 oder - wie der Wahlgutachter Prof. Dr. A. vorgeschlagen hat - je einen solchen von 30 bedingen. Selbst wenn insoweit Prof. Dr. A. zu folgen sein sollte, bliebe es dennoch bei einem Gesamt-GdB von 40. Dem Vorschlag des Wahlgutachters, aus den beiden auch von ihm gesehenen Einzel-GdB-Werten von 30 einen Gesamt-GdB von 50 zu bilden, kann keinesfalls gefolgt werden:

Nach Teil A Nr. 3 Buchstabe c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt. Sodann ist zu prüfen, ob durch weitere Funktionsbeeinträchtigungen das Ausmaß der Behinderung größer wird. In einem solchen Fall ist der erste GdB um zehn, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen. Welche Erhöhung angemessen ist, bestimmt sich nach Teil A Nr. 3 Buchtstabe d VG. Nach Doppelbuchstabe ee Satz 1 bleiben in der Regel weitere Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 10 außer Betracht. Auch ein weiterer GdB von 20 führt nach Doppelbuchstabe ee Satz 2 "vielfach" nicht zu einer Erhöhung. Hieraus folgt die Wertung, dass auch ein weiterer GdB von 30 grundsätzlich nur zu einer Erhöhung um zehn Punkte und nur ausnahmsweise zu einer solchen um 20 Punkte führt. Eine Erhöhung um 20 Punkte, also mehr als die Hälfte des Einzel-GdB selbst, kommt dabei allenfalls dann in Betracht, wenn sich die weitere Funktionsbeeinträchtigung auf die erste besonders nachteilig auswirkt, also in den Fällen von Teil A Nr. 3 Buchstabe d Doppelbuchstab bb VG, wenn also eine Verstärkung vorliegt. In den anderen Fällen von Teil A Nr. 3 Buchstabe d VG wird der erste GdB dagegen in der Regel gar nicht erhöht (nämlich bei vollständiger Überschneidung der Auswirkungen nach Doppelbuchstabe cc oder Folgenlosigkeit der weiteren Behinderung nach Doppelbuchstabe dd) oder die Erhöhung bliebt hinter der Hälfte des weiteren GdB zurück (voneinander unabhängige Behinderungen nach Doppelbuchstaben aa).

Auch Prof. Dr. A. hat die Bewertung des Funktionssystems "Gehirn einschließlich Psyche" (zur Zusammenfassung einzelner Behinderungen in Funktionssysteme vgl. Teil A Nr. 2 Buchstabe e Satz 2 VG) mit einem GdB von 30 (wohl nach Teil B Nr. 3.7 VG) unter anderem damit begründet, "die bei ihm bestehenden Symptome körperlicher und seelischer Art vermischen sich miteinander, um sich gegenseitig zu verstärken" (S. 21 Gutachten). Auch das Schmerzerleben des Klägers, auch an der Wirbelsäule und den Schultern, hat Prof. Dr. A., neben der von ihm angenommenen - psychogen bedingten - erektilen Dysfunktion, zur psychischen Beeinträchtigung gezogen und dort bewertet. Vor diesem Hintergrund könnte der Einzel-GdB von 30 für das Funktionssystem Rumpf wegen der hinzutretenden psychischen Behinderung nur um zehn Punkte auf 40 erhöht werden, weil auch die Bewertung der Behinderungen an der Wirbelsäule maßgeblich auf dem Schmerzerleben beruht. Dies hat Prof. Dr. A. in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 07.06.2015 klargestellt, in der er ausgeführt hat, es lägen zwar mehr als geringgradige degenerative Veränderungen vor, aber keine motorischen Ausfälle.

dd) Aus diesem Grunde weist der Senat nur ergänzend darauf hin, dass er auch der Bewertung der einzelnen Behinderungen durch Prof. Dr. A. nicht folgen kann und vielmehr an den Beurteilungen der Amtsgutachter Dr. P.-Q. und Dr. L. in den erstinstanzlichen Gutachten beitreten muss.

Ein GdB von 30 für die Wirbelsäule ist nach Teil B Nr. 18.9 VG erst bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem oder bei zumindest mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten gerechtfertigt. Bei dem Kläger sind vor allem die Hals- und die Lendenwirbelsäule (HWS, LWS) betroffen. Dies folgt vor allem aus den Arztbriefen von Dr. F. vom 27.12.2011 und Dr. H. vom 01.02.2012, die im Nachprüfungsverfahren eingeholt worden waren. Daneben ist, wie Dr. P.-Q. herausgearbeitet haben, geringfügig auch die Brustwirbelsäule (BWS) betroffen. Die Funktionsbeeinträchtigungen erreichen jedoch in keinem der drei Wirbelsäulenabschnitte Mittelgradigkeit. Dr. P.-Q. hat an der HWS im Wesentlichen nur Muskelhartspann feststellen können. Die Beweglichkeit war wenig eingeschränkt, der Kinn-Brustbein-Abstand beim Nicken betrug nur 1 cm, die Neigung des Kopfes wer mit 40/0/30° nach der Neutral-Null-Methode (Normwerte mindestens 45/0/35°) nur geringfügig eingeschränkt. An der LWS war das Schobersche Zeichen (Entfaltbarkeit) mit 10:16 cm mindestens normgerecht (10:15 cm), wenn nicht sogar besser. Der Finger-Boden-Abstand (FBA) betrug zuletzt nur 24 cm, war also ebenfalls nicht übermäßig verringert. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Finger-Zehen-Abstand (FZA) im Strecksitz deutlich besser war (15 cm). Die Rotation von BWS und LWS war mit 30/0/30° noch normgerecht, nur die Seitneigung mit 20/0/20° etwas eingeschränkt (Normwert 30-40/0/30-40°). Diese Feststellungen von Dr. P.-Q. hat der Wahlgutachter Prof. Dr. A. nicht in Zweifel gezogen, er hat vielmehr keinerlei eigene Beweglichkeitsmessungen durchgeführt (was als neurologisch-psychiatrischer Gutachter auch nicht seine Aufgabe war). Er hat die höhere Bewertung der Wirbelsäulensyndrome, wie sich seiner ergänzenden Stellungnahme entnehmen lässt, vielmehr auf die (radikulären oder pseudoradikulären?) Schmerzen gestützt, denn motorische Ausfälle hat er ebenfalls verneint.

Ein GdB von 30 auf psychiatrischem Gebiet setzt nach Teil B Nr. 3.7 VG bereits eine stärker behindernde Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit voraus. Diese Einschätzung lässt sich aus den Feststellungen Prof. Dr. A.s nicht ableiten. Als Diagnose dürfte der Sachverständige eine (nicht rezidivierende) depressive Episode nach F32.- der ICD-10, der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (Deutsche Ausgabe 2014) gestellt haben. Die gleiche Diagnose ergibt sich bereits aus dem Gutachten von Dr. L. aus der ersten Instanz. Aber dort wie hier kann diese Diagnose wohl nur knapp gestellt werden (vgl. z.B. die Ergebnisse der Hamilton-Depressions-Skala bei beiden Sachverständigen, S. 15 Gutachten Dr. L., S. 11 Gutachten Prof. Dr. M.). Die Funktionsbeeinträchtigungen, die aus dieser psychischen Erkrankung folgen, bedingen aber keinen GdB von 30. Insbesondere die soziale Leidensebene, ist bei dem Kläger wenig eingeschränkt. Es besteht ein geregelter Tagesablauf (Aufstehen um 7.00 Uhr, viele Hausarbeit durch den Kläger, mehrstündiges Arbeiten im Garten, vieles Lesen, regelmäßiges Arbeiten in der Werkstatt) und die soziale Interaktion ist wenig eingeschränkt (viele Freunde, häufige mehrwöchige Urlaube in Kroatien, keine Einschränkungen beim Autofahren, vgl. zu allem S. 7 Gutachten). Gerade der letzter Punkt ist für die GdB-Beurteilung einer psychischen Erkrankung besonders wichtig, weil behindert ist, wessen Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt ist (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Prof. Dr. A. hat seine Beurteilung im Wesentlichen auf die psychische (bekümmerte Stimmung, Zukunftsängste, S. 9 Gutachten) und die physische Leidensdimension gestellt (Schmerzen, psychogen bedingte erektile Dysfunktion, vgl. S. 19 Gutachten). Die Schmerzen, da zumindest teilweise somatisch bedingt, sind überwiegend bereits mit der Bewertung der körperlichen Beeinträchtigungen abgegolten (Teil A Nr. 2 Buchstabe i Satz 1 VG). Und die erektile Dysfunktion würde, wenn sie somatisch bedingt und daher gesondert zu bewerten wäre, keinen GdB bedingen, weil nach Teil B Nr. 13.2 VG ein GdB (von dann 20) nur zuzuerkennen ist, wenn eine Behandlung "nachgewiesen erfolglos" war; der Kläger hat aber insoweit nicht einmal eine Behandlung vorgetragen. Auf diesen Punkt hat Dr. O. in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 07.07.2015 zu Recht hingewiesen. Diese Einschätzung der psychischen Erkrankung wird nicht erschüttert durch Dr. F.s Zeugenaussage vom 12.09.2013, die ersichtlich untauglich ist: nirgendwo sonst wird von Alpträumen, fast paranoiden Beeinträchtigungen oder dgl. berichtet, auch nicht vom Kläger selbst; auch die von Dr. F. durchgeführte Behandlung (Art der Medikation/große Therapiefrequenz) deutet auf eine geringfügige Beeinträchtigung hin.

ee) Die übrigen Behinderungen und ihre Bewertung mit jeweils einem GdB von 10 sind in der Berufungsinstanz nicht in Zweifel gezogen worden, insbesondere auch nicht von Dr. A ... Dies gilt insbesondere für die Beeinträchtigungen der Schulter

b) Es lagen auch die Voraussetzungen für eine Herabbemessung (für die Zukunft) nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X vor. Es lag eine wesentliche Veränderung der Sachlage vor. Der Beklagte hatte diese Veränderung (Verbesserung des Gesundheitszustandes) in den Beeinträchtigungen der Schultergelenke gesehen. Diese Einschätzung erscheint vertretbar. Insbesondere ist nicht sicher erkennbar, dass die frühere Bewertung der Schulterschäden mit einem GdB von 30 deutlich überhöht gewesen wäre (was dazu führen würde, dass die damalige GdB-Zumessung nicht nach § 48 Abs. 1 SGB X aufgehoben, sondern allenfalls nach § 45 Abs. 1, Abs. 2 SGB X zurückgenommen werden könnte): Der Reha-Bericht des Gesundheitszentrums Bad C. vom 15.06.2005 hatte bei freier Beweglichkeit der Schulter rechts für die linke Schulter eine restliche Abduktion nur bis 60° und eine Innen-/Außenrotation von nur 70-0-20° gemessen. Hieran anschließend hatte der Entlassungsbericht des D. vom 04.04./22.05.2009 eine Verschlechterung rechts dokumentiert, die allerdings eher eine Schmerzhaftigkeit betraf denn eine Bewegungseinschränkung. Demgegenüber hat Dr. P.-Q. in seinem Gutachten vom 24.09.2013 jetzt Abduktionen von je 170° bds. und Rotationen von 70-0-70° bds. gemessen; das ist eine ganz deutliche Verbesserung, die - wie ausgeführt - keinen GdB höher als 10 mehr bedingt.

4. Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

5. Die Kosten des nach § 109 Abs. 1 SGG erhobenen Gutachtens von Prof. Dr. A. können nicht auf die Staatskasse übernommen werden. Hierüber war bei Abschluss des Verfahrens von Amts wegen zu entscheiden (Keller, a.a.O., Rn. 16). Das Gutachten hat den Rechtsstreit nicht wesentlich gefördert. Neue Sachaufklärung hat das Gutachten nicht erbracht, die bislang nicht erfasste erektile Dysfunktion war - wie ausgeführt - für den Ausgang des Rechtsstreits irrelevant. Und den Bewertungen des Wahlgutachters konnte sich der Senat nicht anschließen.

6. Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.
Rechtskraft
Aus
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